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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


13. Vogel, Pferd, Büchse*

Ein Melik hatte einen Garten (Djinena), in dem wuchs eines Tages ein sehr schöner Baum, den niemand kannte. Als er nun hoch genug gewachsen war, trug er auch Früchte. Diese sieben Früchte waren ähnlich der Mischmisch (Aprikose). Es waren aber keine Aprikosen, denn sie waren aus Gold. Der Melik betrachtete die heranreifenden Früchte alle Tage und freute sich an ihnen. Als sie nun nahezu reif waren, rief er alle seine großen Leute zusammen und führte sie in den Garten unter den Baum und fragte sie, ob einer von ihnen bisher diese Baumart oder solche Früchte gesehen habe, und alle antworteten: "Nein, solche Früchte haben wir noch nie gesehen. Dieser Baum ist in diesem Lande neu!"

Darauf freute sich der König denn noch mehr über seine schönen Früchte. Als er aber am andern Tag in seinen Garten trat, um sie zu beschauen, da sah er, daß nachts ein Vogel gekommen war und eine Frucht gestohlen hatte. Darüber ward der König nun sehr böse



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und traurig. Am andern und dem darauf folgenden Tage wuchs aber seine Traurigkeit immer mehr, denn der fremde Vogel stahl, trotz aller Aufsicht und Fürsorge, in der zweiten Nacht eine zweite, in der dritten Nacht eine dritte und in der vierten eine vierte Frucht, so daß am fünften Tage nur noch drei von den schönen Früchten übrig blieben. Als der jüngste der drei Söhne, die der Melik hatte, nun sah, wie sein Vater über diese Vorgänge einen großen Schmerz empfand, sagte er: "Mein Vater, erlaube mir bitte, daß ich in der nächsten Nacht unter dem Baum wache, damit ich wenigstens sehen kann, was für ein Vogel es ist, dem es trotz aller Fürsorge und Obacht gelingt, immer wieder eine dieser kostbaren Früchte abzupflücken und fortzutragen." Der Melik sagte: "Es ist recht, mein Sohn, tue das und sieh zu, dieser Sache ein Ende zu bereiten."

Am Abend setzte sich also der Sohn des Melik unter den Baum nieder und wartete auf den Vogel. Zwar befiel ihn bald eine große Müdigkeit; er trotzte ihr aber standhaft, und so nahm er wahr, daß in der vollen Dunkelheit ein Vogel herankam. Als der Vogel nun die Frucht abpickte, sprang der Sohn des Melik auf ihn zu und packte ihn so schnell und stark wie möglich bei den Federn. Der Vogel suchte sich loszureißen. Der Sohn des Melik hielt aber so fest, daß der Vogel nicht anders entrinnen konnte, als daß er sich von den gepackten Federn losriß und so, arg gerupft, seine Beute forttrug.

Der Sohn des Melik ging mit den Federn am andern Tage zu seinem Vater und zeigte sie diesem. Der Melik besah die Federn und sagte: "Einen Vogel mit solchen Federn habe ich noch nicht gesehen." Er rief seine angesehenen Leute zusammen, und diese ließen untereinander die Federn von Hand zu Hand gehen. Ein jeder schüttelte aber den Kopf, gab die Federn dem Nächsten und sagte ebenfalls: "Einen Vogel mit solchen Federn habe ich noch nicht gesehen." Darauf sagte der Melik: "Ich möchte diesen Vogel wohl einmal sehen."

Nun kam der jüngste Sohn des Melik heran und sagte: "Mein Vater, ich bitte dich, mir die Erlaubnis zu geben, den Spuren dieses Vogels zu folgen. Denn da ich stark an den Federn des Diebes gerissen habe, wird er auf seinem Wege noch mehr Federn und auch wohl einige Blutstropfen verloren haben, die mir angeben können, wo ich ihn finde." Der König war mit diesem Vorschlage seines jüngsten Sohnes sehr einverstanden, und als die andern beiden ältern Söhne sahen, welche Freude er damit seinem Vater bereitete,



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erklärten sie sich bereit, ihren Bruder zu begleiten; denn jeder von ihnen wollte gern König werden, und der Melik hatte noch keinen Thronfolger unter seinen Söhnen bestimmt.

