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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


1. Das Schicksal der Geschwister Wudandahasch

Ein Melik hatte drei Kinder, eine Tochter und zwei Knaben, die Achmet und Hassan hießen. Das Mädchen wuchs heran und wurde sehr, sehr schön. Die Leute kamen von allen Seiten, das Mädchen zu sehen. Alle angesehenen Leute und die Söhne anderer Könige kamen, um sich das schöne Mädchen zur Frau auszubitten. Der König wollte sie aber niemand geben. Er wies jeden Freier, ob es der Sohn eines Königs oder ob es der Sohn eines Vornehmen war, zurück. Das tat er aber, bis er eines Tages starb. Kaum war der Melik gestorben, da kam ein Rul (oder Gui) und bat das Mädchen um ein Glas Wasser. Das Mädchen ging gern hin und gab dem ihm unbekannten Rul das Wasser. Kaum aber reichte sie ihm das gefüllte Gefäß, da faßte der Rul sie und trug sie im Nu weit fort in sein Gasr.

Die Mutter hatte so hintereinander den Gatten und die Tochter verloren und hatte jetzt nur noch zwei Söhne, den Achmet und den Hassan. Die beiden Söhne waren noch klein und wuchsen langsam heran. Sie spielten auf der Straße und lärmten, wie es die Art der Burschen ist. Eines Tages nun spielte Achmet mit andern Burschen, indem sie Holzstücke hin und her warfen, und als eine Frau mit einem gefüllten Wasserkrug vorbeiging, hatte Achmet das Unglück, das Gefäß zu treffen und mit dem Wurfe zu zerstören, so daß das Wasser über die Frau herablief. Dadurch wurde die Frau ärgerlich und sie sagte zu Achmet: "Wenn du schon so stark bist, Achmet, dann wird es Zeit, daß du dich aufmachst und deine Schwester von dem Rul befreist." Damit ging die alte Frau fort.

Achmet lief aber sogleich heim zu seiner Mutter und sagte: "Koche mir Wasser, daß ich ein Bad nehme!" Die Mutter setzte Wasser auf das Feuer. Als das Wasser aber kochte, packte Achmet die Mutter bei den Haaren und hielt ihren Kopf über das Wasser. Dazu sagte Achmet: "Mutter, wenn du mir nicht sogleich sagst, wo meine Schwester ist, dann werde ich deinen Kopf in das kochende Wasser stecken. Mutter, wenn du mir nicht erlaubst, mich aufzumachen und meine Schwester zu befreien, dann stecke ich deinen Kopf in das heiße Wasser." Die Mutter erschrak und sagte: "Bist



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du auch stark genug?" Achmet sagte: "Mutter, laß mich gehen!" Darauf sagte die Mutter: "Dann geh, mein Sohn Achmet. Der Rul Ibrahim hat deine Schwester geraubt."

Achmet nahm hierauf von seiner Mutter Abschied, bestieg sein Pferd, ergriff seine Waffen und ritt erst dahin, wo sein Bruder Hassan weilte. Achmet sagte zu Hassan: "Mein Bruder Hassan, ich habe gehört, daß unsere Schwester von dem Rul Ibrahim geraubt ist, und ich will hinreiten sie zu befreien. Nun nimm diesen Ring hier und setze ihn auf den kleinen Finger. Wenn dich nun der Ring anfängt zu drücken, so weißt du, daß es mir schlecht geht. Dann sieh zu, daß du es möglich machst mir zu helfen." Hassan nahm den Ring, setzte ihn auf den kleinen Finger und sagte: "Es ist gut. Ich werde sehen, ob es dir schlecht oder gut geht." Achmet ritt nun von dannen.

Achmet ritt sehr lange durch die Wüste hin. Es war sehr heiß, und Achmet wurde sehr durstig. Nachdem er weit durch die Wüste geritten war, kam er an einen Brunnen. An dem Brunnen stand ein Feigenbaum. Neben dem Brunnen lag ein alter Mann. Achmet sagte zu dem alten Mann: "Ich bin so durstig. Ich bitte dich, gib mir zu trinken." Der alte Mann blieb liegen und sagte: "Da ist der Schöpfsack und das Tau, hebe doch selbst das Wasser, denn du bist ein junger Mann, und mir als einem alten Mann gib dann auch zu trinken." Achmet nahm den Schöpfsack und ließ ihn in den Brunnen herab. Dann begann er ihn wieder heraufzuziehen.

Achmet fühlte, daß der Sack sehr schwer war. Achmet zog aber mit allen Kräften. Achmet zog und zog. Er war aber nicht imstande, den Wassersack wieder heraufzuziehen.

