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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


10. Der Schech El Esuda

(Der Herr der Löwen)

Ein Mann floh aus einer Stadt, weil sein Bruder und sein Sohn von dem Könige der Stadt getötet waren und seine Familie so alle Macht und alles Ansehen verloren hatte. Der Mann ging in ein anderes Land und wurde dort Holzhändler. Er schlug jeden Tag im Busch eine Last Holz und trug sie in die Stadt auf den Markt. Von dem, was er damit verdiente, konnte er leben.

In dem Busche, in dem der Holzhändler immer sein Holz schlug, lebten eine Maus und ein Löwe. Die Maus liebte es aber, mit dem Löwen zu streiten. Der Löwe sagte aber eines Tages: "Meine Maus, du bist anmaßend! Wie kannst du immer mit mir streiten, der ich doch der stärkste aller Tiere bin!" Die Maus sagte: "Was du da sagst, mein Löwe, ist unrichtig. Die größte Stärke liegt in der Klugheit. Ich bin die kleine Maus, aber ich bin klüger und deshalb stärker als du. Aber stärker als alle andern Tiere ist Beni Adam (der Sohn Adams; der Mensch). Der Mensch übertrifft alle, alle Tiere weit an Klugheit." Der Löwe sagte: "Ich bin das stärkste Tier, alles andere glaube ich nicht." Die Maus sagte: "Dadurch,



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daß du es nicht glaubst, änderst du nichts an der Tatsache, daß der Beni Adam unendlich viel klüger und stärker ist als alle Tiere." Der Löwe sagte: "Das ist nicht wahr."

Der Holzhändler ging gerade durch den Wald. Die Maus sah ihn aus der Ferne und sagte zum Löwen: "Sieh, da ist ja der Mensch! Geh hin und zeige, daß du klüger und stärker als der Mensch bist." Der Löwe sagte: "Das also ist der Mensch! Ich werde hingehen und mit Beni Adam kämpfen." Der Löwe lief auf den Holzhändler zu und schrie: "Beni Adam, bleib stehen; ich will mit dir kämpfen!" Der Holzhändler sagte: "Es ist mir recht! Wir wollen miteinander kämpfen. Ich habe aber meine Afia (Kraft) jetzt nicht bei mir. Warte also bis morgen. Dann will ich kommen und mit dir kämpfen." Der Löwe sagte: "Nein, ich will nicht warten, ich will heute mit dir kämpfen. Gerade heute will ich mit dir kämpfen." Der Holzhändler sagte: "So komm schnell mit mir in die Stadt und kämpfe an meinem Platze mit mir. Wir müssen in die Stadt gehen, denn ich kann doch nicht ohne Afia kämpfen." Der Löwe sagte: "Es ist gut; ich werde dann hier am Baume auf dich warten, bis du aus der Stadt mit deiner Afia zurückkommst." Der Holzhändler sagte: "Es ist mir recht, wenn du hier warten willst. Ich muß dich aber hier am Baume festbinden, denn sonst läufst du mir sicher in der Zwischenzeit fort. Wenn du damit einverstanden bist, will ich in die Stadt gehen und meine Afia holen." Der Löwe sagte: "Ich laufe nicht weg!" Der Holzhändler sagte: "Dann laß dich festbinden." Der Löwe sagte: "Es ist mir recht! So binde mich fest."

Der Holzhändler setzte seine Last ab und ging zu dem nächsten Baum, zog Rindenstreifen ab und drehte Schnüre. Mit den Schnüren band er den Löwen am Baume fest. Der Löwe sagte dann: "Nun gehe schnell in die Stadt und hole deine große Afia, damit wir miteinander kämpfen können." Der Holzhändler sagte: "Ich gehe sogleich, ich will dir nur die kleine Afia zeigen, die ich im Busch hier habe." Danach drehte der Holzhändler aus Baumrinden noch eine Schnur und schlug mit aller Kraft auf den festgebundenen Löwen ein, so daß dem die Haut in Striemen abriß. Der Löwe brüllte. Der Holzhändler sagte: "So, das ist nur meine kleine Afia. Nun werde ich in die Stadt gehen und meine große Afia holen." Danach hob er seine Holzlast wieder auf und ging in die Stadt auf den Markt.

