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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


14. Die Lieblinge der Aldjann

Ein Melik (hier gleichbedeutend mit Sultan) hatte eine Tochter, das war ein sehr schönes Mädchen. Einen Sohn und überhaupt ein anderes Kind hatte er nicht, und somit hing er an diesem Mädchen mit ganz besonderer Liebe. Er sagte deshalb zu seiner Tochter, als sie herangewachsen war: "Meine Tochter, ich will, daß du dereinst eine gute Ehe nach deiner Vorstellung eingehst. Ich will dich nicht einem andern Manne ohne deine Einwilligung zur Frau geben." Da das Mädchen nun sehr schön und die Tochter eines Melik war, kam bald ein angesehener Mann zum Melik und bat ihn um die Hand seiner Tochter. Der Melik sagte aber: "Ich will meiner Tochter darin nichts vorschreiben, und somit muß ich meine Tochter fragen und ihr die Entscheidung überlassen, wenn du mir auch sonst als Schwiegersohn willkommen wärest." Es wurde somit das Mädchen selbst gefragt, und dieses antwortete: "Nein, mein Vater; ich möchte diesen Mann nicht heiraten." Bald kamen andere Männer. Wer aber auch immer um die Hand der schönen Meliktochter anhielt, stets erfolgte die Antwort: "Nein, mein Vater; ich möchte diesen Mann nicht heiraten."

Viele verschiedene Männer kamen im Laufe der Jahre so dem Mädchen unter die Augen. Das Mädchen sah sie und verglich sie und sagte zuletzt: "Nein, mein Vater; ich möchte diesen Mann hier nicht heiraten, und ich möchte überhaupt nicht heiraten, denn ich finde keinen Mann, der mir zusagt."

Darauf nun wurde der Melik böse und sagte: "Ich habe mein



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Wort gegeben, daß du Freiheit bei der Wahl deines Gatten hast. Was ich gesagt habe, muß ich halten. Ich will aber nicht, daß du bis an dein Ende kinderlos bleibst. Ich will nicht deinen Hochmut bekräftigen. Deshalb werde ich es jetzt so einrichten, daß du überhaupt keinen Mann mehr zu sehen bekommen wirst, bis du dir einen Gatten wünschst." Damit ließ der erzürnte Melik seine Tochter in einen hohen Turm einsperren. Er gab einer Djaria (Sklavin) den Auftrag, für die Speisen und Getränke seiner Tochter zu sorgen, verbot aber aufs strengste, daß irgendein Mann Zutritt zu ihr erhalte oder in ihre Nähe käme. Die Frau aber, der er die Aufsicht über seine Tochter übergab, war die Amme (Murda), die für das Mädchen von Kindheit auf wie eine zweite Mutter gesorgt hatte. In diesem Turme blieb nun das Mädchen mehrere Monate eingeschlossen, ohne eine fremde Frau, geschweige denn einen fremden Mann zu sehen.

In einem Lande, das sehr, sehr weit entfernt lag von dem Reiche, in dessen Hauptstadt die Tochter des Melik eingeschlossen war, lebte ein anderer Melik, der hatte keine andern Kinder als nur einen einzigen Sohn. Dieser Sohn war nun recht erwachsen, als der Emir ihn eines Tages zu sich rief und ihm sagte: "Mein Sohn, du bist nun herangewachsen und ein schöner Bursche geworden. Du bist in den Jahren zu heiraten, und ich denke, du bist schön und ansehnlich genug, um ein jedes Mädchen leicht für dich gewinnen zu können. Hast du nun schon eine Neigung gefaßt, so teile mir dies mit. Ist dies aber nicht der Fall, so sieh dich bald unter den Mädchen dieses oder eines benachbarten Landes nach einer Gattin um, die ihrer Familie und ihrer Eigenart nach würdig ist, die Mutter deiner Kinder zu werden." Der Sohn sagte: "Ich habe bisher noch gar nicht an diese Angelegenheit gedacht und bitte dich, mir Zeit zu lassen, diese Frage mit Sorgfalt zu erwägen." Der Melik sagte: "Mein Sohn, ich wollte dich an diese wichtige Sache nur erinnern und überlasse es dir, selbst deine Entschlüsse zu fassen."

Der Sohn des Melik sah sich nun in den nächsten Jahren nach einer Gattin um, konnte aber kein Mädchen finden, für das er eine wirkliche Liebe verspürt hätte. Der Melik wartete geduldig einige Jahre, dann rief er eines Tages wieder seinen Sohn und sagte: "Mein Sohn, ich habe die Angelegenheit deiner Verehelichung vertrauensvoll dir überlassen. Ich dachte, du würdest deine Wünsche mit den meinigen zu vereinigen wissen und habe deshalb nicht weiter danach gefragt. Nun aber sehe ich, daß du aus eigenem



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Antrieb nicht wieder zu mir kommst. Ich mußte dich ausdrücklich rufen und frage dich nun, wie weit du zu festen Entschlüssen in der Wahl deiner Gattin gekommen bist." Der Sohn sagte: "Ich fürchte, mein Vater, daß dir meine Antwort nicht gefallen wird. Ich habe mir alle angesehenen Mädchen dieses und anderer Länder angesehen. Ich habe keine darunter gefunden, die mir als Gattin wünschenswert erschienen wäre. Ich fürchte fast, mein Vater, daß ich zur Verehelichung wenig geeignet bin, da ich mir kein Mädchen denken kann, daß ich zur Gattin wünsche." Als der Melik diesen Ausspruch seines Sohnes hörte, wurde er sehr böse und sagte: "Leider habe ich aus eigenem Antrieb gesagt, daß ich dich nicht zu einer Ehe zwingen will. Nun ich aber sehe, daß du andere Wege gehst, als sie meine Wünsche und dein eigenes Wohl verlangen müssen, werde ich dir Muße und Gelegenheit bieten, die Sache in Erwägung zu ziehen." Damit entließ der Melik seinen Sohn in großem Zorne.

Der Melik ließ aber einen einsamen Turm für seinen Sohn als Wohnung herrichten. Er ließ seinen Sohn hineinbringen und ließ ihn unter der Fürsorge eines alten Dieners des Hauses einschließen. Er verbot dem Diener aufs strengste, irgendeinem fremden Manne und noch weniger einem Mädchen oder einer Frau Zutritt zu gestatten und sagte dazu: "Ich hoffe, daß diese Einsamkeit am meisten meinen Sohn zur Vernunft bringen wird, und ich denke, daß er, je länger er den Anblick eines Mädchens und einer Frau entbehren muß, ihm desto mehr der Wunsch nach einem solchen erstehen wird." Es verbrachte also der schöne Jüngling mehrere Monate in Einsamkeit in seinem Turm. Das war aber um die gleiche Zeit, da der andere, weit entfernt wohnende Melik seine Tochter in gleicher Weise eingeschlossen hielt.