Die drei Söhne des Melik machten sich also gemeinsam auf den Weg und ritten in der Richtung von dannen, in der der jüngste den Vogel hatte wegfliegen sehen. Wie vorausgesagt, trafen sie von Zeit zu Zeit auch auf eine Feder oder einen Blutstropfen und behielten so ohne Mühe den Weg des Räubers bei. Das währte aber so lange, bis sie nach weitem Ritte an ein großes Tor kamen, von dem aus der eingeschlagene Weg sich in drei Arme spaltete. Am Tore aber war vor jedem Wegarme eine Beschreibung dessen angebracht, was man auf ihm erleben würde. Von dem Wege, der nach rechts hin abbog, hieß es da, jeder, der ihn beschritte, müsse sterben. Von dem Wege, der in der Mitte gerade aus weglief, war angegeben, jeder, der auf ihm dahinritt, würde sein Pferd verlieren. Von dem Wege, der nach links hin abzweigte, war gesagt, daß er zu den Sacht (dem Riesenvolk, das in den alten Tumulis begraben ist), zum Gräbervolke, führe.

Als die ältern zwei Brüder das lasen, sagten sie: "Dieses ist keine Unternehmung für uns; wir kehren nach Hause zurück, denn hier steht nichts davon, daß wir zu dem Orte des Vogels kämen." Der Jüngste aber sagte: "Ich kehre nicht um, denn ich habe meinem Vater versprochen, mich nach dem Vogel umzusehen. Was schadet es mir dann, wenn ich auch mein Pferd verliere und zu Fuß weiterwandern muß! Ich werde also auf dem mittelsten Wege weiterreiten." Der Jüngste nahm von seinen Brüdern Abschied und ritt auf dem mittelsten Weg von dannen. Die ältern Brüder aber sagten untereinander: "Wir wollen hier abwarten, was mit unserm jüngsten Bruder wird." Sie blieben also an dem Tore, und da dort ein Brunnen war, sattelten sie ihre Pferde ab und machten es sich bequem.

Der jüngste Königssohn ritt inzwischen auf dem mittelsten Weg hin. Er war noch nicht sehr weit von dem Tore, da kam ein Aldjann und riß ihm unversehens sein Pferd weg, so daß er nun zu Fuß weiterwandern mußte. Er war noch nicht sehr weit gegangen, da kam er an einen Sakhir. Er ließ sich da nieder, trank und erfrischte sich und nahm den Marsch wieder auf. Er sagte bei sich: "Getrunken habe ich nun. Ich verspüre aber einen rechten Hunger." Derweilen hatte der Aldjann aber das Pferd aufgegessen und lief



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nun dem Jüngsten nach. Er redete den Sohn des Melik an und sagte: "Verzeihe mir, daß ich dich so ungastlich begrüßt habe. Zwei Jahre lang hatte ich aber keines dieser Tiere, die meine Hauptnahrung sind, erhalten, und ich wäre deshalb sicher gestorben, wenn du nicht jetzt gekommen wärst. Deinem Kommen verdanke ich also das Leben, und deshalb bitte ich dich, meine unwirsche erste Begrüßung zu vergessen und mit mir Freundschaft zu schließen."

Der Königssohn war hiermit sehr einverstanden und sagte: "Mein Pferd habe ich dir sehr gern gegeben, denn mir macht es nichts aus, ob ich reite oder zu Fuß gehe, und wenn ich dir mit Hingabe meines Pferdes ein so großes Geschenk gemacht habe, so bedaure ich nur, daß ich nicht deren zwei bei mir habe, damit du dich noch weiter daran gütlich tun kannst." Der Aldjann sagte: "Ich danke dir sehr für deine freundliche Gesinnung. Nun bin ich um so eher bereit, dir bei deiner Unternehmung zu helfen; denn nur wer etwas ganz Besonderes vorhat, kommt auf diesem Wege. Sage mir also, was du suchst und glaube mir, daß ich sowohl den Willen als die Macht habe, dich zu unterstützen."

Der Königssohn sagte: "Ich bin der Sohn eines Königs, in dessen Garten sehr schöne Früchte wuchsen. Es kam aber allnächtlich ein Vogel und stahl eine von ihnen. Zuletzt hielt ich Wache und riß ihm diese Federn aus. Ich folgte ihm und bin so hierher gekommen. Nun gebe ich mich der Hoffnung hin, diesen Vogel fangen und meinem Vater bringen zu können." Der Aldjann betrachtete die Federn, die der Königssohn ihm zeigte und sagte: "Gewiß kenne ich den Vogel. Er wohnt hier ganz nahe in dem Garten eines Königs, der ihn bewacht. Der Vogel ist nicht schwer zu greifen; nur darf der, der ihn fassen will, nicht in dem Garten sprechen. Ich will dir also den Weg nach dem Garten zeigen. Du mußt dir aber merken, daß du, solange du darin weilst, kein Wort reden darfst." Der Königssohn sagte: "Dieses ist nicht schwer. Zeige mir nur den Weg."

