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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


24. Die Rache des betrogenen Ehemannes*

Ein Mann hatte eine junge Frau geheiratet und das vor nicht langer Zeit. Da erschien ihm eines Nachts sein Vater im Traum und sagte ihm, er müsse nach Mekka pilgern. Am andern Morgen rüstete der Mann sogleich sein Gepäck, ging zu seiner Frau und sagte: "Meine junge Frau, mein Vater ist mir im Traum erschienen und hat mich aufgefordert, nach Mekka zu reisen; das will ich nun sogleich tun. Nun ist es sehr wohl möglich, daß du in den wenigen Tagen, die wir miteinander verheiratet sind, empfangen hast. Ich hoffe aber, wenn du das Kind ausgetragen hast, zurückzukehren, so daß ich zu der Zeit der Geburt dann in deiner Nähe bin. Wende dich aber immerhin, wenn du die ersten Anzeichen der Schwangerschaft wahrnimmst, an eine alte Frau, der ich den Auftrag geben werde, für dich zu sorgen." Darauf nahm der junge Ehemann von seiner jungen Frau Abschied und trat seine Pilgerfahrt an.

In der gleichen Stadt wohnte nun ein Muezzin (Gebetsausrufer), der täglich von dem Minarett der großen Moschee aus seiner Berufspflicht nachkam. Dieser Muezzin hatte die junge Frau gesehen, und er hatte auch aus dem eigenen Munde des Mannes derselben



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gehört, daß dieser zu einer Pilgerfahrt nach Mekka abgereist sei. Der Muezzin sagte bei sich: "Diese junge Frau führt jetzt ein sehr stilles Leben und wird diese Stille um so schmerzlicher empfinden, als sie erst wenige Tage die Freuden der Ehe kennengelernt hat. Diese junge Frau ist aber so schön und gut gebildet, daß es mir scheint, ich könne derzeit nichts Angenehmeres erleben, als das weiterzuführen, was dieser Mekkapilger an ihr begonnen hat. Ich werde also mit der Alten, die bei der jungen Frau ein und aus geht, Freundschaft schließen. Vielleicht kann sie mir in meinem Drange, die junge Schöne über die Einsamkeit hinwegzutrösten, helfen."

Der Muezzin sprach also eines Tages die Alte an und bat sie, ihn einmal aufzusuchen, da er mit ihr etwas besprechen wolle. Die Alte kam dem Wunsche sehr bald nach, und als der Muezzin sich mit ihr allein sah, sprach er zu ihr: "Meine liebe Frau, ich denke, du mußt eine reiche Erfahrung haben und mußt es wissen, daß die Bedürfnisse und Wünsche der Leute recht verschieden sind." Die Alte sagte: "Gewiß weiß ich das und kann selbst viel darüber sagen." Der Muezzin sagte: "Dann wirst du wissen, daß einigen Menschen dann und wann im Kopfe das herzlichste Bedürfnis aufwacht, nach Mekka zu pilgern, während andere Leute an tiefer gelegenen Körperteilen einen ebenso starken Drang empfinden, näher gelegene Ziele zu erreichen. Du wirst dieses wissen." Die Alte sagte: "Hierin hast du sicherlich recht, und ich darf wohl annehmen, daß du mich nicht hast zu dir kommen lassen, um mich über den Weg nach Mekka zu befragen." Der Muezzin sagte: "So ist es! Ich habe nicht im geringsten vor, nach Mekka zu pilgern." Die Alte sagte: "Dann wohnt deine Bedrängnis also wohl tiefer und das Ziel deiner Sehnsucht näher." Der Muezzin sagte: "Ganz so wollte ich es gesagt haben. Ich habe in der Tat eine Beschäftigung, die mich den halben Tag mit den Dingen des Propheten in so engem Zusammenhang erhält, daß ich nicht daran denken kann, den oberen Teil meines Leibes in der Richtung nach Mekka weiter wegzuführen, als das Gebet es vorschreibt. Ich habe auch vor einigen Tagen wieder einen Bekannten nach Mekka pilgern sehen, der mir außerdem versprach, für mich dort zu beten, so daß für den oberen Teil meines Körpers gesorgt ist." Die Alte sagte: "Wenn du also dem Bedürfnis deines Kopfes durch deinen Freund in Mekka Rechnung getragen siehst, so meinst du wohl, daß du dafür hier jenen Pflichten nachkommen könnest,. die jener Mekkapilger hier



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in der Stadt derweilen versäumt?" Der Muezzin sagte: "Ich sehe, du bist eine kluge Frau. Ich werde um die Welt nicht undankbar sein, weder gegen einen andern noch gegen dich."