In dem Turme, in dem der Jüngling eingeschlossen war, wohnte aber für gewöhnlich ein Aldjann, und in dem des Mädchens hatte auch ein solcher seine Wohnung. Der Aldjann, der im Turme des Jünglings wohnte, war sonst nicht der beste Kamerad, sondern liebte es, andern schlimme Streiche zu spielen, die oft böse genug abliefen. So kam es, daß der Turm bei dem Volke nicht gerade im besten Rufe stand. Als dieser boshafte Aldjann aber in der ersten Nacht seines Aufenthalts im Turme den Jüngling sah, da gewann er diesen sogleich so lieb, daß er beschloß, ihm nicht nur nichts Schlimmes zu tun, sondern ihn auch sorgfältig von allen unangenehmen Einflüssen frei zu halten und ihn zu bewachen. Eines



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Tages nun kamen viele Aldjann zusammen und plauderten über die Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Zeit, und der Aldjann, in dessen Turm nun der Sohn des Melik wohnte, sagte: "Ich habe in den letzten Monaten keinen Streich mehr ausgeführt und keine Torheit mehr begangen." Ein anderer Aldjann sagte: "So fürchten die Menschen dich nun wohl so, daß sie nicht mehr wagen, in die Nähe deines Turmes zu kommen! Siehst du, das kommt davon, wenn man seine Sache so schlimm treibt. Die Katze, die allzuviel Mäuse fängt, muß nachher auswärts umherlaufen, um ihre Nahrung zu finden."

Der erste Aldjann sagte: "Du bist zwar sehr weise, aber diesmal stimmt deine Angabe nicht. Die Leute sind nicht nur meinem Turm recht nahe gerückt, der Melik hat vielmehr sogar seinen Sohn darin eingesperrt, und das ist ein so schöner Mensch, daß ihm niemand etwas antun kann. Es ist der schönste Mensch, den es auf der Erde gibt!" Als der erste Aldjann das gesagt hatte, erhob ein anderer, der bis dahin geschwiegen hatte, seine Stimme und sagte: "Du lügst!" Der erste Aldjann war ganz betroffen und fragte: "Was sagst du?" Der andere sagte: "Ich sage dir, daß du lügst, wenn du sagst, daß der schönste Mensch der Erde in deinem Turme eingeschlossen ist. Der schönste Mensch der Erde ist überhaupt kein Jüngling, sondern ein Mädchen, das alle andern Wesen übertrifft."

Die übrigen Aldjann waren durch diese Erklärung nun sehr angeregt geworden, und sie fragten den zweiten Aldjann: "Wo wohnt denn dieses schönste Mädchen, das den schönsten Mann der Erde noch an Schönheit übertrifft?!"

Der zweite Aldjann sagte: "Dieses schönste Mädchen wohnt unter meinem Schutz in meinem Turm." Der erste Aldjann sagte: "Natürlich, wenn der schönste Mann in meinem Turm wohnt, muß das schönste Mädchen in dem deinen wohnen. Wie kommt sie denn da hinein?" Der zweite Aldjann sagte: "Das ist eine sehr einfache Sache. Dies schönste Mädchen ist die Tochter des Melik meines Landes. Sie hat durchaus bisher keinen Mann finden können, der ihr zusagt, und da hat der Vater sie denn jetzt, um sie zur Ehe zu zwingen, in meinen Turm einsperren lassen." Der erste Aldjann sagte: "Dies ist allerdings eine eigentümliche Sache. Mein Jüngling ist aus dem gleichen Grunde in meinen Turm gesperrt."

Die übrigen Aldjann riefen: "Dies ist eine ausgezeichnete Sache! Da können wir ja eine neue Tollheit ausführen. Wir legen den schönsten Jüngling dem schönsten Mädchen auf das Angareb." Der



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erste Aldjann sagte: "Ich habe euch gesagt, daß ich den Jüngling liebe und daß ich nicht will, daß man ihm etwas zufüge!" Die übrigen Aldjann verspotteten nun den ersten und sagten: "Du liebst wohl deinen Jüngling so, daß du eifersüchtig bist." Der erste Aldjann sagte: "Versteht mich recht; ich will nur das Beste für meinen schönen Jüngling und will es verhindern, daß ihn ein Unglück treffe." Der zweite Aldjann sagte: "Ist es vielleicht ein Unglück für einen schönen Jüngling, auf dem Angareb eines noch schöneren Mädchens zu erwachen ?" Der erste Aldjann sagte: "Das ist es allerdings nicht."

Nun nahm einer der übrigen Aldjann das Wort und sagte: "Es ist somit ganz klar, daß wir zu entscheiden haben, welcher von diesen beiden Menschen der schönere ist. Wir wollen bei dieser Untersuchung kein Unglück anrichten, sondern wollen uns darauf beschränken, erst den Jüngling zu dem Turm und auf das Angareb des Mädchens, und nachher das Mädchen in den Turm und auf das Angareb des Jünglings zu tragen. Morgen früh sollen beide dann in ihrer gewohnten Umgebung erwachen, und somit kann daraus ein Unglück nicht entstehen." Mit diesem Vorschlage waren alle Aldjann einverstanden, und alle machten sich sogleich an die Ausführung des Unternehmens.

Die Aldjann begaben sich erst in den Turm, in dem der Jüngling wohnte; sie hoben ihn, ohne ihn zu wecken, auf und trugen ihn schnell in den Turm, in dem die Tochter des Melik schlief, und legten ihn neben das Mädchen auf das Angareb. Dazu entzündeten sie ein Licht. Bei dessen Aufflammen aber erwachte das Mädchen, richtete sich auf und sah nun zu seinem Erstaunen den Jüngling neben sich. Da wurde das Mädchen von einer solchen Liebe erfaßt, daß sie nicht anders konnte, als sich über ihn zu beugen und ihn auf beide Backen zu küssen. Das Mädchen sagte leise: "Was ist das? Nun hat mein Vater doch den Mann gefunden, den ich liebe! Und er hat ihn mir so gezeigt. Diesen Jüngling und keinen andern will ich heiraten!" Als das Mädchen das gesagt hatte, fiel sie wieder in tiefen Schlaf.