Der Aldjann brachte den Königssohn also zu dem Garten. Der Sohn des Melik trat hinein. Sobald er aber einige Schritte weit gegangen war, sah er auch schon den Vogel, dem er die Federn ausgerissen hatte, auf einem Aste schlafend sitzen, und vor Freude über das Wiedersehen sagte er vor sich hin: "Das ist mein Vogel!" Kaum aber hatte der Königssohn diese Worte gesagt, da erwachte der Vogel und fing beim Anblick des Königssohnes laut an zu schreien. Sogleich tauchten auf allen Seiten Wächter und Soldaten des Königs



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auf, nahmen den unvorsichtigen jungen Mann gefangen und brachten ihn zu ihrem Herrn.

Der König sah den fremden Jüngling sehr böse an und sagte: "Wie kannst du dich unterstehen, in diebischer Absicht in meinen Garten zu kommen. Ich kann nicht anders; ich will dich töten lassen!" Der junge Mann sagte: "Ich bin kein Dieb, sondern ich bin der Sohn eines Königs, in dessen Garten dein Vogel jede Nacht eine wertvolle Frucht abgepflückt hatte. Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht, den diebischen Vogel zu töten. Sieh, hier sind die Federn, die ich dem Dieb im Garten meines Vaters ausgerissen habe." Der König sagte: "Wenn es so ist, so will ich dir die Möglichkeit geben, dein Leben zu retten und für deinen Vater den Vogel zu gewinnen. Höre mich: hier in der Nähe wohnt ein König, der hat ein Pferd, dem man nur einige Mähnenhaare auszureißen und diese zwischen den Handflächen zu reiben braucht, um so das Pferd herbeizurufen oder es weit fort zu bringen. Wenn es dir gelingt, mir dieses Pferd herbeizubringen, so will ich dir das Leben und den Vogel schenken. Gelingt dir aber dieses nicht, so mußt du sterben." Der Königssohn sagte: "Ich will es versuchen, dir das Pferd zu bringen." Dann ging der Königssohn von dannen.

Als der Königssohn aus dem Garten kam, traf er draußen seinen Freund, den Aldjann. Der Aldjann begrüßte ihn und sagte: "Wie ist es dir ergangen? Wo hast du denn den Vogel?" Der Königssohn sagte: "Ach, es ist mir schlecht gegangen. Ich hatte den Garten kaum betreten, da sah ich auch schon den Vogel, und da vergaß ich mich und sagte: ,Das ist mein Vogel!' Darauf erwachte nun der Vogel und fing an zu schreien, und sogleich kamen Wächter und Soldaten und schleppten mich zu dem König. Der König aber entschied, daß ich sterben müsse, und er will mir das Leben und den Papagei nur schenken, wenn ich ihm ein Pferd bringe, das einem andern König gehört und das die Eigenart hat zu erscheinen und zu verschwinden, wenn man einige seiner Mähnenhaare zwischen den Handflächen hin und her reibt." Der Aldjann wurde hierauf ärgerlich und sagte: "Habe ich dir nicht vorher gesagt, du dürftest nicht reden? Konntest du nicht so lange schweigen, bis du den Vogel hier draußen hattest? —Nun, das mit dem Pferd läßt sich machen. Folge aber genau allem, was ich dir sage!" Der Königssohn versprach das, und dann machten sich beide auf den Weg.

Als sie nun in die Nähe des andern Königsgartens gekommen waren, sagte der Aldjann: "Nun achte genau auf das, was ich dir



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sage! Wenn du hier noch ein Stück weit gerade aus gehst, kommst du an den bewußten Königsgarten. Am Tore sitzt ein großer Gui. Dieser Gui schläft aber, wie alle andern Leute dort. Du kannst also getrost hinein und bis zu dem Pferd gehen, welches an einem Strick im Staue angebunden ist. Diesen Strick darfst du nicht losbinden, sondern du mußt drei Haare aus der Mähne des Pferdes reißen, mußt dich auf das Pferd setzen, mußt die Haare zwischen den Handflächen reiben und sagen, wo du hinwillst. Vergiß dies nicht und binde vor allen Dingen das Halfter nicht ab!" Der Königssohn versprach dem Aldjann, ihm in allem folgen zu wollen und machte sich sogleich auf den Weg, die kurze Entfernung zum Königsgarten so schnell als möglich zurückzulegen.

