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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


4. Die Gattenwahl des Königs

Ein Melik war unverheiratet. Er rief eines Tages seinen Wasir (Wesir) und sagte: "Ich bin das Leben eines unverheirateten Mannes satt. Geh hin und suche mir eine Frau unter den Töchtern meiner eigenen Stadt. Suche sie, in welchem Stadtwinkel du willst. Sie soll sehr schön und nicht älter und nicht jünger sein als elf



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Jahre." Der Wasir ging nach Hause und suchte seine eigene Frau auf. Der Wasir erzählte seiner Frau, was der Melik über seine zukünftige Gattin gesprochen hatte und sagte: "Nun, meine Gattin, gehe hin und sieh dich unter den Töchtern der Stadt um, denn das, was eine Frau in solchen Dingen erfahren und sehen kann, übertrifft das Vermögen des Mannes."

Die Frau des Wasir machte sich also auf den Weg und erkundigte sich in allen Teilen der Stadt nach einem Mädchen, das den Ansprüchen des Königs entsprechen könne. Zuletzt fand sie drei sehr hübsche Mädchen heraus. Die erste war die Tochter eines Schneiders, die zweite die Tochter eines Zinnarbeiters, die dritte die Tochter eines Silberschmieds. Sie ging also heim und berichtete das ihrem Gatten. Ihr Gatte, der Wasir, ging aber zum Melik und sagte ihm alles, was seine Frau in Erfahrung gebracht hatte.

Der Melik sagte hierauf: "Laß erst einmal die Tochter des Schneidermeisters kommen, daß ich sie sehe." Der Wasir ging also zum Schneidermeister und sagte: "Der Melik will sich unter den Töchtern seiner Stadt eine Frau aussuchen. Er hat Gutes von deiner Tochter gehört. Schicke also deine Tochter zum König, daß er sie sehe." Der Schneidermeister erschrak und sagte: "O weh! Was wird das werden! Meine Tochter ist ein wenig verrückt (maiginun). Sie könnte, wenn sie vor den König gebracht wird, sich unschicklich benehmen und ihre Kleider zerreißen." Der Wasir ging zurück und sagte zum Melik, was er vom Schneider gehört habe, und der König sagte: "Gut, dann laß mir die Tochter des Zinnarbeiters kommen, daß ich sie sehe!"

Der Wasir ging also zum Zinnarbeiter und sagte: "Der Melik will sich unter den Töchtern der Stadt eine Frau aussuchen. Er hat Gutes von Deiner Tochter gehört. Schicke also Deine Tochter zum König, daß er sie sehe!" Nun hatte der Zinnarbeiter aber gehört, was vorher bei dem Schneidermeister vorgekommen war, und er sagte sich: "Wenn der Schneidermeister seine Tochter nicht hat hinsenden wollen, so hat er dafür seine Gründe. Ich werde es vorsichtshalber ebenso machen." Der Zinnarbeiter sagte also zum Wasir: "O wie schrecklich ist das! Denke dir, meine Tochter ist ja sehr schön; sie kann aber keinen Basbus (Mund, Hals einer Wasserkanne) sehen! Sobald sie das sieht, muß sie sterben!" Der Wasir ging also zurück zum Melik und berichtete ihm alles, was der Zinnarbeiter gesagt hatte. Der König sagte hierauf: "Gut, dann laß mir die Tochter des Silberschmieds kommen, daß ich sie sehe!"



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Der Wasir machte sich also abermals auf den Weg, ging zu dem Silberschmied und sagte: "Der Melik will sich unter den Töchtern der Stadt eine Frau aussuchen. Er hat Gutes von deiner Tochter gehört. Schicke also deine Tochter zum König, daß er sie sehe." Inzwischen hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der König überall eine Frau suche, und daß mehrere Leute ihre Töchter schon abgeschlagen hätten, weil die Sache irgendwie nicht ganz in Ordnung war. Als der Silberschmied den Wasir angehört hatte, sagte er bei sich: "Also ist es doch wahr, daß eine Mädchenfängerei hier um sich greift. Es ist gut, daß ich das beizeiten gehört habe und meine Tochter so vor einem schrecklichen Unheil bewahren kann." Laut sagte der Silberschmied aber zum Wasir: "Nun sieh doch, welches glückliche Leben könnte meiner Tochter winken! Wie herrlich könnte sie nun bald erhaben sein über ihre Freundinnen! Wie schrecklich, daß es nicht möglich ist! Wie traurig, daß sie dem Glücke entsagen muß! Denn höre: meine Tochter kann keinen Silberring sehen oder tragen. An dem Tage, da sie einen silbernen Fußring sehen oder tragen würde, müßte sie sterben!" Der Wasir merkte sich die Antwort, begab sich auf den Rückweg und erzählte alles dem König.