Als der Holzhändler gegangen war, kam die Maus aus dem Busch zu dem festgebundenen Löwen und sagte: "Mein Löwe, was hältst du nun von deiner Stärke und der Stärke des Beni Adam?" Der



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Löwe sagte: "Kleine Maus, binde mich los!" Die Maus sagte: "Ich will es tun. Du mußt mir aber schwören, daß du immer Freundschaft mit mir halten willst." Der Löwe sagte: "Das will ich dir schwören!" Darauf begann die Maus die Rindenstricke, mit denen der Löwe festgebunden war, durchzunagen. Als die Maus damit fertig war, sprang der Löwe sogleich fort.

Der Löwe lief in die Stadt, in der der Holzhändler wohnte und sein Holz auf dem Markte verkaufte. Der Löwe kam in das Haus, in dem der Holzhändler wohnte. Er trat in das Haus und sah den Holzhändler. Er sagte zu dem Holzhändler: "Hier bin ich; nun wollen wir miteinander kämpfen." Der Holzhändler sagte: "Es freut mich, daß du doch in die Stadt gekommen bist. Ich wollte mich eben wieder auf den Weg machen, um dich im Busche aufzusuchen. Nun können wir hier kämpfen. Setze dich also, nimm ein wenig Essen, das ich gleich bringen werde, zu dir, und dann wollen wir beginnen." Der Löwe sagte: "Wir wollen nicht erst essen, wir wollen gleich kämpfen." Der Holzhändler sagte: "Du bist nun in der Stadt und unter den Menschen. Du mußt dich nun danach richten, was bei den Menschen Sitte ist. Erst muß du nun essen!" Der Löwe sagte: "Es ist mir recht." Der Mann ging hinaus. Er schloß die Türe des Hauses, in dem der Löwe war, hinter sich. Er ging zum Kochplatz, kochte einen großen, großen Topf mit heißem Wasser. Als das Wasser kochend war, stieg er auf das Dach des Hauses, in dem der Löwe war, und zog das Stroh auseinander. Durch die Lücke goß er dann das kochende Wasser auf den Löwen herab. Der Löwe schrie vor Schmerz auf. Das Fell riß unter dem Guß des heißen Wassers in Fetzen auf. Der Löwe schrie. Er sprang gegen die Tür. Er schlug die Tür ein und sprang hinaus ins Freie. Er rannte, so schnell er konnte, in den Busch.

Der Löwe traf im Busch die Maus. Die Maus sagte: "Mein Löwe, wie siehst du aus! Mein Löwe, du stärkstes der Tiere! Wer hat dich so zugerichtet?" Der Löwe wurde noch wütender. Der Löwe sagte: "Was, willst du mich noch auslachen? Hast du mich nicht mit dem Beni Adam aneinander gebracht? Hast du mir nicht das Haus des Beni Adam gezeigt? Ist das nicht alles deine Schlechtigkeit?" Der Löwe sprang auf die Maus. Der Löwe packte die Maus. Der Löwe wollte die Maus verschlingen. Die Maus aber schrie: "Da kommt Beni Adam!" Als der Löwe das hörte, erschrak er. Er ließ die Maus frei und rannte, so schnell er konnte, von dannen. Der Löwe lief in ein anderes Land. Der Löwe sagte: "Ich bin hier vor



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dem Beni Adam nicht sicher." Der Löwe kam in ein Land, in dem viele Löwen waren. Die anderen Löwen fragten: "Was ist das mit dir? Dein Fell hängt in Fetzen herab und überall hast du Striemen? Was ist das?" Der Löwe sagte: "Laßt das! Laßt mich nur unter euch leben." So blieb der Löwe bei den andern im andern Lande.

Der Holzhändler sagte bei sich: "In den Busch, in dem ich bisher mein Holz geschlagen habe, kann ich jetzt nicht mehr gehen. Wenn der Löwe mich noch einmal im Busch trifft, wird er mich sicherlich töten. Ich werde also in eine andere Stadt gehen und in einer andern Stadt meinen Holzhandel beginnen." Der Mann packte also seine Sachen zusammen und ging in ein anderes Land. Er kam in eine andere Stadt, in deren Nähe ein großer Busch war, und er machte sich sogleich auf, um in dem Busch sein Holz zu schlagen.

Der Mann ging in den Busch und schlug sein Holz; er lud es auf und ging von dannen. Am Rande des Busches war ein großer Baum neben einer tiefen, tiefen Grube. Da setzte er seine Last auf den untersten Zweigen des Baumes ab, um sich auszuruhen, ehe er das letzte Stück bis zur Stadt zurücklegte. Als er eine Weile an dem Rande der Grube gesessen hatte, bemerkte ihn aber einer der vielen Löwen, die in diesem Lande waren, der lief schnell von dannen und rief die andern Löwen. Alle Löwen kamen angesprungen. Unter den Löwen war auch der, dem der Holzhändler das Fell zerschunden hatte, denn der Holzhändler und der Löwe waren in das gleiche Land geflohen, ohne daß einer es bis dahin vom andern gewußt hätte.