Als der Sohn des Melik an den Königsgarten kam, sah er richtig, wie angekündigt, den Gui. Der Gui schlief aber, und ebenso schlief alles andere im Garten und in den Gebäuden. Der Sohn des Melik konnte also ungestört überall umhergehen und sich an all den schönen Blumen und Früchten erfreuen, die in dem Garten waren. Zuletzt kam er zu dem Stall, in dem das Pferd angebunden war. Der Königssohn sah aber, daß es mit einem sehr dicken Strick festgebunden war, und er sagte: "Es ist gar nicht möglich, daß das Pferd von hier fort kommt, solange es so angebunden ist. Ich werde den Strick so leise abbinden, daß niemand es hören kann." Damit machte der Königssohn sich also an diese Arbeit.

Kaum aber hatte der Königssohn den Strick berührt, an dem das Pferd festgebunden war, so begann es laut zu wiehern, und das hatte zur Folge, daß der Gui am Gartentor und alles andere Volk erwachte, und daß die Wächter und Soldaten des Königs auf den Königssohn zusprangen und ihn gefangen nahmen. Die Wächter und Soldaten schleppten den Sohn des Melik sogleich zu ihrem König; der war aber sehr zornig und schrie den Jüngling an: "Wie kannst du, junger Dieb, es wagen, in meinen Garten und meinem Pferde nahe zu kommen! Ich werde dich sogleich töten lassen!" Der Sohn des Melik sagte: "Ich bin kein Dieb, sondern der Sohn eines Königs, und ich bin nur hierher gesandt, weil ein Vogel in meines Vaters Garten wertvolle Früchte stahl, und weil der Besitzer des Vogels mir diesen nur geben wollte, wenn ich ihm dein Pferd brächte!" Als der König dies hörte, beruhigte er sich ein wenig und sagte: "Höre, mein Bursche, du verdienst trotzalledem eigentlich den Tod. Ich will dir aber das Leben und obendrein das Pferd schenken, wenn du mir die Büchse bringst, in der ein anderer König seine ganze



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Dienerschaft und alle seine Trommler und Trompeter verborgen hält. Bringst du mir die, so magst du am Leben bleiben. Bringst du sie mir nicht, so bleibt dir nur die Wahl, ob du durch Schlag, Tritt oder Wurf getötet werden willst!" Der Jüngling sagte: "Ich will sehen, ob ich dir die Büchse bringen kann." Dann ging der Sohn des Melik wieder aus dem Garten.

Bald nachdem er aus dem Garten gegangen war, traf der Königssohn auf den befreundeten Aldjann, und der sagte: "Wie geht es dir? Warum hast du solange Zeit gebraucht? Wo hast du das Pferd?" Der Sohn des Melik sagte: "Mein Freund, mit dem Pferd war das eine schlimme Sache. Es war an ein ganz dickes Tau gebunden, das ich unbedingt lösen mußte. Als ich das aber tat, begann es zu wiehern und weckte damit alle Leute. Ich wurde also gefangen genommen und zum König geführt. Der König ließ mich aber nur unter der Bedingung frei, daß ich ihm eine kleine Büchse bringe, in der ein anderer König alle seine Diener, seine Trommler und Trompeter eingeschlossen hat. Nun muß ich sehen, wie ich zu der Büchse komme." Als der Aldjann das hörte, ward er sehr böse und sagte: "Habe ich dich nicht vorher gewarnt? Habe ich dir nicht genau gesagt, wie du mit den drei Mähnenhaaren des Pferdes verfahren mußtest? Was kann ich denn mit dem allerbesten Willen tun, wenn du immer so dumm bist und alles unterläßt, was ich dir sage! Nun, diesmal kann ich dir noch helfen, wenn das Land des Königs, der die Büchse hat, auch sehr weit ist. Komm a so mit!"

Der Aldjann nahm den Königssohn auf und trug ihn weit, weit fort. Er trug ihn bis in das Land, in dem der König, der die Büchse besaß, wohnte. Dort setzte er den Sohn des Melik auf die Erde und sagte: "Der König dieses Landes ist sehr schlecht und grausam, und außerdem hält er die Büchse, solange er schläft, wie jetzt zum Beispiel, immer zwischen den Zähnen fest. Nehmen wir ihm die Büchse aus dem Munde, so wacht er auf, und wir können dem Tod nicht mehr entrinnen. Darum will ich mich in eine Maus verwandeln und will ihm als Maus über den Kopf laufen. Mit meinem Mauseschwanz will ich ihm dann in der Nase kitzeln, so daß er niesen muß. Wenn er dann niest, wird er die Büchse aus dem Munde fallen lassen, und du mußt hinzukommen und sie schnell wegbringen. Hüte dich aber, die Büchse zu öffnen, denn ich weiß nicht, wie man sie wieder schließen könnte." Der Sohn des Melik sagte: "Es ist sehr gut so, so werden wir es machen, und ich will dabei nicht anders verfahren, als du es mir jetzt vorgeschrieben hast."