Als der Melik hörte, was der Silberschmied gesagt hatte, sprach er: "Was tue ich nun? Es ist doch sehr auffallend, daß die Töchter des Schneiders, des Zinnarbeiters und des Silberschmieds alle gleiche Veranlagung haben." Der Wasir dachte nach und sagte dann: "Laß dir doch Weiberkleider machen, gehe mit meiner Frau bei den Leuten als Frau herum und höre nach der Sache." Der Melik war damit einverstanden, ließ den Wasir drei Stück Stoff kaufen und durch dessen Frau bei dem Schneider drei gleiche Kleider anfertigen. Die Frau des Wasir bestellte die Kleider aber für ihre Schwester.

Sobald die Kleider fertig waren, zog der Melik das erste an und ging mit der Frau des Wasir als Frau verkleidet fort. Zuerst gingen die beiden Frauen zu der Frau des Silberschmieds. Die Frau des Silberschmieds begrüßte die Frau des Wasir und sagte: "Wen hast du denn heute bei dir?" Die Frau des Wasir sagte: "Das ist meine Schwester. Meine Schwester möchte auch gern das Mädchen sehen, das der Melik durchaus heiraten will." Die Frau des Silberschmieds sagte: "Gewiß, ich werde das Mädchen rufen lassen!" Nach einer Weile kam das Mädchen, und der Melik, der als Frau verkleidet war, sah sogleich, daß das Mädchen sehr schöne Silberringe



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an den Füßen hatte. Er sagte: "Liebe Frau, diese Ringe hat gewiß dein Mann für deine Tochter gemacht." Die Frau sagte: "So ist es!" Der Melik sagte: "Würde ich nicht einen solchen Ring mitnehmen, ihn meiner eigenen kleinen Tochter zeigen, und wenn er ihr gefällt, ganz gleiche bei Deinem Manne bestellen können ?" Die Frau des Silberschmieds sagte: "Ganz gewiß!" Darauf zog der als Frau verkleidete Sultan dem Mädchen selbst den Silberfußring ab und nahm ihn, als er mit der Frau des Wasir wegging, mit sich.

In der nächsten Nacht verkleidete der Melik sich wieder als Frau und ging mit der Frau des Wasir zusammen zu der Frau des Zinnarbeiters. Die Frauen begrüßten sich erst, dann fragte die Frau des Zinnarbeiters: "Wen bringst du denn heute mit dir?" Die Frau des Wasir sagte: "Das ist meine Schwester, die so gern das Mädchen sehen möchte, das der Melik zur Gattin begehrt." Die Frau des Zinnarbeiters sagte: "Gewiß kann deine Schwester meine Tochter sehen." So wurde das Mädchen denn gerufen. Als es kam, sagte der als Frau verkleidete Sultan, er wünsche sich die Hände zu waschen, ob das Mädchen nicht eine Brig (Wasserkanne) bringen könne. Das Mädchen brachte darauf die Brig und bediente die Frau, die in Wirklichkeit der Melik selbst war. Darauf bewunderte die Frau die schöne Brig, bat sie sich als Geschenk aus, versprach eine Gegengabe und ging dann mit der Eng von dannen.