Als der Holzhändler nun die Löwen und unter ihnen den geschundenen, der vordem mit ihm kämpfen wollte, kommen sah, befiel ihn große Angst, und er stieg, so schnell er konnte, in die Krone des Baumes neben der Grube, auf deren untersten Zweigen er seine Last abgesetzt hatte. Die Löwen umringten den Baum. Der König der Löwen sagte: "Weshalb wollen wir zu so vielen den einen armen Holzsammler töten? Kommt, wir wollen weggehen, es gibt Schafe und Kühe in Menge bei den Menschen." Der geschundene Löwe erkannte aber den Holzhändler und sagte zu dem Anführer der Löwen: "Entschuldige, wenn ich, trotzdem ich ein Fremder bin, dir widerspreche. Aber dieser Mann ist keiner der üblichen harmlosen Holzhändler, die sich nur vor uns fürchten und uns nie etwas tun. Dieses ist ein Beni Adam, der genau aus dem gleichen Land stammt, aus dem ich komme, und er ist derselbe



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Mann, der mich mit dem Rindenstrick und dem heißen Wasser so übel zugerichtet hat, wie ihr mich hier seht." Die andern Löwen sahen den geschundenen an und sagten: "Du siehst in der Tat so schlimm aus, daß es wohl besser ist, wenn wir den Mann töten und so uns von der Gefahr, ebenso behandelt zu werden, frei machen. Wie wollen wir ihn nur erreichen, da wir nicht klettern können?" Der Anführer des Löwenrudels sagte: "Wenn dieser Mann allerdings mit Rindenstricken und heißem Wasser so schlechte Sachen macht, dann ist es wohl besser, wir vernichten ihn. Dann wollen wir uns einer über den andern stellen und so hinaufsteigen."

Die Löwen stellten sich also einer über den andern und bildeten so am Stamme des Baumes eine Leiter, auf der der Anführer der Löwen zuletzt hinaufstieg, um als oberster den Holzhändler zu packen und vom Baume herunterzureißen. Der Löwe war schon ganz oben und wollte mit seiner Tatze schon nach dem Manne schlagen, da richtete der sich auf dem Zweige, auf dem er gesessen hatte, auf und schrie: "So, nun werde ich mein heißes Wasser über euch alle gießen und euch dann mit den Rindenstricken geißeln, wie noch keinen Löwen vorher!" Als die Löwen das hörten, erschraken sie alle miteinander. Am meisten erschrak aber der Löwe, der zu unterst war und auf dessen Rücken alle andern Löwen standen. Dieser Löwe war nämlich der Geschundene, der die Rindenstricke und das heiße Wasser am eigenen Leibe gespürt hatte. In seiner großen Angst sprang der Geschundene zur Seite. Als er aber weglaufen wollte, fiel er in die tiefe Grube, die neben dem Baum war und die er in seiner Angst völlig vergessen hatte. Mit ihm stürzten aber alle andern Löwen, die auf seinem Rücken gestanden hatten, in der gleichen Richtung, also auch in die Grube hinab.

Als der Holzhändler sah, daß alle Löwen unten in der Grube lagen, stieg er vom Baume herab und rief in die Grube herunter: "Ich denke, ihr wollt mich umbringen und vernichten? Ich warte darauf. Wenn ihr mich aber allzulange warten laßt, so werde ich euch vernichten. Denn da ihr dort unten nicht fortkönnt, so ist mir das ein leichtes." Die Löwen sprachen untereinander: "Es ist wahr. Auch wenn dieser Mann uns gar nichts weiter tut, werden wir hier unten sehr bald hungern und dann beginnen, uns selbst zu töten." Der Anführer der Löwen sagte: "Es war töricht, daß wir dem Rate des Geschundenen, der zudem ein Fremder ist, gefolgt sind. Da wir nun aber einmal in dieser Lage sind, so kann uns überhaupt niemand anderes helfen, als eben der Holzhändler selbst, der



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uns durch seine Klugheit in diese Falle geworfen hat." Die Löwen sagten: "Du hast recht!"