Die Aldjann nahmen aber nun den Jüngling und trugen ihn in seinen Turm zurück, und sie nahmen das Mädchen und trugen es dem Jüngling nach und legten es in dessen Turm neben ihn auf das Angareb. Sie zündeten wieder ein Licht an, und bei dessen Schein erwachte der Jüngling und sah auf das schöne Mädchen, das neben ihm lag, und er rieb sich die Augen und sagte: "Ein so schönes



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Mädchen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Sicher hat mein Vater sie gefunden und sie mir heimlich hierher gelegt. Er hat recht gehabt. Dieses Mädchen und kein anderes will ich heiraten." Und der Jüngling zog vorsichtig einen Ring, den er am Finger des Mädchens sah, ab und wechselte ihn mit einem solchen, den er selbst zu tragen pflegte, aus. Nach diesem Ring. tausch fiel er sogleich wieder zurück in festen Schlaf. Die Aldjann nahmen aber das schöne Mädchen auf und trugen es zurück in seinen Turm.

Am andern Morgen erwachte das schöne Mädchen und sah den Ring an seinem Finger. Das schöne Mädchen hatte den Ring an der Hand des Jünglings in der Nacht gesehen. Das schöne Mädchen sagte: "Der schöne Jüngling hat mir meinen Ring genommen, hat mir den seinen gegeben und ist wieder gegangen. Ich werde mit meinem Vater sprechen." Sie sandte darauf ihre Dienerin zu ihrem Vater, dem Melik, und ließ ihn bitten, sie zu besuchen. Der Melik kam. Das Mädchen warf sich vor seinem Vater nieder und sagte: "Mein Vater, verzeihe mir, wenn ich dich durch meine lange Unentschlossenheit gekränkt und dir zuletzt gesagt habe, ich wolle nicht heiraten. Du hast mir nun aber in dieser Nacht einen Jüngling gezeigt, den ich gern zum Gatten nähme - ja, ich kenne jetzt keinen andern Wunsch, als ihn sobald als möglich wiederzusehen." Der Melik war sehr erstaunt und sagte: "Meine Tochter, ich habe dir weder in dieser Nacht noch sonstwann in diesem Turm einen Jüngling gezeigt; ich habe vielmehr strengstens verboten, daß du jetzt mit einem Manne zusammen kommst." Die Tochter sagte: "Mein Vater, ich bitte dich, quäle mich nicht, denn ich bin streng genug bestraft. Führe mich vielmehr möglichst bald dem Jüngling zu, der in dieser Nacht mit mir die Ringe gewechselt hat."

Der Melik ließ sich von seiner Tochter den Ring geben, betrachtete ihn und sagte: "Dies ist ein sehr wertvoller Ring, und die ganze Sache sieht danach allerdings weniger nach einem Traume aus, als ich zuerst glaubte." Der Melik ließ nun die Dienerin holen und besprach mit ihr die Angelegenheit. Sie schwor ihm, daß sie die Schlüssel zum Turm ganz allein in der Tasche gehabt hatte, und außerdem ergab eine Untersuchung der Umgebung des Turmes, daß nirgends eine Spur aufzufinden sei. Der König schüttelte den Kopf, gab seiner Tochter den Ring wieder und sagte ihr, daß er dies alles nicht verstehe. Damit ging er.



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Als der Vater gegangen war, verfiel seine Tochter in ein langes Weinen und schluchzte ununterbrochen vor sich hin. Die alte Dienerin vermochte sie nicht zu trösten, vielmehr verfiel das Mädchen in eine Krankheit, die je länger sie währte, um so hartnäckiger um sich griff. Das schöne Mädchen vermochte zuletzt vor Schmerz und Kummer keine Speise mehr zu sich zu nehmen und genoß nur noch einiges Getränk.

Dem Jüngling erging es fast noch schlimmer. Als er am Morgen nach dem nächtlichen Auftauchen des schönen Mädchens in seinem Turm und auf seinem Angareb erwachte, war das erste, daß er nach dem Finger griff, auf den er den Ring des Mädchens gesteckt hatte. Als er sich erhoben hatte, sandte er zu seinem Vater und ließ ihm sagen: "Ich bin bereit, dies Mädchen zu heiraten und danke dir dafür, daß du sie mir in dieser Nacht gezeigt hast." Der Melik ließ aber antworten: "Ich weiß von keinem Mädchen, das mein Sohn heiraten will, und ich habe ihm auch keins gezeigt." Als der Sohn diese Antwort erhielt, verfiel er in tiefes Nachsinnen. Er sagte nur noch: "Dies ist also eine neue Strafe meines Vaters gewesen!" Und dann sprach er nicht mehr. Von nun an saß der Jüngling auf der Kante des Angareb und blickte unverwandt auf den fremden Ring. Er aß nichts mehr und trank nichts mehr. Er schlief nicht und ging nicht umher.

Nach einigen Tagen ging der Diener zu dem Melik und sagte: "Ich glaube, Herr, dein Sohn, für dessen Wohl ich sorgen soll, ist sehr krank. Er genießt nichts mehr und schläft nicht mehr." Der Melik, der seinen Sohn sehr liebte, sandte sogleich seinen Arzt hin, daß er die Sache untersuche. Als der Arzt aber zu dem schönen Jüngling kam, nahm der gar keine Notiz von ihm und blickte immer nur auf den Ring. Der Arzt versuchte ihm zuzusprechen und fragte ihn, woher er den Ring habe. Der Jüngling gab aber gar keine Antwort. Der Arzt drang weiter in ihn, erreichte aber keinerlei Aussprache. Er blieb nun mehrere Tage in dem Turm mit dem Jüngling zusammen und kehrte endlich tief bekümmert zu dem Melik zurück. Er sagte: "Mein Herr, es ist mir schwer, dir die Wahrheit zu sagen, aber ich muß es tun, da du mich mit der Untersuchung dieser Angelegenheit betraut hast. Dein Sohn, Herr, ist in dem Turm trübsinnig geworden, und es ist fürs erste nicht möglich, irgendeinen Einfluß auf sein Gemüt zu gewinnen. Da er nun aber immer auf einen Ring blickt, den er an der Hand trägt, so nehme ich an, daß seine Krankheit mit diesem in irgendeinem Zusammenhang steht."