Die Alte sagte: "Wenn die Sache so steht, so will ich gern sehen, wie ich dich den Zielen deiner Sehnsucht näherbringen kann, und ich denke mir, daß mir das nicht schwer werden kann, wenn du nämlich den Wunsch hast, die Tätigkeit fortzusetzen, die der jungverheiratete Mekkapilger so plötzlich unterbrochen hat." Der Muezzin dankte darauf der Alten, und diese eilte schnell zu der jungen Frau des Mekkapilgers hinüber. Die Alte sagte zu der Jungen: "Wenn ich es recht überlege, muß ich doch sagen, daß dein Mann sehr schlecht an dir gehandelt hat und daß du sehr zu bedauern bist!" Die junge Frau sagte: "Weshalb beschimpfst du meinen Mann?" Die Alte sagte: "Ich beschimpfe deinen Mann nicht; ich finde nur, daß er mit dem unfertigen Kinde sehr schlecht an dir gehandelt hat, und daß er erst einmal das Kind seiner Frau ausarbeiten konnte, ehe er sich entfernte, um den Wunsch seines Vaters so schnell zu erfüllen." Die junge Frau sagte: "Was meinst du mit dem unfertigen Kinde?" Die Alte sagte: "Nun, er hat dein Kind nicht fertig ausgearbeitet! Er hat nur für den Körper gesorgt. Wenn das Kind so geboren wird, werden ihm der Kopf und alle Glieder fehlen. Er ist von der unfertigen Arbeit fortgelaufen, und dir wird die Schande widerfahren, diesen Krüppel gebären zu müssen." Die junge Frau erschrak sehr und sagte: "Ist es sicher so ?"

Die Alte sagte: "Sicher ist es so! Du kannst jeden Menschen fragen, der davon genug versteht. Noch vor wenigen Tagen sprach ich mit dem Muezzin des großen Minaretts, der durch seine ausgezeichnete Kinderarbeit bekannt ist, über eine ähnliche Sache." Die junge Frau sagte: "Ach, was ist mein Mann schlecht! Was ist mein Mann schlecht! Aber sage mir doch, kann mir jener Muezzin, der durch seine ausgezeichnete Kinderarbeit so bekannt ist, nicht noch helfen, so daß das Kind fertig wird ?" Die Alte sagte: "Gewiß kann er das. Du mußt ihn nur bitten!" Die junge Frau sagte: "Meine Freundin, ich bitte dich, gehe schnell zu dem geschickten Muezzin und sprich mit ihm. Willst du es tun?" Die Alte sagte: "Wenn du durchaus willst, soll es geschehen!" Die Junge sagte: "Ja, ich bitte dich! Und er soll auch schnell kommen, damit es nicht zu spät wird." Die Alte sagte: "Ich will sogleich gehen. Wann soll der Muezzin kommen?" Die Junge sagte: "Bitte ihn herzukommen, sobald er Zeit hat." Die Alte ging.



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Die Alte kam zum Muezzin und sagte: "Geh nur schnell hinüber, mein Freund. Die junge Frau des Mekkapilgers bittet dich, nur ja recht schnell zu ihr zu kommen!" Der Muezzin bedankte sich bei der Alten und machte sich sogleich auf den Weg. Er kam zu der jungen Frau des Mekkapilgers. Die junge Frau begrüßte ihn und sagte: "Ich danke dir, daß du gekommen bist. Mein Mann hat mir ein unfertiges Kind zurückgelassen und ist nach Mekka gepilgert, ehe noch die Glieder angefangen waren. Ich habe dich bitten lassen hierherzukommen, damit du diese Arbeit, in der du sehr geschickt bist, zu Ende führst." Der Muezzin sagte: "Ich will das gern ausführen." Die junge Frau sagte: "Wie lange wirst du hierzu benötigen?" Der Muezzin sagte: "Man kann das nicht auf einmal machen. Denn ich will die Arbeit gut machen, zumal dein Mann auch für mich in Mekka betet." Die junge Frau sagte: "Es ist gut. Fange nur schnell an, damit wir keine Zeit verlieren." Der Muezzin sagte: "Es ist gut, lege dich nur gleich auf das Angareb. Ich will dann schon mit allen Kräften arbeiten."