In der dritten Nacht verkleidete der Melik sich abermals als Frau und ging mit der Frau des Wasir als deren Schwester zur Frau des Schneiders. Die Frauen begrüßten sich, und die Frau des Wasir sagte: "Dies hier ist meine Schwester, der dein Mann letzthin die drei Kleider gemacht hat." Darauf sagte die Frau des Schneiders: "Es war schöner Stoff. Von den abfallenden Lappen hat meine Tochter sich für ihre Puppe ein Kleidchen gemacht. Ihr wißt doch, daß meine Tochter ein wenig verrückt ist. So spielt sie denn immer mit Puppen und macht aus allem Kleider für ihre Puppen." Der als Frau verkleidete Melik sagte: "Jaja, ich habe von deiner Tochter gehört. Kann ich sie und ihre Puppen denn nicht einmal sehen?" Die Frau des Schneiders sagte: "Gewiß kannst du sie sehen. Jedermann kann sie sehen. Wir fürchteten sie nur zum Melik zu schicken, weil sie sich bisweilen eben verrückt und respektlos benimmt." Die Frau des Schneiders rief darauf ihre Tochter, und der Melik plauderte mit ihr und ließ sich ihre Puppen zeigen. Zuletzt bat sie der als Frau verkleidete Melik, ihm doch eines der Puppenkleidchen zu geben, da er ihr dafür ein anderes schicken wolle. Die Tochter des



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Schneiders sagte: "Ich will dir gern das geben, was ich aus den Restlappen deines eigenen Kleides gefertigt habe. Du mußt mir aber ein anderes schicken." Der als Frau verkleidete Melik versprach das, erhielt das Kleid und ging damit von dannen.

Am andern Tag sandte der Melik seine Polizisten zu dem Silberschmied, dem Zinnarbeiter und dem Schneider und ließ sie alle drei mit ihren Töchtern in seinen Palast bringen. Zuerst wurde der Silberschmied mit seiner Tochter vorgeführt. Der Sultan fragte ihn, ob der Fußring, den er in seiner Verkleidung als Frau erhalten habe, von ihm stamme. Der Silberschmied und seine Tochter besahen den Ring und bejahten es. Der Melik sagte darauf: "Weshalb hast du denn dem Wasir gesagt, deine Tochter müsse sterben, wenn sie Silberschmuck sehe oder gar trage?" Der Silberschmied sagte: "O Herr! Ich bin ein armer Mann. Ich meine, es gehöre sich nicht, daß meine Tochter eine so hohe Stelle bekleide." Der Melik ließ darauf den Silberschmied und seine Tochter zurücktreten.

Dann wurde der Zinnarbeiter und seine Tochter gerufen. Der Melik zeigte ihnen die Brig, die ihm von der Tochter geschenkt wurde, als er in der vorletzten Nacht als Frau verkleidet in seinem Hause gewesen war und fragte ihn, ob die Brig von ihm komme. Der Zinnarbeiter bejahte das. Da fragte der Melik, wie er dazu komme, zu behaupten, seine Tochter müsse sterben, wenn sie den Hals einer Brig sehe?" Darauf sagte der Zinnarbeiter: "Herr, ich will ehrlich sagen, daß ich als einfacher Mann mich fürchtete, meine Tochter in einer Stellung zu sehen, zu der sie ihrer einfachen Herkunft nach nicht geeignet wäre." Der Melik ließ den Zinnarbeiter und seine Tochter wegbringen.

Endlich wurde der Schneider und seine Tochter hineingerufen. Der Melik nahm das Puppenkleid und sagte: "Du, Schneidermeister, hattest mir gesagt, deine Tochter tauge nicht als meine Gattin, da sie etwas verrückt sei. Ich war nun gestern als Frau verkleidet in deinem Hause, und da hat mir deine Tochter dieses Kleidchen geschenkt." Der Melik wollte weitersprechen. Die Tochter des Schneiders unterbrach ihn aber und sagte: "So, du warst das also? Also du, der Melik, hat sich als Frau verkleidet, um dir etwas von mir schenken zu lassen? Nun, dann gib mir nur schnell die versprochenen Geschenke oder aber gib mir mein Puppenkleid wieder." Darauf lachte der Melik: "Geh, Schneider! Du hast recht! Deine Tochter ist wirklich etwas voreilig. Geh nur! Deine Tochter soll ihre Geschenke haben."



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Darauf ließ der Melik die Fakire über seine Ehe befragen. Die Asarleute antworteten aber: "Die, welche gelogen und einen schlechten Leumund über die Absicht des Melik verbreitet haben, verdienen Strafe. Das törichte Mädchen ist aber eine gute Gattin für den Melik." Der Melik verfuhr nach dem Ausspruch der Asarleute. Er ließ den Zinnarbeiter und den Silberschmied bestrafen und heiratete die Tochter des Schneiders. Sie wurde ihm eine ausgezeichnete Frau und gebar ihm treffliche Söhne und Töchter.


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