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Darauf gingen sie dicht zu dem schlafenden König hin. Der Aldjann verwandelte sich alsdann in eine Maus und lief dem König über den Kopf und kitzelte ihn mit dem Mauseschwanz in der Nase. Der König hielt die kleine Büchse zwar sehr fest zwischen den Zähnen. Infolge des Nasekrabbeins mußte er aber niesen, und als er nieste, öffnete er den Mund, und die kleine Büchse fiel auf den Boden. Der Königssohn sprang aber schnell hinzu, nahm die Büchse auf und lief mit ihr so schnell er konnte von dannen und aus dem Lande des Königs.

Als der Jüngling aber über die Grenze des Landes des Königs gesprungen war, sagte er bei sich: "Ich muß doch erst einmal diese Büchse näher ansehen, denn ich kann mir nicht denken, daß darin mehr als ein paar Mücken, geschweige denn ein oder viele Menschen sein sollen." Der Königssohn betrachtete also die Büchse und drehte an dem Deckel hierhin und dorthin. Plötzlich ging sie ganz leicht auf, und aus dem offenen Büchslein sprangen Menschen mit Trompeten, Menschen mit Trommeln, mit Hörnern, Pfeifen und Klappern, und die die Trompeten und Hörner und Pfeifen hatten, bliesen jeder nach seiner Art, und die Trommler trommelten, und die mit den Klappern machten den schlimmsten Lärm. Alle aber tanzten und lärmten um den Sohn des Melik herum, so daß er gar nicht ein noch aus wußte. Der Sohn des Melik versuchte nun auf alle Weise die Leute zu bewegen, wieder in die kleine Büchse hineinzugehen. Die Leute kümmerten sich aber gar nicht um seine Bitten und Drohungen. Sie brachten ihm, was er verlangte, aber keinem fiel es ein, wieder in die Büchse zu gehen.

So lebte der Sohn des Melik ein Jahr lang unter den lärmenden Büchsenmenschen. Diese bedienten ihn zwar ausgezeichnet; im übrigen aber lärmten sie ununterbrochen. So ging das, bis nach einem Jahr der Aldjann, der der Freund des Königssohnes war, vorüberkam. Der Aldjann sagte: "Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärest schon vor einem Jahre nach Hause zurückgekehrt, und nun sehe ich dich hier in dieser merkwürdigen Gesellschaft? Wo kommen denn die Leute her?" Der Meliksohn sagte: "Ach, mein Freund, das sind ja die Leute, die aus der Büchse des Königs herausgekommen sind, und ich bin nicht imstande, sie wieder in ihr Haus zurückzubringen." Der Aldjann sagte: "Ja, das ist nun allerdings eine schlimme Sache. Das weiß ich nämlich auch nicht. Warte aber, ich will zu dem König gehen und will sehen, es von ihm selbst zu erfahren."



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Der Aldjann verwandelte sich also auch in einen König und begab sich als solcher zu dem König, dem bis dahin das Büchschen gehört hatte. Er blieb bei ihm einige Tage zu Gast und sagte dann zu ihm: "Höre, mein Freund, wir sind zwar beide Könige, aber trotzdem sind wir doch gute Freunde. Und als Freund möchte ich dich fragen, welches der Grund ist, daß ich dich immer so traurig sehe. Sprich es nur aus! Vielleicht kann ich dir in irgendeiner Sache helfen." Der König seufzte und sagte: "Du hast gut gesehen. Ich bin in der Tat sehr traurig. Ich hatte früher eine kleine Büchse, in der war meine ganze Dienerschaft, und wenn ich sie öffnete, kamen alle Bedienten und Musikanten, Soldaten und so viel Reiter heraus, als ich nur verlangte. Dieses wertvolle Büchslein ist mir aber abhanden gekommen." Der als Melik verkleidete Aldjann sagte: "Nein! Nun höre doch nur! Also ganze Soldatenhaufen und Reiter konntest du aus einer Büchse herausrufen? Wirklich, wenn ich dich nicht sehr gut kennte, würde ich glauben, du lögest. Eine solche Sache habe ich noch nie gehört. Sie ist zu wunderbar!" Der König sagte: "Ja, es war eine wunderbare Büchse!" Der andere sagte: "Aber sage mir doch! Konntest du die vielen Menschen denn auch wieder in die Büchse zurückbringen?" Der König sagte: "Gewiß konnte ich das. Ich brauchte nur dreimal das Wort ,Schoulim' auszusprechen. Sogleich waren alle Leute und Reiter wieder in der Büchse. Ich konnte die Büchse schließen und einstecken." Der als Melik verkleidete Aldjann sagte: "Ich verspreche dir auf die Büchse zu achten und dir gelegentlich Nachricht zukommen zu lassen." Der Aldjann blieb hierauf noch zwei Tage als König bei dem andern König. Dann nahm er Abschied und zog fort. Als er aber im Busche war, warf er die Kleidung eines Melik weg und eilte zu seinem Freunde, dem Sohne des Melik, zurück.