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Der Melik erschrak nicht wenig über diese Mitteilung und zog nun Nachrichten über den Ursprung des Ringes ein; aber auch die Leute, welchen man Gelegenheit gab, an dem Jüngling vorbeizugehen und auf den Ring zu sehen, hatten nie dieses Schmuckstück oder auch nur ein ähnliches gesehen. Der Melik ließ seinen Sohn zu sich auf sein Schloß bringen. Er suchte ihm alle Zerstreuungen zu bereiten, die auszudenken waren; aber niemand vermochte es, den schönen Jüngling von dem Hinstarren auf den Ring abzubringen, und da er außerdem nichts mehr zu sich nahm, so siechte er von Tag zu Tag mehr hin. Das erfüllte nun den Melik und alle seine Leute mit solchem Schmerz, daß eine große Trauer über das Haus des Melik und über das ganze Land kam und niemand mehr wagte, sich einer Fröhlichkeit hinzugeben.

Der Melik ließ viele Ärzte kommen und die Sache besehen und besprechen. Es drängten sich immer mehr Ärzte hinzu. Aber als keiner wirklich helfen konnte, bestimmte der Melik, daß jeder Arzt, der den Fall behandeln zu können vorgabe, sich aber ebenso wie die andern nachher als unfähig erwies, getötet werden solle, Es kamen noch einige Ärzte, die ihren Wagemut mit dem Tode bezahlten, und dann blieb der Melik und sein Serail von fernern Besuchen verschont. Nur noch der Amir (Wesir) kam von Zeit zu Zeit, um mit dem Melik Wichtiges zu besprechen. Sonst lag das Serail verlassen da, und das ganze Volk trauerte.

Nun hatte die Amme (Murda), die die Tochter des Melik in ihrem Turm behütete und bewachte, einen erwachsenen Sohn, der war Kaufmann geworden und hatte sich auf einer Reise weit in fremde Länder begeben. Eines Tages kam der Sohn der Amme heim und wurde von dieser unter Tränen der Freude begrüßt. Nachdem er einiges von seiner Reise erzählt hatte, fragte er: "Nun aber erzähle du, meine Mutter, was es bei dir und hier im Lande inzwischen Neues gegeben hat!" Die Murda seufzte und sagte: "Hier haben wir nur eins erlebt und das ist sehr traurig. Als deine Schwester (die Tochter des Melik und der Sohn der Amme wurden als Schwester und Bruder bezeichnet, weil sie am gleichen Quell ihre erste Nahrung nahmen; richtiger wäre also Milchbruder und Milchschwester) alt genug war, verlangte der Melik, ihr Vater, daß sie sich verheirate nach eigener Wahl. Das Mädchen, das inzwischen sehr schön geworden war, konnte sich aber zu keinem Manne hingezogen fühlen, und zuletzt wurde der Melik ungestüm und böse und ließ sie in einen alten Turm einschließen. Ich sollte sie bewachen und behüten, kein



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anderer Mensch, am wenigsten ein Mann, durfte den Turm betreten. Da ereignete es sich, daß deine Schwester eines Morgens mit einem ausgetauschten Ring erwachte und erklärte, sie habe einen wunderbaren fremden Jüngling nachts in ihrer Kammer gesehen -diesen und keinen andern Mann wolle sie heiraten, und von diesem und keinem andern stamme der ausgetauschte Ring. Niemand wußte um den Ring oder den Jüngling. Das schöne Mädchen ist aber seither trübsinnig. Sie ißt nicht mehr und geht dem sichern Tod entgegen."

Der Sohn der Murda sagte: "Meine Mutter, laß mich mit meiner Schwester einige Worte sprechen." Die Mutter sagte: "Mein Sohn, was denkst du! Kein Mann darf in den Turm. Der Melik hat es streng verboten." Der Sohn sagte: "Meine Mutter, leihe mir deine Kleider, ich will nicht als Mann, ich will als Frau hineingehen!" Der Sohn drängte die Mutter. Endlich versprach sie ihn mitzunehmen. So geschah es.

Als der in Frauenkleider gehüllte Sohn nun in den Turm kam, sprach er zu der Tochter des Melik: "Meine Schwester, erschrick nicht! Ich, dein Bruder, bin es. Ich bin gekommen, dich zu bitten, mir den Ring zu zeigen, damit ich durch alle Länder reisen und den Jüngling finden kann, dem der Ring gehört." Die Tochter des Melik sah auf. Sie sagte: "Du bist es, mein Bruder! Mein Bruder, ich danke dir, daß du mir helfen willst." Der Sohn der Murda sah den Ring, er sagte: "Dieser Ring ist nicht aus diesem Lande. Ringe von ähnlicher Art habe ich in fernen, fernen Ländern gesehen." Die Tochter des Melik sagte: "Mein Bruder, glaubst du den finden zu können, von dem dieser Ring eingetauscht ist?" Der Sohn der Murda sagte: "Ich könnte es versuchen und ich glaube, daß es mir gelingen würde!" Die Tochter des Melik sagte: "Was brauchst du dazu?" Der Sohn der Murda sagte: "Ich brauche hierzu zweierlei: einmal mußt du mir den Ring geben, damit ich ihn überall vergleichen kann; dann mußt du mir versprechen, am Leben zu bleiben, bis ich wiederkomme." Die Tochter des Melik sagte: "Du bist mein Bruder. Dir vertraue ich. Nimm den Ring. Ich will nicht sterben, ehe du wiederkommst!"

Der Sohn der Murda nahm den Ring. Der Sohn der Murda ging in den Frauenkleidern aus dem Turm in das Haus seiner Mutter und bereitete sich gleich am andern Tag zu einer langen Reise vor. Er reiste nach jener Richtung, in der er Ringe von dieser Art gesehen hatte, und er reiste in dieser Richtung sehr weit, durch ein



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Land nach dem andern. Hier und da suchte er die Silberarbeiter auf und zeigte den Ring. Nirgends aber wußte man etwas von seiner Herkunft zu sagen.

Als der Sohn der Murda so schon eine weite Strecke und durch viele Länder gereist war, kam er eines Tages in eine sehr große Stadt, in der alle Welt still und geräuschlos einherging. Jeder aber, ob Mann oder Frau, ließ den Kopf hängen und war so traurig, daß der Sohn der Murda bei sich sagte: "In dieser Stadt muß gerade der Melik gestorben, der Melik aber ein sehr guter Mann gewesen sein." Der Sohn der Murda ging also in ein Kaffeehaus und setzte sich dahin, ließ sich eine Schale Kaffee reichen und sagte bei sich: "Auch der Kaffeekoch ist so traurig, als wenn er morgen hingerichtet werden sollte. In dieser Stadt wird niemand von mir und meinem Ring Kenntnis nehmen wollen."