Der Anführer der Löwen sagte: "Ich will mit dem Manne sprechen." Die andern Löwen sagten: "Tue du es!" Der Löwenkönig rief hierauf zu dem Holzhändler hinauf: "Beni Adam, höre mich!" Der Holzhändler rief herunter: "Ich höre!" Der Löwe rief: "Wir bitten dich allesamt, uns wieder hinaufzuziehen und uns das Leben zu schenken. Wir schwören, daß wir dir dann zeitlebens als Sklaven dienstbar sein wollen und daß wir, die wir die Könige aller Tiere sind, dir stets mit allen Geschöpfen, die außer den Menschen auf der Erde sind, beistehen werden." Der Holzhändler sagte: "Wollt ihr schwören, daß mir überall, wo ich auch gehe und stehe, stets vier von euch folgen werden, und daß ihr jedesmal, wenn ich eurer oder der andern Tiere bedarf, zu mir kommen und für mich kämpfen werdet ?" Die Löwen beschworen das einer nach dem andern. Darauf zog der Holzhändler einen nach dem andern an Rindenstricken heraus.

Von nun an war der frühere Holzhändler der Schech ei Esuda (der König der Löwen). Wo er auch hinging - überallhin folgten ihm vier Löwen. Er machte sich nun auf und ging in seine Heimatstadt, in die Stadt des Königs, der seinen Bruder und seinen Sohn getötet hatte. Die vier Löwen folgten ihm stets. Als er mit den Löwen in die Straßen kam, flohen die Leute entsetzt in die Häuser. Als er mit den Löwen auf den Markt kam, flohen die Leute entsetzt zum König der Stadt und riefen: "Der König der Löwen kommt! Hilf uns! Hilf uns!" Darauf rief der König der Stadt seine angesehenen Männer zusammen und ging mit ihnen dem König der Löwen entgegen.

Die Geschichte erzählt nun ferner, daß der Löwenkönig mit dem Stadtkönig, trotzdem dieser einst die Verwandten des jetzigen Löwenkönigs getötet hat, ein vorläufiges Bündnis schließt. Ja, als der Stadtkönig gegen den großen Landeskönig zu Felde ziehen will, ruft der Löwenkönig alle Tiere zusammen, und diese vernichten nacheinander drei Heere des Landeskönigs. Dann aber zieht der Löwenkönig mit allen Herden des Stadtkönigs (immer gefolgt von seinen vier Wachtlöwen) von dannen und geht mit dem Landeskönig eine Freundschaft ein. Für den Landeskönig führt nun der Löwenkönig Kriege. Er gewinnt mit seinen Löwen, Elefanten, Büffeln usw. alle Schlachten und nimmt zuletzt auch den Stadtkönig gefangen, den er wegen seiner hingerichteten Angehörigen



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zur Rechenschaft zieht. Der Stadtkönig bittet um Gnade und schiebt alle Schuld auf seinen derzeit abwesenden Wesir. Also wartet und fängt der Löwenkönig den Wesir ab und legt ihn, der durch seine Klugheit berühmt ist, in Fesseln. Der Löwenkönig erklärt dem Wesir, daß er ihn töten wolle, wenn er nicht in drei Tagen Stricke aus Sand anfertige. Der Wesir geht tief gebrochen und hoffnungslos betrübt nach Hause. Die jüngste, sehr kluge Tochter des Wesirs entlockt dem Vater den Grund seiner Traurigkeit und sagt: "Gehe zum Löwenkönig und sage: ,Um Stricke zu drehen, muß man Fasern machen; gib mir die Fasern aus Sand, so will ich dir die Stricke aus Sandfasern drehen." Der Wesir kehrt also zum Löwenkönig zurück und sagt ihm das, was die junge Tochter dem Vater riet.

Der Löwenkönig fragt seine Leute, wer wohl dem Wesir diesen Rat gegeben habe. Seine Leute sagen: "Diesen Rat hat dem Wesir entweder eine ganz alte Frau oder ein ganz junges Mädchen gegeben." Der Wesir, gedrängt, gibt die Gedankenurheberschaft seiner Tochter zu. Darauf heiratet der Löwenkönig, vom Landeskönig mit seiner Heimatstadt belehnt, die kluge Tochter des Wesirs, lernt von der jungen Frau Lesen und Schreiben und wird ein ausgezeichneter Herrscher. Die Löwen bleiben ihm immer treu zur Seite.

Die Geschichte endet mit der Erklärung: "Der Mann, der eine hohe Stellung einnehmen will, muß nicht nur selbst klug sein, sondern soll auch eine kluge Frau haben."


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