Die junge Frau legte sich also auf das Angareb. Der Muezzin kam aber seinem Bedürfnis nach und erfüllte sein Versprechen, daß er mit allen Kräften arbeiten wolle, vollkommen, so daß die junge Frau über die Maßen zufrieden war. Als sie sich wieder von ihrem Angareb erhob, sagte sie: "Es ist wahr, du verstehst diese Arbeit wirklich besser als mein Mann. Komm nur recht häufig wieder und bleibe weiter so bei der Sache." Der Muezzin sagte: "Ich verspreche dir dieses und hoffe, daß du mit der Sache immer gleich zufrieden sein wirst. Nur mußt du, wenn du besondere Wünsche hast, mir diese beizeiten sagen, so daß ich alle Maßnahmen immer im betreffenden Augenblick beobachten kann." Die junge Frau sagte: "Wenn du so freundlich sein willst, für alles beizeiten Maßnahmen treffen zu wollen, so vergiß doch ja nicht, daß das Kind, wenn es ein Junge wird, ein gleich gutes Arbeitswerkzeug erhält wie du. Es würde mir leid tun, wenn es bei dem Kinde so klein und schwächlich würde wie bei seinem Vater." Der Muezzin sagte: "Alles das kann ich dir versprechen. Denn gerade in der Ausführung solcher Einzelheiten bin ich, wie ich glaube, geschickter als nur irgendein anderer Kinderarbeiter dieser Stadt." Die junge Frau sagte: "Mußt du jetzt schon wieder gehen oder könntest du noch ein wenig in der Sache weiterwirken ?" Der Muezzin sagte: "Ich habe soeben den Mund des Kindes angebracht. Wenn du nicht zu ermüdet bist, so lege dich nur noch einmal hin; ich will dann die



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Nase einsetzen." Die junge Frau sagte: "Ich bin ganz und gar nicht so müde, daß ich das Einsetzen der Nase nicht noch ertragen könnte, vielmehr scheint es mir, daß deine heftige Arbeitsweise mir mehr zusagt als die sanftere meines Mannes." Damit legte die junge Frau sich noch einmal auf das Angareb, und der Muezzin setzte die Nase so stark an, daß die angehende Mutter bei der Wahrnehmung der geschickten Tätigkeit des Muezzin freudig stöhnte.

Von nun an kam der Muezzin so oft es ihm behagte zu der jungen Frau des Mekkapilgers, und diese war über seine emsige Arbeit ganz außerordentlich glücklich. Um sich nun aber ganz und ungeteilt der Tätigkeit bei der jungen Frau hingeben zu können, sandte der Muezzin seine eigene Frau, die auch noch jung, ihm aber gewohnter und deshalb gleichgültiger war, zu deren Eltern, damit sie diese für einige Monate besuche. Dann widmete er sich mit doppelter Kraft der jungen Frau des Mekkapilgers.

Inzwischen hatte der Mekkapilger seine Gebete verrichtet und kehrte eines Tages unerwartet nach Haus zurück. Als seine Frau ihn kommen sah, gewann sie es aber nicht über sich, ihn freundlich zu begrüßen. Vielmehr wandte sie dem eintretenden Gatten den Rücken zu und kümmerte sich nicht weiter um ihn, und als er sie dann nachher freundlich ansprach, ging sie ohne Antwort mit böser Miene von dannen. Der Mekkapilger sagte darauf bei sich: "Hier muß irgend etwas vorgefallen sein. Ich muß das erfahren." Er sprach seine Frau bei der nächsten Gelegenheit wieder freundlich an. Sie aber wandte sich abermals mit schlimmer Miene ab und wollte von dannen gehen.