Der Sohn der Murda schlürfte seinen Kaffee und hörte darauf, was die andern Leute sprachen. Er hörte wie ein Mann einen andern begrüßte und sagte: "Es gibt nichts Neues über den Sohn des Melik!" Nach einiger Zeit begrüßten sich wieder zwei Leute vor dem Kaffeehaus mit den Worten: "Es gibt nichts Neues über den Sohn des Melik!" Der Sohn der Murda wartete noch ein wenig und sah dann, wie ein anderer Gast in das Kaffeehaus trat und zum Kaffeekoch sagte: "Es gibt nichts Neues über den Sohn des Melik!"

Der Sohn der Murda sagte bei sich: "Ich habe mich geirrt. Der Melik ist nicht gestorben, aber sein Sohn scheint verschwunden zu sein. Ich werde den Kaffeekoch fragen." Der Sohn der Murda sagte zum Kaffeekoch: "Ich bin ein Fremder." Der Kaffeekoch sagte: "Das hört ein jeder." Der Sohn der Murda sagte: "Wieso hört das ein jeder?" Der Kaffeekoch sagte: "Weil Ihr nicht vom Sohn des Melik sprecht." Der Sohn der Murda sagte: "Höre, mein Freund, und doch ist es das, was mich am meisten angeht. Freund, sage mir, was es ist." Der Kaffeekoch sagte: "Das ist eine sehr traurige Geschichte. Unser Melik hat nur einen Sohn. Den hat er eines Tages verheiraten wollen, hat aber gesagt, der Sohn solle eine Frau nach seinen eigenen Wünschen wählen. Der Sohn des Melik hat kein Mädchen gefunden, das ihm gefallen hat; er fand überhaupt nichts an den Frauen, und darüber wurde der Melik so unwillig, daß er eines Tages seinen Sohn in einen Turm, der von der Welt abgelegen ist, einschließen ließ. Da ereignete es sich aber, daß der Sohn des Melik eines Morgens mit einem fremden Ring am



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Finger erwachte und das Mädchen zur Gattin verlangte, von dem er nachts den Ring eingetauscht hatte. Nun war aber niemand in dieser Nacht in dem Turm als der Sohn des Melik und sein Wachtdiener. Der Sohn des Melik ist aber seither trübsinnig, spricht kein Wort, ißt und trinkt nichts und schwindet hin. Da er nun ebenso schön wie liebenswürdig ist, hat das den Melik und die ganze Stadt in tiefe Trauer versetzt. Der Melik hat einen Wasserlauf mit Palmen und Blumen am Hause des kranken Sohnes ausbauen und anpflanzen lassen, um seinen Sinn durch den fröhlichen Anblick zu erfrischen. Der Melik läßt ihn alle Kostbarkeiten und seltenen Tiere aller Länder sehen. Der Melik hat Ärzte rufen lassen, und viele, viele kamen. Aber keiner kann den trübsinnigen Sohn aufheitern. Er sitzt ununterbrochen über seinen Ring gebeugt und starrt ihn an, und seitdem der Melik auch noch jeden Arzt, der sein Heil vergeblich an dem Kranken versucht, hinrichten läßt, wagt sich auch niemand außer dem Amir (Wesir) in die Nähe des Palastes. Sieh, Fremder, das ist es, was uns alle so traurig macht, daß keiner von uns mehr Freude am Leben findet, und jeder es noch für das beste hielte, wenn der schöne Jüngling weggerafft würde, statt in solcher Umnachtung einherzutasten."

Der Sohn der Murda fragte nach der Richtung, in der der Kanal für den Meliksohn angelegt sei, bezahlte seinen Kaffee und ging. Der Sohn der Murda ging an den Kanal, den der Melik für seinen Sohn angelegt hatte; er sprang hinein und schwamm bis vor das Serail. Auf der Treppe des Palastes war gerade der Melik, seine Gattin, der Amir (Wesir) und andere versammelt. Als der Sohn der Murda den andern nahe genug war, begann er im Wasser zu schreien. Er jammerte und schrie: "Helft! Helft! Ich ertrinke!" Der Melik fragte: "Ist das ein fremder Bursche?" Die Sklaven antworteten: "Ja, es ist ein Fremder!" Der Melik sagte: "Laßt ihn ertrinken!" Der Melik wollte die Sache nicht mehr sehen. Der Amir trat aber zu ihm und sagte: "Verzeiht, Herr! Die Sache mit diesem Mann ist eigentümlich! Wie, wenn er deinem Sohn helfen könnte? Noch niemals ist jemand auf diesem Wege zu deinem Palaste gekommen. Herr, ich bitte dich, laß den Mann retten." Der Melik sagte: "Sende dann ein Boot hinaus und laß ihm helfen."

Der Amir sandte schnell ein Boot vom Ufer ab. Der Sohn der Murda wurde aus dem Wasser gezogen und hineingehoben. Er wurde an Land gebracht, und der Amir sagte: "Nun gehe schnell durch den Palastgang von dannen; sieh nicht rechts und links;



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es könnte dich sonst doch noch das Leben kosten." Dei Sohn der Murda sagte: "Weshalb solle es mir das Leben kosten? Ich tue doch nichts Schlechtes. Und wenn mich der Melik aus dem Wasser hat retten lassen, so wird er mich doch hier nicht in seinem Palast töten lassen!" Der Amir sagte: "Du weißt, daß der Sohn des Sultans schwer krank und trübsinnig ist, und daß jeder Arzt oder wer sonst nach seinem Zustande sieht, getötet wird - es sei denn, daß er den Sohn des Sultans heilen könne, was noch niemand gelang."

Der Sohn der Murda sagte: "Weshalb soll es denn mir nicht gelingen?" Der Amir sagte: "Bist du denn Arzt?" Der Sohn der Murda sagte: "Ja, ich bin Arzt, und die Behandlung des Trübsinns ist meine besondere Kenntnis." Der Amir sagte: "Du bist noch so jung und willst schon dieses Schwierigste vermögen?" Der Sohn der Murda sagte: "Ja." Der Amir sagte: "Du bist noch so jung und willst dich dieser Gefahr, vom Melik getötet zu werden, aussetzen?" Der Sohn der Murda sagte: "Ja." Der Amir sagte: "Dann komm mit mir."