Der Aldjann traf den Königssohn noch immer inmitten der Trommler, Trompeter und Bedienten. Als der Königssohn seinen Freund kommen sah, rief er ihm über die Menschenmenge der Musikanten hinweg zu: "Komm schnell und sage mir, ob du meine Angelegenheit ausfindig gemacht hast!" Der Aldjann trat in die Mitte der lärmenden Gesellschaft neben seinen Freund und rief laut: "Schoulim! Schoulim! Schoulim!" Kaum war aber das dritte Wort verklungen, da hatten sich auch schon alle Trompeter und Trommler und Pfeifer und Bläser und Bediente in das Büchschen gedrängt, und der Sohn des Melik konnte den Deckel schließen. Da war der Königssohn über alle Maßen dankbar.



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Der Aldjann sagte aber: "Nun bringe das Büchschen nur schnell dem König, der das Pferd hat, und lasse dir dafür die Sicherheit deines Lebens und das Pferd schenken." Der Sohn des Melik betrachtete das Büchschen und sagte: "Die Sicherheit meines Lebens und das Pferd möchte ich schon haben; die Büchse möchte ich aber auch gern behalten." Der Aldjann sagte: "Du möchtest die Büchse gern behalten? Nun, dann will ich dir etwas sagen. Leihe mir diese Büchse auf zwei Tage. In zwei Tagen will ich eine Büchse herstellen, die genau so aussieht wie die deine. Dann gibst du dem König, der das Pferd hat, die nachgemachte Büchse und gehst mit Büchse und Pferd von dannen." Der Sohn des Melik war über diesen Vorschlag über alle Maßen dankbar und gab dem Aldjann die Büchse hin.

Der Aldjann nahm die Büchse und eilte von dannen. Nach zwei Tagen kam er zurück, überreichte dem Königssohn die Büchsen und sagte: "Nun tue, wie du es wünscht!" Der Königssohn brachte also dem König die von diesem so begehrte Büchse. Der König betrachtete sie von allen Seiten und sagte: "In der Tat, es ist die richtige Büchse. Nimm also das Pferd mit dir fort!" Der Königssohn setzte sich auf das Pferd, riß ihm drei Mähnenhaare aus, rieb sie zwischen den Handflächen und wünschte sich weit fort. Im gleichen Augenblick befand er sich weit entfernt in einem andern Land. Das gefiel dem Sohne des Melik ausgezeichnet und er sagte bei sich: "Das ist ein vorzügliches Pferd, ich möchte es doch lieber nicht weggeben, sondern möchte es behalten, wenn es sonstwie möglich ist, die Sicherheit des Lebens und den Vogel zu erhalten. Ich werde die Sache mit meinem Freund, dem Aldjann, besprechen." Der Königssohn rieb also wieder die drei Mähnenhaare des Pferdes zwischen den Handflächen und sagte dazu: "Ich möchte bei meinem Freunde, dem Aldjann, sein!"

Sogleich war der Königssohn bei seinem Freunde. Der Aldjann begrüßte ihn sehr herzlich und sagte: "Erzähle mir, was es gibt!" Der Königssohn sagte: "Dieses Pferd gefällt mir so ausgezeichnet, daß ich mich nicht wieder von ihm trennen möchte. Könnte ich nicht dieses Pferd behalten und trotzdem die Sicherheit meines Lebens und den Vogel bekommen?" Der Aldjann sagte: "Dieses ist möglich. Ich selbst will mich in ein Pferd verwandeln, das dem deinen vollkommen gleicht, und werde in dieser Gestalt dem Melik, dem der Vogel gehört, dienen. Laß also das richtige Pferd zurück. Nimm nur drei seiner Mähnenhaare mit und besteige mich." Dann



