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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


1. Glück und Verstand*

Eines Tages gingen Sad (das Glück) und Agel (der Verstand) zusammen den Weg dahin und sprachen miteinander. Sad sagte: "Ich bin der beste Freund der Menschen." Agel sagte: "Ich denke nicht so, ich glaube, ich bin der beste Freund der Menschen." Sad sagte: "Wir wollen es versuchen." Agel sagte: "Wir wollen die Menschen entscheiden lassen." Sie gingen beide weiter.

Sie kamen zu einer Farm, auf der arbeitete ein Mann, der war jung und schön, aber er war sehr arm, so daß es ihm schwer fiel, das Essen des Tagesbedarfs immer zu verdienen. Sad und Agel traten zu dem Manne und sagten: "Wir sind ,das Glück' und ,der Verstand'. Welchen von uns beiden willst du lieber zum Freund haben?" Der Bursche sagte bei sich: "Ich habe einen leeren Magen und großen Hunger, den Kopf aber so schon voller Gedanken. Wie soll ich nun noch mehr Verstand aufnehmen und anwenden, wenn ich nicht das Glück habe, den Hunger stillen und den Magen füllen zu können?" Der Bursche sagte: "Ich will lieber dich, Sad (das Glück), zum Freund haben." Sad und Agel grüßten den Mann und gingen weiter. Sad sagte: "Ich will nun dem Manne wirklich Freund sein." Agel sagte: "Ich werde mich ihm aber fernhalten."

Der hübsche Bursche blickte den beiden Freunden nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, und dann begann er wieder zu arbeiten. Kaum aber schlug die Schaufel wieder in die Erde, so gab es einen hellen Klang, und als der Bursche seinem Ursprung nachforschte, sah er, daß er einen großen Schatz und viel Gold gefunden hatte. Sogleich nahm er einiges davon, lief zur Stadt, kaufte sich schöne Kleider und Sklaven und Pferde, ging in prächtigem Aufzuge zum Acker zurück und lud den ganzen Schatz auf einen starken Esel, der mit schönen Decken geschmückt war. Der schöne Bursche bestieg sein Pferd, setzte sich dann an die Spitze des Zuges und ritt der Stadt wieder zu. Inzwischen aber hatte der Melik des Landes auch sein Pferd satteln lassen und ritt an der Spitze eines langen Zuges von Sklaven und Reitern ins Freie hinaus. So begegneten sich der König und der schöne Bursche, und der Bursche stieg sogleich ab und führte dem König den schön gezäumten Esel mit dem Schatze darauf als Geschenk zu. Als der König den Aufzug und den Schatz und den schönen Jüngling sah, glaubte er nicht anders, als dieser müsse auch ein König sein, der mit diesem Geschenk gekommen



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sei, ihn zu besuchen und seine Tochter zur Frau zu gewinnen. Denn die Tochter des Meliks war ihrer ungewöhnlichen Schönheit wegen berühmt.

So stieg denn der König auch vom Pferd, begrüßte den andern und führte ihn in die Stadt und in seinen Palast. Er ließ ihm ein schönes Haus zuweisen und gab ihm nach wenigen Tagen seine Tochter zur Frau. Damit der schöne Mann, seiner vermuteten hohen Stellung nach, aber auch gewohnheitsgemäß gut wohne, ließ der Melik für ihn und seine Tochter ein schönes Haus mit reicher Ausstattung herrichten, in das er am Tage der Hochzeit eingeführt wurde. Als der schöne Jüngling aber das Haus betrat und die Pracht der Teppiche und des Silberschmuckes sah, geriet er vor Verwunderung über den ungewohnten Anblick solchen Reichtums in Bestürzung und taumelte zurück. Die Boten des Königs, die den Jüngling hereingeführt hatten, sahen aber solches Benehmen mit Verwunderung und liefen sogleich zum König hinüber, ihm hierüber Bericht zu erstatten.

Als der König von den deutlichen Zeichen der Verblüfftheit seines schönen Schwiegersohnes hörte, sagte er: "Dieser junge Mann ist sicherlich größern Reichtum und größere Pracht gewöhnt. Sagt ihm also, dies wäre nur ein vorläufiges Unterkommen für ihn und meine Tochter, und ich würde sogleich ein prächtigeres Haus für ihn errichten lassen." Seinen Worten gemäß ließ der König dann so schnell als möglich ein größeres und viel prunkvolleres Haus bauen und ausschmücken. Als man seinen Schwiegersohn aber da hineinführte, packte ihn die Bestürzung über solche Herrlichkeit genau so wie das erste Mal. Und der König, dem dies unverzüglich wieder hinterbracht wurde, glaubte nicht anders, als ob dies Haus eben auch noch nicht den Gewohnheiten und Ansprüchen seines Schwiegersohnes genüge.