Der Amir führte den Sohn der Murda in den Raum, in dem der Sohn des Melik war. Der Sohn des Melik saß auf dem Angareb und blickte auf den Ring. Der Sohn der Murda sah den Ring in der Hand des Trübsinnigen. Der Sohn der Murda sah, daß dies der Ring seiner (Milch-) Schwester war. Der Sohn der Murda sagte: "Herr, ich bitte dich, laß mich mit dem schönen Jüngling einige Stunden allein." Der Amir ging hinaus und ließ den fremden Burschen mit dem Sohn des Melik allein.

Der Sohn der Murda ging langsam und schweigend zu dem Sohne des Melik. Er setzte sich neben jenen auf das Angareb. Er zog den Ring seiner Schwester aus der Tasche und begann ihn zu betrachten. Er hielt ihn dann vergleichend und ohne ein Wort zu sagen neben den Ring, auf den der Sohn des Melik sah. Die Blicke des Prinzen fielen auf den Ring. Der Sohn des Melik fuhr auf. Der Sohn des Melik sagte: "Das ist mein Ring! Wo hast du diesen Ring her?!" Der Sohn der Murda sagte: "Und du hast den Ring meiner Schwester. Wo hast du den Ring her?" Der Sohn des Melik sagte: "Schnell, mein Freund, sage mir: lebt deine Schwester ?" Der Sohn der Murda sagte: "Meine Schwester lebt. Sie lebt aber nur von der Hoffnung, dich wiederzusehen, und sie hat mich ausgesandt, ihren Ring und dich zu suchen." Der Prinz sagte: "Komm, mein Freund, wir wollen sogleich hingehen!"

Der Sohn der Murda sagte aber: "Mein Freund, so wird es nicht



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gehen. Du bist schwach, weil du lange nichts gegessen hast, und kannst den weiten Weg nicht zurücklegen. Dein Vater wird dir auch nicht die Erlaubnis geben, in diesem Zustande eine so weite Reise anzutreten, und deshalb bitte ich dich, meine Ratschläge zu befolgen und alles zu tun, was ich dir vorschlage. Denn ich tue das nicht nur für dich, ich tue es vielmehr für meine Milchschwester, die auch krank ist wie du, und die nur gesunden wird, wenn sie dich wiedersieht. Es muß mir, der ich um dieser Sache willen diese lange Reise angetreten habe, daran liegen, dich gesund und kräftig zu ihr zu bringen, und deshalb kannst du mir glauben, daß ich nichts anordnen werde, was nicht zu deinem wie meiner Schwester Besten ist. Willst du mir glauben?" Der Prinz fiel nach dieser Rede dem Sohn der Murda um den Hals und sagte: "Oh, ich sehe, daß du der beste Freund, den ich bisher traf, und mein Erretter bist. Ich will mich also mit Geduld in alles fügen, was du anordnest."

Der Sohn der Murda sagte: "Ich danke dir für dein Vertrauen. Vor allem wollen wir dafür sorgen, daß du kräftiger wirst und dich wieder an Speise und Trank gewöhnst. Auch ich habe seit gestern nichts genossen, und so wollen wir uns einige Speisen kommen lassen. Während des Essens, das heißt während die Sklaven uns aufwarten, wollen wir von all dem nichts sprechen, damit wir unsere Wege ungestört gehen können. Nachher werden wir alles andere ordnen. Ist es dir so recht?" Der Prinz sagte: "Es ist mir sehr recht, und nun, wo ich so gute Nachricht habe, verspüre ich selbst wieder Lust nach einem guten Mahle!"

Der Sohn der Murda ging an die Türe, öffnete sie und trat heraus. Draußen saß der Amir noch auf einem Teppich. Der Sohn der Murda sagte zum Amir: "Der Sohn des Melik wünscht mit mir zu speisen. Sorge bitte, daß uns ein gutes Mahl, aber ein Mahl aus lauter leicht verdaulichen Speisen aufgetragen werde, denn der Magen des Prinzen ist durch das lange Fasten geschwächt." Der Amir rief: "Was sagst du? Der Sohn des Melik will speisen?" Der Sohn der Murda sagte: "Gewiß, er will speisen. Und nach dem Essen bringt uns auch einen guten und leichten Wein." Der Amir sagte: "Was ist das? Was ist das?" Der Sohn der Murda lachte und sagte: "Ordne das nur an. Während wir speisen, könnt ihr durch die Türe hereinsehen und könnt dann selbst euch mit eigenen Augen davon überzeugen, daß der Sohn des Melik sein Wesen ganz geändert hat."

Der Amir lief zum Melik und sagte: "Herr, dein Sohn will speisen



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und Wein trinken." Der Melik sagte: "Wie kommt das?" Der Amir sagte: "Der Bursche, den wir aus dem Wasser retteten, ist ein Arzt, der danach verlangte, deinen Sohn zu sehen. Er war nur kurze Zeit bei ihm, dann kam er und verlangte das Mahl!" Der Melik sagte: "Ich kann das noch nicht glauben. Sieh selbst zu, ob das alles richtig gehe!" — Der Amir lief weg. Der Amir sagte bei sich: "Dieser Arzt ist auf eine andere Weise als die andern Ärzte zu uns gekommen. Deshalb glaube ich, daß er leichter Erfolg haben kann als die andern." Der Amir lief hin und bestellte das Mahl. Das Mahl ward bereitet.

Die Speisen wurden auf einer reich geschmückten Platte in den Raum gebracht, in dem sich der Prinz mit dem Sohn der Murda befand. Der Amir sagte zu den Sklaven: "Wenn ihr bedienend aus- und eingeht, laßt die Türe ein wenig offen, so daß man sehen kann, was darin geschieht!" Die Diener taten es. Der Amir sah in den Raum. Da sah er, daß der Prinz mit gutem Appetit in die Speiseschüsseln griff und aß. Der Amir sandte einen Sklaven zum Melik und ließ ihn bitten zu kommen und zu sehen, wie sein Sohn wieder esse. Der Melik wollte es nicht glauben. Er kam aber doch und trat zu dem Amir, und da sah er, daß der Prinz mit gutem Appetit in die Speisen griff und aß. Der Melik schlug die Hände zusammen, schüttelte den Kopf und sagte: "Mein Sohn ißt! Mein Sohn ißt!"