Der Mekkapilger sagte aber zu seiner jungen Frau: "Warte einmal! Bleib einmal hier und sage mir, warum du mir nicht antwortest und mir ein so unfreundliches Gesicht zeigst!" Die junge Frau wandte sich nun wohl ihrem Manne zu; sie sah ihn aber sehr zornig an und sagte: "Weshalb ich unfreundlich zu dir bin? Nun, weil du ein schlechter Mann bist, ein sehr schlechter Mann! Deinem toten Vater zuliebe bist du weggelaufen nach Mekka und hast mich, deine lebende junge Frau, mit einem unfertigen Kinde zurückgelassen. Und einen Krüppel hätte ich bei derart abgebrochener Arbeit mir zur Schande geboren! Dank aber dem fleißigen Muezzin vom großen Minarett, der in vorzüglichster Weise las unterbrochene Werk fortgesetzt hat und in so unermüdlicher Tätigkeit dem Rumpfe alle Glieder, von der Nase bis zur großen Zehe, zugearbeitet hat!"



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Als der Mekkapilger das hörte, sagte er bei sich: "Oho, steht die Sache so!" Zu seiner Frau sagte der Mekkapilger nichts. Am gleichen Tage ging er aber zu dem Muezzin, den er von früher wohl kannte, erzählte ihm, daß er die versprochenen Gebete ausgeführt habe, und schloß mit ihm herzliche Freundschaft. Diese Freundschaft pflegte der Mekkapilger mit aller Sorgfalt und besuchte seinen neuen Freund alle Tage. So erfuhr er denn bald, daß dieser seine Frau in eine einige Tagereisen entfernte Stadt gesandt habe, damit sie dort für einige Monate bei ihren Eltern verbleibe. Der Mekkapilger merkte sich dieses alles ganz genau und besuchte außerdem seinen Freund, den Muezzin, so häufig, daß jener nicht imstande war, etwas ohne Wissen des Mekkapilgers auszuführen.

Einige Tage lang empfand der Muezzin die Behinderung an der ihm gewohnt gewordenen Nebenarbeit sehr angenehm, denn gerade in den letzten Tagen hatte die junge Frau des Mekkapilgers bei der Ausarbeitung der großen Zehen große Rührigkeit an den Tag gelegt und hatte mehr Geduld und Aufnahmefähigkeit gezeigt, als er auf die Dauer zu ertragen vermochte. Nachdem der Muezzin also einige angenehme Tage der Ruhe an der Seite des neuen Freundes genossen hatte, begann er sich nach einer frischen Betätigung zu sehnen und sagte bei sich: "Zwar wünsche ich mir auf die Dauer nicht eine Frau wie die dieses Mekkapilgers, eine Frau, die mehr Bewegungsfreude und Ausdauer besitzt als ein Mann. Sehr angenehm wäre es mir aber, wenn meine eigene Frau nun wieder zu mir zurückkehrte, denn ihre Sanftmut ist auf die Dauer doch genußreicher und leichter zu ertragen als das Ungestüm der andern."

Nachdem der Mekkapilger nun also einige Zeit in der Stadt und viel in der Umgebung des Muezzin geweilt hatte, sagte er eines Tages zu seinem Freunde: "Ich werde morgen wieder für einige Tage verreisen und werde jene Stadt aufsuchen." Dabei nannte der Mekkapilger den Namen der Stadt, in der die Frau des Muezzin bei dessen Schwiegereltern wohnte. Als der Muezzin dies hörte, dachte er bei sich: "Dieser Mann verreist offenbar nur, um einmal wieder seiner Frau für einige Zeit zu entgehen und sich auszuruhen. Da seine Frau ihn also sehr in Anspruch genommen haben wird, scheint er mir für einige Zeit gänzlich ungefährlich für alle Frauen." Der Muezzin sagte aber laut zu dem Mekkapilger: "Hast du in jener Stadt irgend jemand, bei dem du unterkommst ?" Der Mekkapilger sagte: "Nein, ich kenne in dieser Stadt niemand." Der



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Muezzin sagte: "Höre, mein Freund, das trifft sich ausgezeichnet. In jener Stadt wohnen nämlich meine Schwiegereltern, bei denen augenblicklich meine Frau zu Besuch weilt. Ich will dir also einen Brief an meinen Schwiegervater mitgeben, so daß du bei ihm wohnen kannst. Ich bitte dich aber um die Gefälligkeit, wenn du heimkehrst, meine Frau unter deinem Schutze mitzubringen und darauf zu achten, daß ihr auf dem Wege durch die Wüste nichts abhanden kommt." Der Mekkapilger sagte: "Ich hatte zwar an ein anderes Unterkommen gedacht; wenn dir aber, meinem Freunde, daran gelegen ist, so will ich deinem Wunsche gern nachkommen."

