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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


5. Die zersprengte Familie

Ein Vater hatte einen Sohn, den verheiratete er, und der Sohn E hatte bald selbst zwei kleine Kinder. Eines Tages rief der alte Vater seinen Sohn zu sich und sagte zu ihm: "Ich bin alt und werde binnen kurzem sterben. Wenn nun nach meinem Tode irgend jemand zu dir kommt und sagt: ,Dies und das war mir dein verstorbener Vater schuldig', so gib es ihm, denn es sollen keine Schulden hinterher stehen bleiben, und es wird das zu deinem und deiner Familie Besten ausfallen." Der Sohn versprach es, und kurze Zeit darauf starb der Vater.

Bald nachdem der Vater gestorben und begraben war, kamen Leute und sagten: "Dies und das war mir dein verstorbener Vater schuldig." Dem Wunsche seines Vaters gemäß zahlte er ihnen die genannten Summen, und die Leute gingen und erzählten anderen, wie leicht es sei, von dem jungen Manne Geld zu erhalten. Das Gerücht verbreitete sich, und bald kamen mehr und immer mehr Leute und sagten: "Dies und das war mir dein verstorbener Vater schuldig!" Der Sohn zahlte alle aus, und so sah er sein Vermögen, so bedeutend es anfangs auch gewesen war, schnell und immer schneller hinschwinden, so daß ohne Schwierigkeit ein baldiges Ende abzusehen war.

Da sagte er denn eines Tages zu seiner Frau: "Meine Frau, ich fürchte, daß wenn ich noch länger hier bleibe, bald der ganze Rest meines Besitztums aufgebraucht sein wird, und somit wollen wir so bald als möglich unsere Sachen packen und von dannen ziehen in ein anderes Land." Die Frau war damit sehr einverstanden, und nachdem alles zusammengepackt war, bestieg der junge Mann mit seiner Frau und seinen Kindern ein Boot und fuhr mit ihnen auf dem Strom von dannen. Als sie nun eine längere Zeit gefahren und mitten auf dem Wasser



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waren, kam ein Sturm und warf das Boot gegen die Felsen, so daß es zerbrach. Das Boot zerschellte sofort, und jeder suchte einige Bretter zu erreichen, an denen er sich festhielt, um sich damit zu retten. Der Mann trieb sehr weit fort. Er konnte von seiner Frau und seinen Kindern nichts sehen, konnte ihnen also nicht helfen und mußte froh sein, als die Bretter, an denen er sich festklammerte, zuletzt gegen eine große Insel getragen wurden. Der Mann ging auf die Insel und suchte sich einige wilde Früchte, um seinen Hunger zu stillen.

Der Mann irrte tagelang auf der Insel umher und sah zuletzt, daß sie unbewohnt war. Am vierten Tage nahm er wahr, daß ein großer Vogel von einem Platze immer auf und nieder flog, und als er, dadurch neugierig gemacht, dorthin ging, fand er einen ummauerten Platz, der in eine Grube führte. Er stieg zu ihr hinab und befand sich plötzlich zwischen großen Haufen von Gold und Silber. Der Mann steckte von dem Golde genug zu sich. Dann ging er an das Ufer und wartete. Und als er wiederum vier Tage ausgeschaut hatte, kam in der Ferne eine Segelbarke vorüber, deren Rais sein Winken und Rufen bemerkte, das Boot näher herbeiführte und ihn dann auf sein Bitten mitnahm.

Der Mann sagte nichts von dem Schatz, den er entdeckt hatte; er ersuchte den Rais nur, ihn bis zu dem nächsten Ort zu führen, an dem ein Melik Hof halte, und versprach ihn dort zu bezahlen. Als der Rais das tat und ihn glücklich in einer großen Stadt ans Land setzte, zahlte er ihm einen guten Lohn und suchte den Palast des Melik auf. Der Melik empfing ihn, und der junge Mann sagte ihm, daß er der Sohn eines verjagten Königs sei; er bat den Melik um einige Schiffe und Leute; er reichte ihm das mitgenommene Gold und versprach ihm, alljährlich davon viel zu schicken, wenn er ihm mit den Schiffen und Leuten die Möglichkeit gäbe, eine Insel neu zu besiedeln, die seiner Familie in alter Zeit gehört habe. Der Melik war damit beim Anblick des Goldes sehr einverstanden und rüstete ihn aus mit allem, was er brauchte.