Als der Alte sah, daß Achmet nicht imstande war, das Tau wieder emporzuziehen, sagte er: "Sage mir doch einmal, mein Bursche, was du hier eigentlich vorhast?" Achmet sagte: "Ich will meine Schwester befreien, die von dem Rul Ibrahim gefangengenommen ist." Der Alte sagte: "Wenn du nicht einmal imstande bist, den Schöpfsack wieder heraufzuziehen, dann wirst du auch nicht mit dem Rul kämpfen können. Ich rate dir also, wieder zurückzukehren." Achmet sagte: "Ich kann und will nicht zurückkehren. Ich muß zu dem Rul. Ich bitte aber dich, der du hier alles weißt, mir den Weg zum Rul zu zeigen." Der Alte sagte: "Siehst du die Schafe dort?" Achmet sagte: "Gewiß sehe ich die Schafe." Der Alte sagte: "Folge nur immer den Schafen; dann kommst du sicher zum Rul."



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Darauf bestieg Achmet wieder sein Pferd, ritt hinter den Schafen her und kam so zu dem Hause des Rul. Die Schwester Achmets schaute gerade oben zum Fenster hinaus. Sie sah, daß hinter den Schafen ein Mensch kam. Sie erkannte den Burschen. Die Schwester erschrak und sagte: "Bist du es wirklich, mein Bruder Achmet?" Achmet sagte: "Gewiß bin ich es!" Die Schwester rief: "Was willst du denn hier, mein Bruder Achmet?" Achmet sagte: "Ich will dich von dem Rul befreien, der dich gefangengenommen hat." Die Schwester sagte: "Achmet, Achmet, fliehe schnell von dannen! Du kannst den Rul nicht bekämpfen. Du bist verloren, wenn er dich sieht. Flieh, mein Bruder! Flieh schnell!" Achmet sagte aber: "Nein, meine Schwester; ich werde nicht fliehen, sondern ich werde hier bleiben und werde mich mit dem Rul messen."

Der Rul kam nach Hause. Der Rul sah Achmet. Der Rul kam auf Achmet zu und drückte ihm zur Begrüßung die Hand. Er tat das aber mit soviel Kraft, daß er Achmet den Arm ausdrehte, so daß Achmets Arm kraftlos herunterhing. Der Rul sagte aber: "Bist du nicht Achmet, der Bruder des schönen Mädchens?" Achmet sagte: "Das bin ich." Der Rul sagte: "Was wünschest du von mir? Sage es mir, womit ich dir eine Freude bereiten kann." "Ich will meine Schwester wieder mit nach Hause zurücknehmen", sagte Achmet. Der Rul sagte: "Gut; ich werde dir deine Schwester morgen früh zurückgeben. Zunächst komm aber mit mir herein und nimm Speise und Trank zu dir, denn du mußt von der weiten Reise sehr ermüdet sein."

Achmet wurde also von dem Rul hineingeführt, und der Rul ließ ihm ausgezeichnetes Essen und erfrischende Getränke bieten. Nach dem Essen sagte der Rul aber: "Komm mit mir heraus und betrachte meinen Garten." Achmet wollte hinter dem Rul hergehen. Der Rul sagte aber: "Gehe du nur voran." So gingen sie hinaus in den Garten, Achmet voraus, hinter ihm dann der Rul. Sie gingen ein gutes Stück weit durch den Garten, dann kamen sie an den Eingang einer Höhle, die sich weit, weit unter der Erde ausdehnte; in der wohnten alle Menschen, die sich der Rul gefangen hatte, damit er sich von Zeit zu Zeit einen darunter zum Mahle heraussuche. Der Eingang dieser Höhle war schmal und mündete nach oben in den Garten. Als der Rul nun mit Achmet an den Höhleneingang kam, sagte er zu dem vor ihm gehenden Achmet: "Schaue dort hinein; dort drunten ist das beste, was ich habe."



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Achmet beugte sich vornüber und blickte hinab. Da gab der hinterhergehende Rul ihm einen Stoß, und so stürzte er auch in die dunkle Höhle hinab, in der der Rul alle seine Gefangenen hatte.

Kaum hatte der Rul den Achmet in die Höhle hinabgestoßen, da begann der Ring, den Achmet Hassan gegeben und den Hassan auf den kleinen Finger gesteckt hatte, sich zusammenzuziehen und zu drücken. Hassan fühlte, daß der Ring ihn drückte und sagte bei sich: "Meinem Bruder muß etwas zugestoßen sein." Hassan ging also zu seiner Mutter und sagte: "Meine Mutter, ich fühle durch den Ring, den Achmet mir zurückgelassen hat, daß Achmet etwas sehr Schlimmes zugestoßen ist. Deshalb bitte ich, mir die Erlaubnis zu geben, Achmet zu suchen und ihm zu helfen." Die Mutter sagte: "Mein Sohn Hassan! Euer Vater ist gestorben. Deine Schwester hat der Rul geraubt. Dein Bruder ist in die Hände des Rul gefallen. Ich habe nur noch dich. Wenn ich dich auch noch verliere, habe ich kein Kind mehr. Deshalb bitte ich dich, stehe ab von deinem Verlangen und bleibe bei mir. Ich bitte dich!" Hassan sagte: "Meine Mutter! Achmet, mein Bruder, verlangt nach mir. Vielleicht kann ich ihm helfen und vielleicht können wir gemeinsam etwas erreichen, was dein einer Sohn nicht allein vermöchte. Laß mich also gehen."