Am andern Tage machte sich also der Mekkapilger mit dem Briefe auf den Weg und kam nach einer längeren Reise auch bei den Schwiegereltern des Muezzin an. Er weilte bei diesen einige Tage und bereitete die Rückwanderung vor, und dem Inhalt des Briefes entsprechend, bat der Gastwirt den Mekkapilger, sich seiner Tochter anzunehmen und sie zu seinem Schwiegersohne zurückzuführen. Der Mekkapilger reiste also mit der Frau des Muezzin ab. Nachdem er am ersten Tage nur einen kleinen Marsch zurückgelegt hatte, schlug er am zweiten den Weg in die Wüste ein, der ein gut Teil kürzer als der übliche, aber für den ersten Tagesmarsch sehr anstrengend war, zumal die Reisenden die folgende Nacht unter einigen Bäumen allein in der Wildnis übernachten mußten.

Also kamen der Mekkapilger und die Frau des Muezzin abends sehr ermüdet an diesem einsamen Lagerplatz unter den Bäumen an. Der Mekkapilger sagte zu der Frau des Muezzin: "Höre, wir sind hier in großer Einsamkeit, und es wird gut sein, daß immer einer von uns wacht, damit wir auf das Herankommen von Dieben oder Raubtieren vorbereitet sind. Laß mich nun erst zwei Stunden schlafen, so daß ich ganz frisch bin. Dann wecke mich und ich werde den Rest der Nacht wachen, so daß du ungestört und unbesorgt dich bis zum Morgen ausschlafen kannst. Wecke mich also nur nach zwei Stunden." Die Frau des Muezzin sagte: "Damit bin ich ganz einverstanden." Der Mekkapilger sagte: "Wecke mich nur nach zwei Stunden!"

Dann legte sich der Mekkapilger hin und schlief sogleich ein. Die Frau des Muezzin nahm sich zwar vor, wach zu bleiben, der Tagesmarsch war aber sehr beschwerlich gewesen, und so kam es, daß auch sie nach einiger Zeit einschlief. Der Mekkapilger erwachte aber bald darauf. Er sah vorsichtig hin, ob die junge Frau



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auch fest schlief; dann ging er zu ihr und nahm ihr vom Hals und von den Händen allen Goldschmuck, den sie umhatte und steckte ihn in seine Beinkleider. Nun legte er sich an seinen alten Platz und schlief bis zum nächsten Morgen.

Am andern Morgen erwachte die Frau des Muezzin zuerst. Sie bemerkte sofort, daß ihr gesamter Schmuck abhanden gekommen war. Sie erschrak sehr und weckte sogleich den Mekkapilger. Dieser fuhr aus dem Schlafe und sagte: "Warum hast du mich nicht in der Nacht geweckt? Es hätte uns sehr leicht etwas geschehen können!" Die Frau des Muezzin sagte: "Es ist auch etwas geschehen. Ich bin vor Müdigkeit eingeschlafen, und da ist ein Dieb vorbeigekommen und hat mir meinen ganzen Goldschmuck gestohlen." Der Mekkapilger fuhr auf und sagte: "Was, ein Dieb hat dich bestohlen? Wir müssen sogleich die Fußspuren im Sande suchen, um so zu erfahren, auf welchem Wege er von dannen gelaufen ist. Sieh gleich auf allen Seiten um dich. Ich gehe selbst auch umher." Die Frau des Muezzin sah um sich. Sie blickte nach allen Seiten. Die Frau sagte: "Ich sehe nur die Spuren, die wir selbst getreten haben, als wir gestern abend unser Gepäck aufschichteten." Der Mekkapilger schüttelte den Kopf und sagte: "Diese Sache ist sehr ernst; ich kann auch nicht mehr sehen. Wie kann das nur geschehen sein!"