Der Mann fuhr also als Herr mehrerer tüchtiger Schiffe und einer Anzahl brauchbarer Leute zu der Insel zurück. Er baute erst um den Teil der Insel, in dem die verdeckte Schatzgrube war, eine hohe Mauer und fing dann an, eine neue Stadt zu errichten. Er bezahlte alle Leute reichlich. Er sandte die Boote nach allen Seiten aus, um Waren und Händler zu bringen, und gründete so einen schönen Marktplatz, zu dem allerhand Leute von fern und nah kamen, teils



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um sich anzusiedeln, teils um Handel zu treiben. Der Ruhm des Reichtums, der Gerechtigkeit und der Weisheit verbreitete sich von Monat zu Monat, und da der Mann jedes Jahr seine Abgaben an den König, der ihm die ersten Schiffe und Leute gegeben hatte, entrichtete, so lebte die junge Stadt im glücklichsten Frieden. Der Mann pflegte aber jedesmal, wenn ein Boot ankam, selbst an den Strand zu gehen, nach den Leuten zu sehen und nach Neuigkeiten zu fragen.

Die Frau des Mannes war nicht untergegangen. Ein Koch, der mit einer Barke weit oberhalb über den Strom gesetzt war, hatte sie aufgefischt und zu sich ins Haus genommen, und sie half ihm nun in seinem Geschäft. Die beiden Knaben waren aber von zwei Kaufleuten aufgefischt worden, die sie mit in ihre Geschäfte nahmen, und jeden nach seiner Art erzogen und bei der Arbeit gebrauchten. So war aber jeder von den vieren in eine andere Stadt gekommen, und keiner wußte, ob der andere noch lebe oder ob er im Sturm untergegangen sei. So lang und weit der Stromlauf aber auch war, so viele Städte und Menschen auch an seinen Ufern lagen und wohnten, so drang doch der Ruf der neuen Stadt auf der Insel überall hin, und überall wünschten die Dienenden und Abhängigen die Freiheit zu erhalten, sich an dem aufwachsenden Gemeindeleben zu beteiligen und dadurch selbständig zu werden, daß sie für die, von denen sie abhingen, auf der Insel Niederlagen oder eigene Geschäfte einrichteten.

So sagte denn die Frau des Mannes zu dem Koch, der sie gerettet hatte: "Laß mich zu der Insel fahren und sehen, ob ich da nicht ein Geschäft für dich gründen kann. Dann kann das Geschäft Abgaben abwerfen, die ich dir alljährlich zahle." Dem Koch war das verständlich und er sagte: "Gewiß bin ich damit einverstanden. Wenn wieder ein Schiff vorbeikommt, das zu der Insel fährt, werde ich dich mit allem Geschirr ausrüsten und werde dich dorthin senden. Wenn sich das Geschäft dort wirklich lohnt, und zwar besser lohnt als das hiesige, in dem du mir geholfen hast, so laß es mich wissen, daß ich auch komme und mit dir die Einnahmen teile."

Der älteste Sohn des Mannes kam aber zu seinem Kaufherrn und sagte: "Herr, es ist jetzt hier am Ort eine stille Zeit. So gib mir denn einige Stoffe und Zucker, daß ich zu der neuen Stadt auf der Insel fahre und dir deine Waren mit größerem Vorteil zu verkaufen suche." Der Kaufherr überlegte sich die Sache und sagte endlich:



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"Wenn wieder ein Schiff hier vorüberkommt, das zu der Insel fährt, werde ich dich ausrüsten und hinübersenden."