Nachdem sie gegessen hatten, ließ der Sohn der Murda die Speisen abtragen und einen leichten Wein und zwei Becher bringen. Bis dahin hatten der Prinz und der Sohn der Murda nichts gesprochen. Nun begann der Sohn der Murda aber Erlebnisse von seinen Wanderungen und denen anderer Leute zu erzählen. Er wußte das mit froher Laune zu berichten, und nachdem der Prinz eine Zeitlang zugehört und sich in die Weise seines neuen Freundes hineingefunden hatte, begann er vor Fröhlichkeit laut zu lachen. Das hörten und sahen aber der Melik und der Amir, die draußen standen und durch die Türspalte hereinschauten. Und als der Prinz immer lauter und fröhlicher lachte, fiel der Melik seinem Amir um den Hals und weinte Tränen der Freude.

Einige Zeit nachher sagte der Sohn der Murda: "Mein Freund, für heute ist es genug. Lege dich nun hin und schlafe, damit du Kraft und weitere Gesundheit gewinnst. Ich aber will hinausgehen und mich nach einem Platze für die Nacht umsehen." Da erschrak der Prinz und sagte: "Mein Freund, ich bitte dich, tue mir das nicht. Ich will noch ein besseres Angareb hereinbringen lassen; darauf



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lege dich und schlafe bei mir!" Der Sohn der Murda sagte: "Es ist mir recht; ich bleibe auch am liebsten in deiner Nähe." Danach ließ der Prinz noch ein anderes Angareb hereinbringen, dann legten sich beide nieder und ließen die Sklaven die Türe schließen.

Einige Zeit nachdem die Diener die Tür geschlossen hatten, sagte der Prinz: "Mein Freund, ich bitte dich, erzähle mir nur noch ein wenig von deiner Schwester und von dir selbst. Dann will ich auch schlafen." Der andere sagte: "Das will ich gern tun und will bei mir beginnen. Ich bin der einzige Sohn einer guten Frau, die in der Zeit, da die Gattin unseres Melik in der Hoffnung war, mit mir schwanger ging. Die Gattin des Melik und meine Mutter wurden gleichzeitig entbunden, und als die Gattin des Melik gleich darauf starb, ward meine Mutter die Amme der Tochter des Melik. Diese Prinzessin nun erlebte ein Schicksal, das genau dem deinen entspricht. Als sie keinen geeigneten Gatten fand, ließ ihr Vater sie in den Turm bringen, in dem sie dann eines Nachts dich sah, wie du sie hier erblicktest. Als sie am andern Morgen erwachte, war der Ring an ihrem Finger vertauscht, und als niemand imstande war, diese Sache aufzuklären, verfiel sie in Krankheit. Ich aber entschloß mich, dich zu suchen, und du weißt, wie ich zu dir gekommen bin." Der Prinz sagte: "Ich danke dir!" Und danach fiel er in Schlaf.

Als der Prinz am andern Morgen erwachte, fühlte er sich schon viel kräftiger und sehr glücklich. Er verabredete nun mit seinem Freunde, daß sie noch einige Zeit der Kräftigung abwarten und dann im geheimen die Reise nach dem Lande der Prinzessin antreten wollten. Der Sohn des Melik sorgte nun aufmerksam für sein körperliches Wohlbefinden, von dem der Sohn der Murda den Zeitpunkt der Abreise abhängig gemacht hatte. Er sprach in dieser Zeit mit niemandem als mit dem Sohne der Murda und weigerte sich auch, seinen Vater, den Melik, zu sehen. Er hielt so alle unnötigen Frager fern und erklärte eines Tages seinem Freunde, stark genug zu sein, um die Anstrengungen der weiten und beschwerlichen Reise zu ertragen.

Der Sohn der Murda begab sich hierauf zum Melik, der ihn in ehrenhafter und aufmerksamer Weise empfing, der ihm für das, was er an seinem Sohne schon bewirkt hatte, dankte und fragte, was er nun weiter für gut erachte, um die Genesung bis zu Ende zu führen. Der Sohn der Murda sagte: "Dein Sohn hat seit einigen Tagen den Wunsch geäußert, in altgewohnter Art wieder einmal auf



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die Jagd auszureiten. Ich halte ihn nun nicht nur für kräftig genug, eine solche Unternehmung zu ertragen, sondern glaube auch, daß diese Abwechslung das Fortschreiten der Genesung nur fördern kann. Natürlich wird es gut sein, wenn ich seinem Wunsche gemäß ihn begleite, und somit bitte ich dich, uns für vierzehn Tage Soldaten als Wachen und Lasttiere und Zelte, nebst allem, was zu einem Jagdausflug in die Wüste gehört, zur Verfügung zu stellen." Der Melik war durch diese Anzeichen fortschreitender Besserung nur erfreut und erklärte sich zu allem bereit.

Am andern Morgen war schon alles hergerichtet, und der Melik sah mit dem Amir vom Dache des Gasr aus zu, wie der Prinz an der Seite seines neuen Freundes und an der Spitze der Reiter in die Wüste hinausritt. Der Sohn des Melik ritt nun mit dem Sohn der Murda weit hinaus in die Wüste, bis sie nach mehreren Tagen an die Grenze des Landes kamen. Sie jagten hier und da, hatten auch sonst allerhand Spiele angeordnet, führten einen guten Koch mit sich und genossen somit ein angenehmes Leben, bei dem sich der Sohn des Melik vorzüglich erholte. Als sie nun eines Nachts an der Grenze des Landes übernachteten und alle Leute und auch die Reiter in tiefem Schlafe lagen, weckte der Sohn der Murda den Sohn des Melik und sagte: "Wach auf! Es ist Zeit, daß wir die Reise zu meiner Schwester antreten. Wir wollen einfache Kleider anziehen und den Schlaf der Wächter dazu benutzen zu entweichen." Die beiden jungen Leute erhoben sich. Der Sohn der Murda ging hinaus, erlegte ein vorüberspringendes Kaninchen mit dem Speer und rieb dann seine und des Prinzen Kleider mit dessen Blute ein. Er warf die Kleider im Kreise umher, zertrat den Boden, so daß es aussah, als ob ein Kampf hier stattgefunden habe, und eilte mit dem Prinzen der Grenze des Landes zu von dannen.