Der Mekkapilger setzte sich hin und dachte nach. Die Frau des Muezzin setzte sich neben ihn und dachte nach. Die Frau des Muezzin sagte nach einiger Zeit: "Fällt dir nichts ein?" Der Mekkapilger sagte: "Es fällt mir schon etwas ein, aber es ist eine schwierige Sache!" Die Frau des Muezzin sagte: "Sage es mir, denn das ist mir eine schlimme Angelegenheit mit dem Verlust!" Der Mekkapilger sagte: "So höre denn, du Frau meines Freundes! Du weißt doch, daß Männer und Frauen einen Unterschied haben!" Die Frau sagte: "Das weiß ich!" Der Mekkapilger sagte: "Nun gut. Der Unterschied vieler Frauen ist diebisch und stiehlt sehr gern. Das Stehlen ist dem Unterschied der Frauen angeboren. Meist stiehlt der Unterschied der Frauen nun allerdings den Männern. Wenn er aber lange Zeit nichts bei Männern zu stehlen gehabt hat, so stiehlt er sehr leicht auch einmal seiner eigenen Herrin etwas. Da nun rund herum keine fremde Fußspur zu sehen ist, so kann ich es nicht anders annehmen, als daß dein eigener Unterschied, wenn er sonst längere Zeit nicht seinen Mann zu bestehlen Gelegenheit gehabt hat, dich selbst bestohlen und den Raub



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in seinem Innern verborgen hat." Die junge Frau des Muezzin sagte: "Daß mein Unterschied bei Männern gern stiehlt, habe ich, seitdem ich verheiratet bin, oft bemerkt. Auch hat er in letzter Zeit keine Gelegenheit gehabt, etwas zu stehlen. Sage mir nur, ich bitte dich, wie kann man dem Unterschied die Schmucksachen wieder wegnehmen?"

Der Mekkapilger wiegte den Kopf hin und her und sagte: "Das kann eine Frau nicht allein machen. Ein Mann muß langsam und vorsichtig seinen eigenen Unterschied in das Innere führen und danach suchen. Es muß aber bald nach dem Raube und langsam und vorsichtig geschehen, denn sonst wird der Raub immer weiter im Innern versteckt, und du weißt, daß er dann erst als Kind wieder herauskommen kann. Dein Unterschied wird aus dem Schmuck also wohl ein steinernes Kind machen." Die Frau des Muezzin schrie vor Schreck auf. Die Frau des Muezzin sagte: "Was? Ein steinernes Kind soll ich gebären? Daran sterbe ich!" Der Mekkapilger sagte: "Ja, daran sterben die Frauen." Die Frau des Muezzin warf sich vor dem Mekkapilger auf die Erde und sagte: "Ich bitte dich! Ich bitte dich! Versuche es schnell, ob du die gestohlenen Sachen wieder aus meinem Unterschiede herausholen kannst! Ich bitte dich!" Der Mekkapilger sagte: "Lege dich hin! Ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, um deinem Unterschiede den Raub wieder zu entreißen!"

Die Frau legte sich hin. Der Mekkapilger aber begann mit großer Vorsicht mit seinem Unterschiede die Untersuchung; und als er dies eine Weile so ausgeführt hatte, daß auch die Frau seine Sorgfalt und Fürsorge bemerken mußte, griff er mit der Hand nach unten und langte aus seinem Hosenbein ein Armband heraus! Die Frau des Muezzin sagte: "Ja, das ist das erste! Ich danke dir! Ich danke dir! Schnell suche auch das andere!" Der Mekkapilger begann also nach einer kleinen Ruhepause die Untersuchung aufs neue und brachte diesmal das zweite Armband hervor. Die junge Frau war darüber sehr glücklich und hätte nun gern die Untersuchung sogleich zu Ende geführt gesehen. Der Mekkapilger bestand aber darauf, daß sie erst ein Frühstück einnähmen und einigen aus einer Flasche mitgenommenen Wein tränken, um so die Unterschiede iur Ruhe zu bringen.

Der genossene Wein hatte aber zur Folge, daß die junge Frau noch viel emsiger auf die Durchsuchung ihres diebischen Unterschiedes bestand. Sie sagte: "Mein Unterschied empfindet es gar



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nicht unangenehm, daß du ihn nach allen Richtungen auf den gestohlenen Schmuck hin untersuchst, und mir will es so scheinen, als ob er die gestohlenen Sachen auf diese Weise sehr gern wieder hergibt, ja, als ob er nach jeder Untersuchung nach einer Wiederholung dränge." Der Mekkapilger sagte: "Dieses ist sehr erklärlich. Denn dein Unterschied hat deine Steine und dein Gold nur deshalb gestohlen, weil er solange bei einem Manne nichts stehlen konnte." Die Frau des Muezzin sagte: "Nun eile dich und suche noch nach der Halskette!" Der Mekkapilger kam der Aufforderung wiederum nach und überreichte der jungen Frau diesmal den Halsschmuck.