Die Folge war, daß der König ein drittes, noch prunkvolleres Haus bauen ließ, bei dessen Betreten der Jüngling aber noch mehr erschrak. Und da weder der König noch irgendeiner seiner Ratgeber den wahren Grund dieses merkwürdigen Betragens erriet, so wurde ein viertes, ein fünftes und ein sechstes Haus gebaut, von denen eines immer köstlicher errichtet und ausgestattet war als das vorhergehende. Als der König aber vernahm, daß der Jüngling auch bei Besichtigung des sechsten Hauses kein anderes Benehmen an den Tag gelegt hatte, als bei der Besichtigung des vorhergehenden -da sagte er: "Gut denn! Dieser Jüngling unternimmt



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es, meine Geduld allzu scharf auszunützen. Ich will nun noch ein siebentes Haus bauen, dessen Herrlichkeit alles übertreffen soll, was man bisher gesehen hat. Wenn dem Jüngling dies auch nicht genügt, werde ich ihn töten lassen, trotzdem er ein Königssohn und mein Schwiegersohn ist."

So wurde denn das siebente Schloß gebaut und dabei an Pracht und Schmuck alle Kunstfertigkeit, die überhaupt denkbar ist, entfaltet. Am Tage nun als es fertig war und der Melik es selbst sehr befriedigt betrachtete und wiederum geäußert hatte, daß er den Jüngling töten wolle, wenn das Haus noch nicht genüge, kamen wieder Sad und Agel des Weges, und Agel (der Verstand) sagte: "Sieh, morgen wird dein Freund getötet werden, trotzdem du alles für ihn getan hast, was möglich war." Sad sagte: "Dies setzt mich allerdings in Erstaunen. Wir wollen ihn aufsuchen." Sad und Agel traten bei dem schönen Jüngling ein, welcher sehr traurig auf seinem Angareb lag, weil er gehört hatte, daß der König ihn morgen vielleicht töten lassen wolle, er sich aber nicht denken konnte, welches der Grund hierzu wäre. Als der schöne Jüngling nun Sad (das Glück) und Agel (den Verstand) eintreten sah, sagte er bei sich: "Mein Freund Sad hat mich in Gefahr gebracht. Ich muß sicher sterben, wenn ich nicht genügende Klugheit gewinne, diese Sache zu einem guten Ende zu führen." Also sagte der Jüngling zu Sad und Agel: "Ich freue mich unendlich, euch wiederzusehen. Ich bitte aber nunmehr Agel, mit mir Freundschaft zu schließen." Agel sagte: "Ich will sehen, wie weit ich dich bringen kann." Dann gingen Sad und Agel wieder fort.

Als der Jüngling nun am andern Morgen in den siebenten über alle Denkbarkeit köstlichen Palast geführt wurde, sagte er: "Seht, dies ist ein Palast, wie er unsern Gewohnheiten entspricht. So habe ich mir das Haus gedacht, in dem ich wohne, solange ich bei meinem Schwiegervater weile. Geht und sagt ihm meinen Dank." Die Leute eilten sogleich zum Melik und hinterbrachten ihm die Nachricht über das geänderte Benehmen seines Schwiegersohnes. Der Melik war darüber aber sehr froh und sagte: "Ich habe das Richtige getroffen und freue mich nun meines Schwiegersohnes doppelt. Wenn er in einigen Monaten in seine Vaterstadt zurückkehren will, so soll ihm das gern gestattet werden, und ich will ihm ein ganzes Heer von Soldaten und eine Flotte als Begleitung mitgeben."



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So geschah es. Nachdem der schöne Jüngling einige Monate bei seinem Schwiegervater gewesen war, bat er um die Erlaubnis, mit seiner Gemahlin in die Stadt seines Vaters zurückzukehren, und der König rief einen General und befahl ihm, den schönen Jüngling mit vielen Soldaten und Schiffen zu begleiten und unterwegs auszuführen, was der Jüngling wünsche. Der Schwiegersohn nahm dann von dem König Abschied, bestieg mit seiner Gemahlin ein prächtiges Schiff und fuhr an der Spitze der Flotte auf dem Flusse von dannen.