Hassan drängte seine Mutter so, daß sie ihm zuletzt die Erlaubnis zum Fortreiten gab. Hassan nahm seine Waffen, bestieg sein Pferd und ritt wie Achmet in die Wüste hinaus. Er ritt lange, lange Zeit durch die Wüste hin und kam auch zu dem Brunnen mit dem Feigenbaum, in dessen Schatten der alte Mann lag. Hassan sagte: "Alter Mann, ich bin sehr durstig! Gib mir etwas von dem Wasser dieses Brunnens!" Der alte Mann sagte: "Ich bin auch durstig, aber zu alt, selbst zu schöpfen. Dort liegt nun der Schöpfsack, laß ihn herunter und ziehe Wasser herauf, trinke und gib dann mir, dem alten Manne, auch etwas davon ab." Hassan stieg also ab und ließ den Schöpfsack hinab, und als er fühlte, daß er voll Wasser war, begann er den Strick anzuziehen. Er bemerkte nun sogleich, daß der Sack sehr schwer war, und zog und strengte im Ziehen alle seine Kräfte an. Dann trat er aber zurück. Er war nicht imstande, den vollen Wasserschöpfsack wieder heraufzuziehen.

Als der alte Mann das sah, fragte er Hassan: "Weshalb kommst du diesen Weg? Was willst du in diesem Lande?" Hassan sagte: "Ein Rul hat meine Schwester geraubt. Mein Bruder hat sich aufgemacht, meine Schwester zu befreien. An einem Ringe nun, den



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mein Bruder mir zurückgelassen hat, bemerkte ich, daß es ihm schlecht geht. Deshalb bin ich aufgebrochen, um meinen Bruder und meine Schwester zu befreien." Der alte Mann sagte: "Laß ab und kehre heim! Wenn du den Schöpfsack nicht hochziehen, kannst, wird es dir so wie deinem Bruder und vielen, vielen vor ihm gehen. Du bist zu schwach, um den Rul zu überwinden!" Hassan sagte: "Lieber Alter! Ich will es versuchen. Sage mir doch den Weg, den ich gehen muß, um das Haus des Rul zu finden, in dem meine Schwester und mein Bruder weilen." Der alte Mann sagte: "Folge nur den Schafen dort!" Darauf folgte Hassan den Schafen und kam in die Nähe des Hauses des Rul.

Die Schwester der Brüder sah zum Fenster hinaus. Sie erkannte Hassan und erschrak. Die Schwester rief schon von weitem: "Mein Bruder Hassan, kehre schnell um! Schnell kehre um! Sogleich kommt der Rul, und dann wird er mit dir verfahren, wie er es mit deinem Bruder Achmet getan hat." Hassan sagte: "Meine Schwester, du und mein Bruder, ihr lebt. Deshalb will ich sehen, ob ich euch helfen kann." Die Schwester rief: "Fliehe, mein Bruder Hassan!" Hassan sagte: "Nein, meine Schwester; ich kann und will nicht fliehen!"

Der Rul kam. Er begrüßte Hassan und drückte ihm die Hand. Er drückte ihm die Hand so stark, daß er ihm den Arm ausrenkte. Der Rul fragte: "Du bist Hassan; was wünschest du von mir? Was kann ich für dich tun?" Hassan sagte: "Ich möchte meine Schwester und meinen Bruder wieder nach Hause zurückbringen." Der Rul sagte: "Das kann morgen geschehen. Heute sollst du mit mir essen und trinken, denn du wirst von der Reise ermüdet sein." Dann begleitete der Rul Hassan ins Haus, setzte ihm Speise und Trank vor und forderte ihn endlich auf, mit ihm hinaus in den Garten zu gehen, womit Hassan einverstanden war.

Der Rul ließ Hassan vor sich her in den Garten gehen und führte ihn herum, damit er alles sehe. Als er nun an den Eingang der großen unterirdischen Höhle kam, in der schon Achmet und viele, viele andere Menschen gefangen waren, forderte er Hassan auf, sich vornüber zu beugen und hinabzuschauen, und als Hassan das tat, gab er ihm von hinten einen Stoß, so daß er kopfüber tief hinabfiel. So waren also beide Brüder in der Höhle, die Schwester aber in dem Hause des Rul gefangen.


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