Der jüngste Sohn des Mannes kam aber zu seinem Kaufherrn und sagte: "Ich bin zwar noch klein, aber ich meine doch schon klug genug zu sein, um für dich auf jener Insel nach den Aussichten, die ein Kaufmann dort hat, Ausschau zu halten und dir dann zu berichten, ob es sich lohnen würde, ein neues Geschäft, das noch mehr als dieses hier abwirft, zu beginnen." Der Kaufherr sagte: "Dieser Gedanke, mein Junge, ist nicht schlecht. Ich will dich aber nicht allein schicken, sondern ich will, wenn wieder ein Boot nach dorthin abgeht, mit dir zusammen nach der neuen Stadt fahren."

Es dauerte auch nicht lange, so ging wieder ein Segelboot nach der Insel mit der neuen Stadt ab. Der Kaufherr mit dem Jüngsten des Mannes ging mit einigen Waren an Bord und fuhr ab. Nachdem sie eine Zeitlang gefahren waren, hielten sie an einer Stadt. Der Kaufherr des älteren Sohnes brachte diesen mit den Waren an Bord und nahm unter herzlichen Segenswünschen Abschied. Und als das Boot wieder einige Tage weit gefahren war, wurde von dem Ufer aus gewinkt, und da der Rais noch ein wenig Platz hatte, legte er an. Der Koch kam und brachte seine Gehilfin, die die Frau des Mannes und die Mutter der Knaben war, mitsamt dem nötigen Geschirr an Bord.

Nachdem die Barke wieder einige Tage gefahren war, so daß sie sich nun schon nahe der Insel mit der neuen Stadt befand, trat Windstille ein, so daß das Schiff liegen blieb und sich nicht bewegte. Da begannen die beiden Knaben ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Der ältere sagte: "Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr. Sie sind im Strom ertrunken, als wir in ein anderes Land fuhren." Der kleinere Knabe sagte: "Ich habe auch keinen Vater und keine Mutter mehr; sie sind auch im Strom ertrunken, als wir in ein anderes Land fahren wollten." Der ältere sagte: "Ich hatte einen jüngeren Bruder bei mir, der ertrank auch." Der jüngere sagte: "Ich hatte einen älteren Bruder bei mir, der ertrank auch."

Die Frau, die der Koch in die Barke gebracht hatte, saß im Unterraum. Sie hörte, was die Knaben sagten. Die Frau sagte: "Jetzt steht mein Herz still." Die Frau erhob sich und betrachtete die Burschen. Die Frau faßte die Burschen bei den Händen. Sie fragte den älteren: "Wie hieß dein Vater ?" Der ältere sagte: "Mein Vater hieß Achmet." Der Jüngere sagte: "So hieß mein Vater auch."



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Die Frau fragte den Jüngeren: "Wie hieß deine Mutter?" Der Jüngere sagte: "Meine Mutter hieß Fatma." Da schrie die Mutter auf. Sie weinte und sagte: "Ich bin eure Mutter Fatma!"

Der Rais und die andern Leute sahen aber, wie die drei einander umschlangen.

Das Boot kam an. Der Herr der neuen Stadt kam selbst ans Boot, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Die Leute des Schiffes begrüßten ihn. Fatma und ihre beiden Kinder saßen aber unbekümmert und umschlungen auf dem Deck und kamen nicht herab. Der Herr der neuen Stadt fragte den Rais: "Und was ist es denn mit denen da?" Der Rais sagte: "Das ist eine Mutter mit ihren zwei Knaben, die haben sich heute wiedergefunden. Die sind einmal verschlagen und auseinandergebracht worden, als sie mit dem Vater der Familie auf der Fahrt in ein anderes Land waren." Der Herr der neuen Stadt fragte: "Wie heißt die Frau ?" Der Rais sagte: "Sie heißt Fatma; ihr ertrunkener Mann hieß Achmed." Darauf gab der Herr der neuen Stadt den Auftrag, Fatma und ihre Söhne in sein Haus zu bringen.

Er selbst sah erst, daß die andern gut unterkamen. Dann eilte er nach Hause und ging dahin, wo Fatma und die Knaben zusammensaßen. Der Mann betrachtete sie, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Dann sagte er: "Und ich bin Achmed, euer Gatte und Vater!"


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