Nachdem sie nun lange, lange Zeit an vielen Plätzen dahingefahren waren, kamen sie an eine große, große Stadt, die sehr schön gebaut war und in der alle Welt in schöne Kleider gehüllt und mit prächtigem Schmuck geziert war. Als der schöne junge Mann das sah, sagte er zu dem General: "Dies ist die Stadt, die vorher meinem Vater gehört hat. Fremde Leute haben meine Familie vertrieben. Nun wollen wir die Stadt wieder einnehmen." Der General sagte: "Dieses ist eine Sache für mich!" Und der General griff die Stadt sogleich vom Wasser und vom Land her an, so daß sie bald eingenommen war.

So zog denn der schöne Jüngling bald in seine Stadt ein, und er mußte sich sagen, daß er selbst nicht einmal erhofft hatte, eine so herrliche Stadt zu finden. Als er aber durch das Tor seines Palastes ritt, fand er, daß eine Frau dahinter stand. Der schöne Jüngling fragte also die Frau: "Wer bist du? Was willst du hier?" Das Weib sagte: "Ich bin die Ginia (Maskul.: Aldjann?) Mariam Kuba und habe immer den Herren des Palastes gedient." Der neue junge König sagte: "Wie hast du denn deine Dienste erwiesen?" Die Ginia sagte: "Wenn mein Herr einen Dienst von mir verlangt, steigt er auf meinen Rücken und sagt mir, wo er zu sein wünscht. Ich bringe ihn dann nach jedem gewünschten Platz." Der neue junge König war über diese Erwerbung sehr erfreut und sagte: "Du kannst in meinem Dienste bleiben."

Der neue junge König ordnete nun alle Angelegenheiten der Stadt, setzte Generäle und Richter ein, verteilte die Reichtümer des Landes und beschloß dann, seinen Schwiegervater zu besuchen und ihn außerdem zu einer Besichtigung seines Landes einzuladen.

Er bestieg also den Rücken der Ginia, die hinter dem Tore immer seine Befehle erwartete und sagte: "Bringe mich sogleich in den Garten meines Schwiegervaters." Im nächsten Augenblick befand sich der junge schöne König an dem gewünschten Ort, und der alte



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Melik, sein Schwiegervater, kam auf ihn zu. Als der alte Melik den Schwiegersohn plötzlich vor sich sah, erstaunte er und sagte: "Du bist es? Wo kommst du denn her? Ich denke, du bist in die Stadt deines Vaters, die so weit fort liegen soll, zurückgekehrt?" Der junge schöne Mann sagte: "Gewiß, das bin ich auch, und ich habe mit Hilfe des Generals und der Soldaten auch alle schlechten Leute, die darin waren, und die uns den Platz weggenommen hatten, vertrieben. Nun bitte ich dich, mit zu mir zu kommen und deine Tochter in meiner Stadt zu begrüßen." Der alte Melik sagte: "Das ist sehr merkwürdig! Wie bist du denn hierher gekommen?" Der junge schöne Mann sagte: "Wie ich hierher gekommen bin? Nun, auf dem Rücken meiner Ginia Mariam Kuba, auf dem ich dich auch mit in meine Stadt nehmen will. Sende, wenn du willst, deine Flotte auf dem Wasser nach und komme mit mir."

Der alte Melik schüttelte zwar den Kopf. Er gab aber doch im Palaste seine Anordnungen, kehrte in den Garten zurück und setzte sich mit seinem Schwiegersohn auf den Rücken der Ginia Mariam Kuba. Der Schwiegersohn sagte: "Bringe uns in meine Stadt und in meinen Palast!" Sogleich war der alte Melik mit dem schönen jungen Mann in der großen Stadt, mitten im Palaste, und seine Tochter kam ihm mit freudiger Begrüßung entgegen. Der alte Melik war erstaunt und beglückt über den Reichtum und die Herrlichkeit, in der seine Tochter und sein Schwiegersohn lebten. Er betrachtete die Stadt und alle Anlagen, er blieb einige Tage und sagte dann: "Ich sehe, daß ihr sehr glücklich und schön hier lebt. Nun aber möchte ich wieder in mein Land zurückkehren." Der junge Melik begleitete also den Alten hinab, bat ihn, auf dem Rücken der Ginia Mariam Kuba Platz zu nehmen und befahl der Ginia, den alten Melik sogleich in seine Stadt und in seinen Palast zu tragen und dann zurückzukehren. Die Ginia kam dessen Befehle nach, so daß der alte Melik einen Augenblick später in seinem Palaste anlangte.