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verwandelte sich der Aldjann in ein Pferd, das dem andern aufs Haar glich. Der Königssohn bestieg das Aldjannpferd, und im nächsten Augenblick befand er sich mit ihm im Garten des Königs, der den Vogel hatte. Der König betrachtete das Pferd und sagte: "Ja, das ist das richtige! So will ich dir denn den Vogel und das Leben schenken." Der Königssohn stieg von dem Pferd, nahm den Vogel in Empfang und ging mit ihm fort. Er war noch nicht sehr weit gegangen, da kam der Aldjann ihm entgegen und begrüßte ihn. Der Königssohn sagte: "Wie kommst du denn hierher? Ich denke, du dienst als Pferd dem König ?" Der Aldjann sagte: "Kaum warst du gegangen, so bestieg der König mich und wünschte sich weit fort in die Wüste. Ich trug ihn sogleich in die Wüste. In der Wüste warf ich ihn aber ab und bin dann wieder hierher gekommen. So hast du nun, mein Freund, alle drei wertvollen Dinge -die Büchse, den Vogel und das Pferd! Sieh nun, daß niemand sie dir stiehlt. Im übrigen weißt du, daß wir Freunde sind und daß du mich immer herbeirufen kannst, wenn du mich brauchst." Danach nahmen die beiden Freunde voneinander Abschied; der Königssohn rief sein Pferd herbei, nahm Vogel und Büchse und ritt nach dem großen Tor zu von dannen.

An dem großen Tore hatten die beiden ältern Brüder sich am Brunnen gelagert und warteten auf die Rückkehr des jüngsten. Der jüngste Sohn des Melik traf sie, als er herausritt um heimzukehren. Er grüßte sie herzlich und stieg sogleich vom Pferd. Er lagerte bei ihnen am Brunnen und erzählte ihnen alles, was er erlebt hatte, nur sagte er nichts von der Handhabung der Büchse. Die beiden ältern Brüder sagten ihm ihre Glückwünsche zu seinen schönen Erfolgen und baten ihn, die Nacht noch bei ihnen zu lagern, um dann am andern Tage mit ihnen zu dem alten Vater heimzukehren. Der Jüngste war damit sehr einverstanden. Er legte sich, ermüdet wie er war, bald nieder und verfiel in einen tiefen Schlummer.

Als der jüngste am Brunnenrand eingeschlafen war, sagten die ältern Brüder untereinander: "Wenn unser kleiner Bruder mit diesen schönen Gaben heimkommt, wird unser Vater ihn sicherlich zum Melik machen, uns aber nicht mehr ansehen. Es wird also besser sein, wir werfen unsern Bruder in den Brunnen und bringen selbst die drei großen Dinge heim!" Die zwei Brüder erhoben sich also, gingen leise dahin, wo der Bruder lag, hoben den Schlafenden



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auf und warfen ihn in den Brunnen. Dann nahmen sie die drei wertvollen Dinge an sich, brachen am Morgen früh auf und kehrten in die Stadt ihres Vaters, des Melik, zurück.

Als die beiden ältesten Söhne allein kamen, fragte der Melik sie: "Wo ist mein jüngster Sohn?" Die beiden Ältesten sagten: "Dein jüngster Sohn war nicht gut und ist unterwegs gestorben. Wir beide haben dir aber diese drei großen Dinge mitgebracht." Dann gaben sie dem Vater den Vogel, das Pferd und die Büchse. Der Vater freute sich über diese Dinge sehr. Die Büchse aber ward vorsichtig beiseite gestellt, weil niemand sie zu handhaben wußte und weil alle Welt sie fürchtete. In der Dankbarkeit für so große Taten seiner Söhne ernannte der König den ältesten aber sogleich zum Melik und zog sich selbst auf das Landschloß, das in dem Garten war, zurück.

Inzwischen erwachte der Jüngste unten im Brunnen, nachdem er lange Zeit ohne Bewußtsein zwischen den Wänden eingequetscht gelegen hatte. Der jüngste Sohn des Melik sagte bei sich: "Wo bin ich? und wie bin ich hierher gekommen? Dies ist kein Traum, und ich glaube, nur mein Freund, der Aldjann, kann mich aus dieser Lage befreien." Der Aldjann aber sagte bei sich: "Ich muß einmal wieder nach dem Wasser im Brunnen am großen Tore sehen. Denn da ist es nicht in Ordnung." Er kam also mit einem Eimer und einem langen Strick herbei. Er ließ den Eimer herunter, und als der Eimer unten auf den jüngsten Sohn des Melik stieß, hing dieser sich fest daran und ließ sich heraufziehen. Der Aldjann zog den Eimer herauf und sagte: "Heute muß noch etwas anderes als Wasser in meinem Eimer sein." Als der Eimer aber bis zum Rande des Brunnens heraufkam, sprang der Sohn des Melik heraus, und der Aldjann sagte: "Was machst du denn dort unten? Ich denke, sie haben dich inzwischen zum Melik gemacht? Wo ist denn der Vogel, das Pferd und die Büchse ?" Der Jüngste sagte: "Von alledem weiß ich nichts. Ich fürchte, meine Brüder haben mir dieses angetan und jenes gestohlen." Der Aldjann sagte: "So eile, daß du schnell nach Hause kommst." Der Jüngste dankte also dem Aldjann für seine Rettung und wanderte der Stadt seines Vaters, des Melik, zu.