So hatte die junge Frau denn allen ihren Schmuck wiedererhalten, und der Mekkapilger hätte nun ohne weiteres mit der Frau des Muezzin weiterreisen können. Nachdem beide sich aber noch ein wenig an Speise und Wein gestärkt hatten, sagte die Frau des Muezzin: "Höre, du freundlicher Mann! Vor einiger Zeit wurde im Hause meines Vaters ein Ring vermißt. Es scheint mir nun wohl möglich, daß mein Unterschied der Dieb auch dieses Gegenstandes ist. Ich wäre dir also sehr dankbar, wenn du ganz hinten einmal danach suchen wolltest!" Der Mekkapilger, dem der Wein auch noch mehr Freude an der annehmlichen Tätigkeit erweckt hatte, sagte: "Gewiß, du freundliche Herrin eines räuberischen Unterschiedes! Dieses soll sogleich geschehen!"

Der Mekkapilger begann die Untersuchung also zum vierten Male, und zwar betrieb er sie nunmehr so weitgehend und energisch, daß zum Abschluß die Frau des Muezzin einen Wind streichen lassen mußte. Der Mekkapilger, der sowieso an der Grenze aller Kräfte angekommen war, sagte also: "Hörst du? Eben hat dein Unterschied laut geschworen, daß er nun kein gestohlenes Gold und keine gestohlenen Steine mehr verborgen halte." Damit erhob er sich. Die junge Frau richtete sich auch auf und sagte: "Ich habe es wohl gehört; außerdem spüre ich nun auch, daß die Widerstandskraft meines Unterschiedes gebrochen ist. Ich sage dir Dank!"

Der Mekkapilger und die Frau ruhten sich noch ein wenig aus, und dann machten sich beide auf den Weg und kamen zur guten Zeit wieder in der Stadt an, in der der Mekkapilger sogleich seine Frau, seine Begleiterin aber ihren Mann, den Muezzin, aufsuchte.

Der Muezzin empfing seine Frau aufs freudigste, und da er nun schon längere Zeit ein sehr zurückgezogenes Leben geführt hatte,



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so war er doppelt zudringlich in seinen Freudenbezeugungen. Seine Frau wehrte ihn aber ab und sagte: "Unterwegs ist mir eine schlimme Sache widerfahren, an der du schuld bist. Du weißt, daß die Unterschiede der Frauen sehr diebisch sind. Du weißt, daß sie eigentlich nur die Männer bestehlen. Da du mich nun aber solange allein bei meinen Eltern gelassen hast und ihm so jede Gelegenheit, sein angeborenes Diebsgelüst zu befriedigen, geraubt war, hat er mir nachts alle meine Steine, Silber- und Goldsachen gestohlen, um sich daraus ein steinernes Kind zu bilden, bei dessen Geburt ich dann nachher natürlich gestorben wäre. Dank aber dem freundlichen Mekkapilger, der jedes Schmuckstück eines nach dem andern schnell und mühsam dem Dieb wieder entrissen und ihn zuletzt zu dem Schwur, nichts anderes Derartiges gestohlen zu haben, gezwungen hat. Ohne seine unterschiedlichen Bemühungen ginge ich nun, infolge deiner Gleichgültigkeit, dem sicheren Tode entgegen!"

Als der Muezzin das hörte, ging er hinaus und sagte bei sich: "Dieser Mann hat den Tauschhandel anscheinend so gründlich betrieben, daß meine Frau für die nächsten Tage mich wohl kaum freundlich aufnehmen wird." Der Muezzin ging fort. Er traf unterwegs den Mekkapilger und sagte: "Meine Frau hast du so sicher zurückgebracht, daß ich für deine eingehende Fürsorge nicht dankbar genug sein kann." Der Mekkapilger sagte: "Wie hätte ich dir sonst die freundliche Nachhilfe, die du mir früher gewidmet hast, danken können!"


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