Zwei Jahre nachher saß der alte Melik in seinem Palaste über alte Bücher gebeugt, las viel und sagte: "Ich habe meine Tochter diesem jungen Manne gegeben, ohne recht zu wissen, wer sein Vater und seine Mutter gewesen sind. Ich kann über alles das und jene Stadt auch nichts in meinen Büchern finden." So wurde denn der alte Melik ganz traurig und besorgt, und seine Traurigkeit nahm von Tag zu Tag so zu, daß er endlich beschloß, sich mit seiner Flotte



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auf den Weg zu machen und von seinem Schwiegersohne genaue Auskunft zu verlangen. So geschah es. Nach langer Fahrt kam der alte Melik wieder in der prächtigen Stadt seines Schwiegersohnes an. Er wurde mit großer Freude aufgenommen, und der junge König fragte den alten Melik: "Ich bitte dich mir zu sagen, weshalb du gekommen bist!" Darauf sagte der alte König: "Sieh, mein junger Freund, du bist mein Sohn geworden, indem ich dir meine Tochter zur Frau gegeben habe. Ich habe inzwischen in allen alten Büchern nachgeschlagen; ich kann aber nichts von deiner Familie und von dem Königtum deines Vaters finden. Kläre mich also darüber auf. Morgen wollen wir vor allen meinen Vornehmen zusammenkommen, und dann gib mir auf diese Frage genügende Auskunft, oder ich muß dich töten." Damit entließ der alte Melik seinen Schwiegersohn.

Der junge schöne Mann ging bedrückt in seinen Palast. Er sagte bei sich: "Nun habe ich das Glück zum Freund und habe den Verstand zum Freund. Und doch bin ich wieder am Rande des Grabes. Hier hilft mir weder mein Freund Sad noch mein Freund Agel. Wer soll mir nun helfen?" Er ging in sein Zimmer und legte sich auf das Angareb um zu schlafen. Unten auf der Straße gingen aber Sad und Agel vorbei und sagten untereinander: "Hier können wir beide nicht helfen." Und Sad und Agel waren auch traurig.

Inzwischen lag der junge schöne Mann auf dem Angareb und schlief ein. Nach einiger Zeit sah er aber im Traum einen Mann, der sagte zu ihm: "Sage die Wahrheit!" Der junge Mann erwachte und fuhr auf. Er sah aber in der Erinnerung noch ganz deutlich den Mann und glaubte es noch zu hören, wie der Mann sagte: "Sage die Wahrheit!" Der junge schöne Mann schlief aber wieder ein und träumte sehr ängstlich, und dann erschien ihm im Traum wieder der gleiche Mann und sagte: "Sage die Wahrheit !" Der junge Mann erwachte und fuhr auf. Er sah und hörte in der Erinnerung noch ganz deutlich den Mann. Da sagte der junge schöne Mann bei sich: "Gut, ich werde morgen die Wahrheit sagen!"

Am andern Tage versammelte der alte Melik alle Vornehmen und Generäle um sich und ließ dann seinen Schwiegersohn kommen. Der junge schöne Mann kam. Er warf sich vor dem alten Melik nieder und begann: "Ich werde dir die Wahrheit sagen." Danach erzählte er alles, wie er Sad (das Glück) und Agel (den Verstand) das erste Mal getroffen und wie er mit ihnen Freundschaft geschlossen und es dann bis dahin gebracht habe, wo er jetzt liege, nämlich



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vor den Füßen des Königs. Als der Melik alles gehört hatte, war er über die Ehrlichkeit seines Schwiegersohnes sehr erfreut, und er setzte ihn über zwei Länder und gab ihm viel Macht. Über das Tor der großen Stadt ließ er aber eine Inschrift setzen, die lautete: "Wenn ein Mann Glück und Verstand zu Freunden hat und wenn er dann noch ehrlich bleibt, kann er der Herr aller Städte der Welt werden!"


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