Der Jüngste kam in die Stadt und begab sich sogleich zu seinem Vater in das Landschloß im Garten. Als der alte Melik den totgeglaubten Sohn wiedersah, war er über die Maßen glücklich und ließ sich noch in der gleichen Stunde alles erzählen, wie es gekommen



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war. Als der Sohn mit seiner Erzählung fertig war, sagte er: "Mein Sohn, dies ist eine ernste Sache! Deine ältern Brüder haben die drei großen Dinge gebracht und haben die ganze Geschichte anders erzählt. Wem soll ich nun glauben?" Der Jüngste sagte: "Mein Vater! Meine Brüder haben gesagt, ich sei gestorben. Ich liege aber lebend vor dir. Du siehst also, daß sie gelogen haben. Wenn du nun aber den letzten Beweis dafür haben willst, daß ich die Wahrheit sage und nicht sie, so versammle morgen alle angesehenen Leute und verlange in ihrer Gegenwart von meinen Brüdern, daß sie dir die Handhabung der Büchse zeigen. Wenn sie das nicht verstehen, ich aber nach ihnen mit der Kenntnis der Sache hervortrete, so ist damit erwiesen, wer lügt und wer die Wahrheit spricht." Der alte Melik sagte: "Dieses, mein Sohn, hast du klug erdacht!"

Am andern Tag rief der alte Melik seine ältesten Söhne und alle Vornehmen zusammen. Der alte Melik sagte zu seinen Söhnen: "Meine beiden Söhne, ihr habt mir von der Reise, auf der euer jüngster Bruder gestorben ist, drei große wertvolle Dinge mitgebracht; habt mir aber immer noch nicht die Handhabung der Büchse gezeigt. Das sollt ihr heute nachholen." Damit gab der Vater dem Ältesten, den er zum Melik ernannt hatte, die Büchse in die Hand. Der Älteste aber fürchtete sich vor der Büchse. Er wandte sie hin und her, gab sie dann dem zweiten Sohne und sagte: "Zeige du es dem Vater!" Der zweite Sohn fürchtete sich aber auch vor der Büchse; er gab sie dem ersten zurück und sagte: "Mich hat der Vater nicht zum Melik gemacht, sondern dich!" Die beiden Söhne stritten. Die alten und vornehmen Leute sagten aber untereinander: "Die beiden Söhne des Melik fürchten sich vor der Büchse und kennen nicht ihre Handhabung."

Als der alte Melik das eine Zeitlang mit angesehen hatte, sagte er: "Ist denn niemand hier, der die Handhabung der Büchse kennt ?" Erst antwortete niemand. Als der Melik aber zum zweiten Male fragte, trat der jüngste Sohn hinter einer Mauer, hinter der er sich verborgen gehalten hatte, hervor und sagte: "Mein Vater, gib mir die Büchse, ich will die Handhabung zeigen." Als der Jüngling hervortrat, wurden die ältern beiden Brüder bleich. Alle andern Leute riefen aber in freudiger Erregung: "Der jüngste Sohn des Melik ist nicht gestorben; er lebt!" Der alte Melik aber gab dem jüngsten Sohn die Büchse.

Der jüngste Sohn trat mit der Büchse in die Mitte der Versammlung.



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Der jüngste Sohn sagte: "Meine Diener, kommt heraus und tötet die, die mich in den Brunnen geworfen haben!" Er öffnete die Büchse. Da kamen viele Soldaten und Reiter und Trommler und Trompeter heraus, daß sogleich der ganze Platz mit Menschen gefüllt war. Die Trommler trommelten, die Trompeter bliesen und die Krieger gingen auf die ältern Brüder des jüngsten Sohnes des Melik zu, nahmen sie, banden sie und töteten sie. Dann trugen sie die Toten hinaus.

Hiernach sagte der Jüngste: "Schoulim! Schoulim! Schoulim!" Sogleich kehrten alle Krieger und Reiter und Trompeter und Trommler in die Büchse zurück. Der Jüngste schloß die Büchse und steckte sie zu sich. Alles war nun wieder still.

Der alte Melik ernannte den Jüngsten aber zum König.


Copyright: arpa, 2015.

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