Als die Wächter am andern Morgen erwachten, erschraken sie sehr beim Anblick der blutigen Kleider und leeren Angarebs ihrer Herren. Sie sahen den zertretenen Boden und meinten nun nicht anders, als irgendwelche feindlichen Menschen oder Tiere hätten den Prinzen und seinen Freund ermordet und weggeschleppt, und nachdem sie noch einige Tage gewartet und die Gegend abgesucht hatten, kehrten sie mit den blutigen Kleidern sehr niedergedrückt in die Heimat zurück. Der Melik war von der Nachricht, die ihn plötzlich traf und alle seine Hoffnungen völlig vernichtete, tief erschüttert und mit ihm das ganze Land. Je größer allenthalben die Freude bei den Nachrichten über das Aufwachen des Prinzen aus



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seiner Krankheit gewesen war, desto schlimmer war der Schrecken, der sich aller bei Ausbreitung der Nachricht bemächtigte. Aber niemand konnte an diesem Tatbestand etwas ändern. Der Melik ließ die schläfrigen Wachen gefangen setzen und verhängte das Todesurteil über sie, aber damit war auch nichts erreicht. Alle Welt glaubte, der Prinz und sein Freund seien getötet.



***
Inzwischen eilte der Sohn der Murda schnell mit seinem Freunde über die Grenze und durch andere Länder von dannen, der Heimat der Prinzessin entgegen. Sie benötigten trotz aller Eile, mit der sie die Sache betrieben, mehrere Monate, bis sie endlich anlangten. Der Sohn der Murda brachte den Prinzen in das Haus seiner Mutter, die über seine Rückkehr um so glücklicher war, als sie in dem Antlitz des schönen Begleiters ihres Sohnes sogleich alle Merkmale jenes Jünglings erkannte, die die Tochter des Melik ihr geschildert hatte. Am andern Tag zog der Sohn sogleich wieder Frauenkleider an und begab sich in den Turm zu der Prinzessin. Die Tochter des Melik sah den verkleideten Sohn der Murda und schrie auf. Die Prinzessin sagte: "Mein Bruder, du hast mir das Versprechen abgenommen, daß ich bis zu deiner Rückkehr noch am Leben bleiben solle. Du bist fortgegangen, um den schönen Jüngling zu suchen, dem der Ring gehört. Sage mir schnell, ob du ihn gefunden hast oder nicht!"

Der Sohn der Murda öffnete die Hand, in der er die beiden Ringe hielt. Die Tochter des Melik schrie wieder auf. Sie rief: "Du hast ihn gefunden! Wo ist er?" Der Sohn der Murda sagte: "Ja, meine Schwester, ich habe den schönen Jüngling gefunden; er ist der Sohn eines Melik. Als ich ihn fand, war er abgehärmt wie du es noch jetzt bist. Er wird in wenigen Tagen ankommen. Sorge nun dafür, daß du bis dahin auch wieder kräftiger bist und daß du dich erholst. Denn er ist ein so schöner Jüngling, daß nur eine ebenso schöne Gattin seiner würdig ist. Wie du nun aber schnell zu Kräften kommst, das will ich mit meiner Mutter, deiner Murda, besprechen." Damit nahm er von seiner Milchschwester Abschied und kehrte zu dem Haus seiner Mutter zurück, die die Pflege des schönen Mädchens übernahm.

Der Sohn der Murda ging hierauf zum Melik. Der Melik empfing ihn und sagte: "Was wünschest du? Du bist der Sohn der Murda meiner Tochter, sage mir, was du für Wünsche hast." Der Sohn der Murda sagte: "Verzeihe mir, Herr, wenn ich eine Frage wage."



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Der Melik sagte: "Du bist der Sohn der Murda meiner Tochter; du darfst manches fragen, was ein anderer nicht dürfte." Der Sohn der Murda sagte: "Du hast deiner Tochter früher gestattet, einen Gatten nach eigener Wahl zu nehmen. Würdest du das heute noch erlauben?" Der Melik zog die Stirn in Falten und sagte: "Meine Tochter hat im Laufe der Zeit ihre Gesundheit verloren." Der Sohn der Murda sagte: "Deine Tochter hat sie wiedergefunden." Der Melik sagte: "Was sagst du?" Der Sohn der Murda sagte: "Deine Tochter hat ihre Gesundheit wiedergefunden. Du kannst sie selbst sehen. Geh aber noch nicht zu ihr herein, sondern blicke nur durch die halbgeöffnete Tür." Der Melik sagte: "Ich komme sogleich mit dir."

Der Melik ging mit dem Sohn der Murda hinüber zu dem Turme, in dem seine Tochter wohnte. Er blickte durch die halbgeöffnete Tür. Da sah er, wie seine Tochter mit der Murda speiste und zwischendurch laut und fröhlich lachte. Der Melik ging leise, wie er gekommen war, hinaus und fragte den Sohn der Murda: "Nun sage mir schnell, wer diese Wandlung erreicht hat und wie sie eintrat." Der Sohn der Murde sagte: "Niemand kannte den, den deine Tochter zuletzt doch noch zum Gatten gewählt hatte. Ich bin dann auf die Wanderschaft gegangen, habe ihn gesucht, gefunden und mitgebracht. Es ist der Sohn eines mächtigen Melik. Deine Tochter hat ihn noch nicht wiedergesehen, denn sie muß erst ihre alte Gesundheit wiedergewinnen. Dann aber bitte ich dich, ihre Hochzeit vorzubereiten."

Der Melik bereitete ein großes Fest vor. Mit vielen Lampen und Lichtern ward eines Nachts der große Rasenplatz im Garten des Melik erhellt. Allenthalben waren Blumen aufgestellt, die ihren Duft weithin verbreiteten. In der Mitte des Kreises saß der Melik auf einem reichen Teppich. Unter den Lichtern des Kreises hatten alle Angesehenen und Vornehmen des Landes Platz genommen, und nur zur Rechten und Linken des Melik an entgegengesetzten Seiten hatte man einen Torbogen freigelassen, durch welchen der Prinz und die Prinzessin auf ihren Pferden mit ihrem Gefolge hineinkommen sollten. Alle Leute wußten aber, daß beide seit jener Nacht, in der ihre Ringe gewechselt waren, einander nicht wiedergesehen hatten.

Der Melik wartete, bis alle Angesehenen sich im Kreise gelagert hatten. Der Melik gab ein Zeichen, daß alle schweigen sollten. Dann erhob er sich. Darauf kamen zu den beiden Pforten die Kinder



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der Melik hinein, zur einen der Prinz, zur andern die Prinzessin. Sie kamen in der Mitte zusammen. Sie wurden von den Pferden gehoben. Sie sahen sich an, und beide begannen zu weinen. Niemand sprach, aber alle dachten: "Zwei schönere Menschen hat es auf der Erde noch nicht gegeben." Der Melik aber schloß sie in seine Arme.


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