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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


Die Kordofaner Märchen

Es war stets mein Bestreben, nicht nur die Märchen und Erzählungen der Völker, unter denen ich lebte, zu hören und aufzuzeichnen, sondern auch allem nachzuspüren, was ich von der eigenen Meinung der Erzähler über die Herkunft und die Entstehung ihrer Volksdichtung etwa in Erfahrung bringen konnte. Allerhand Klares und Durchsichtiges kam hierbei ans Tageslicht. Etwas so Eigenartiges wie die Erzählung des Foraners Arach-ben-Hassul ist mir aber weder vorher noch nachher in die Sammelmappen gekommen. Denn entweder hat dieser Bericht für das Verständnis der nachfolgenden Erzählungen eine unermeßliche oder aber gar keine Bedeutung, d. h. entweder ist der Zusammenhang mit der Kunst des Märchenerzählens wirklich hiermit gegeben, will sagen,



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ist in irgendeiner Richtung ein tatsächlich Historisches, oder es ist ein durch Volksdichtung künstlich Hergestelltes.

Diese Frage geht nun aber nicht etwa nur die Märchen der Kordofaner an. Die Beantwortung dieser Frage kann auch noch ganz andere Tiefen aufklären. Denn der Stil, die Vortragsweise und die Bauweise der Kordofaner Märchen hat eine auffallende Ähnlichkeit mit denen von Tausendundeiner Nacht, einer Sammlung, die bekanntlich zum ersten Male in Agypten aufgezeichnet wurde, deren weitaus meiste und beste Stücke aber nicht aus Agypten stammen. Die Ähnlichkeit dieser berühmtesten unter allen Märchensammlungen und dieser aus Kordofan ist eine erstaunliche, und um so verblüffender ist es mir, daß ich an keiner Stelle eine direkte Übertragung oder Nacherzählung an den wirklich bodenständigen Märchen Kordofans erkennen kann. Wenn nun wirklich keine der beiden Arten von der andern abstammt, so ist nur noch eine Samenverwandtschaft örtlicher oder zeitlicher Natur denkbar. Sollte die Erzählung des Foraners also auf irgendeiner historischen Tatsächlichkeit beruhen, so ist damit zweifellos auch ein Beitrag zur Urgeschichte von Tausendundeiner Nacht gegeben. Ein zweiter Grund, die Erzählung des Foraners fest ins Auge zu fassen.

Vergegenwärtigen wir uns kurz die geographischen, dann die zeitlichen und drittens die kulturgeschichtlichen Angaben, die das Märchen oder besser die Sage bietet.

An geographischen Angaben haben wir erstens Napht oder Naphta, das im Lande Kordofan, und zwar mit seiner Hauptstadt nach Süden hin den Kupferminen zu gelegen haben soll. Dann wird von For als dem heute noch bestehenden Land, dann von Nubien, von Ägypten (= Masr) und Abessinien gesprochen. Wie gesagt, ist eigentlich von Kasch, dessen Untergang der Foraner hier motivieren will, dem äußern Anschein nach nicht die Rede. Nun muß es auffallen, daß im ersten Satz der Erzählung von Napht nicht die Rede ist, sondern nur von Kordofan, und daß im zweiten Satz Napht nach Kordofan versetzt oder gar mit ihm identifiziert wird. Nun muß jedem Kenner der Geschichte dieser Länder sogleich dieser Name Napht auffallen. Er erinnert allzu sehr an das Napata der Alten, das Land, aus dem den alten Agyptern das Gold zufloß und dessen Name fraglos mit ägyptisch nubt = Gold zusammenhängt. Hier heißt es nun vom König von Napht: "Er war der Besitzer von allem Gold und Kupfer." Dabei wird auf die tatsächlich vorhandenen, heute verfallenen, meist aber sicherlich einmal großartig gewesenen Kupfergruben von Hophrat-en-Nahas hingewiesen. Halten wir uns an diese Tatsächlichkeit, so ergibt sich, daß das Napht des Märchens sehr wohl ein Tributär des einst und eine so lange Zeit hindurch mächtig gewesenen Königreichs Napata-Meroe südlich Nubiens gewesen sein kann.



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Ist dem so gewesen, dann wäre das geographische Bild auf afrikanischem Boden geklärt und die Summe der geographischen Angaben aller Widersprüche behoben. Denn auch der Name Kasch, der nur in der Voranzeige, nicht aber im Innern der Sage vorkommt, ist dann leicht erklärt. Wie ich auf 5. 9 geschildert habe, bin ich über diesen Namen mit dem Foraner beinahe in Streit geraten. Heute bin ich der Ansicht, daß ich hierbei doch wohl der Dumme oder wenigstens Unbeholfene gewesen bin. Denn "das große Reich", das im ersten Satze wie am Ende des drittletzten Absatzes vorkommt, und auf das ich damals nicht achtete, ist augenscheinlich das Reich Kasch. Bedenken wir nun, daß die Sage vier Könige in diesem Reiche erwähnt, nämlich die von Nubien, Abessinien, Kordofan (mit Napht) und Dar For, so ist es sehr gut denkbar, ja bis auf das letztgenannte Land sicher, daß wir in der Tat ein Gebiet vor uns haben, das im Altertume von kaschitischen oder kuschitischen Völkern bewohnt war. Dazu wäre noch zu bemerken, daß die alten Ägypter sicher nicht stets so wütend von "dem elenden Kusch (oder Kasch)" gesprochen haben würden, wenn in ihm nicht kulturelle oder natürliche Überlegenheiten wirksam gewesen wären, die den Ägyptern fehlten und diese zu jahrhundertelang durchgeführten Kämpfen mit dem kaschitischen Vorwerk Nubien veranlaßten.

Nun kommt aber noch ein geographisches Moment als sehr wichtig in Betracht: das Land der Herkunft des Helden der Erzählung, des Far-li-mas. Dieser, der Bringer der Märchen, kam aus dem Lande jenseits des Meeres im Osten. Far-li-mas hatte also seine Heimat nicht in Afrika, sondern jenseits des Roten Meeres. Wo dieses Land zunächst gesucht werden muß, ergibt sich sehr einfach, wenn wir uns den reichen Inhalt zur Bestimmung des Alters der darin geschilderten Sitten untersuchen.

Der Ausgangspunkt der Erzählung ist der "rituelle Königsmord", über den ich ja oben schon kurz gehandelt habe und der bei einigen Stämmen dieser Länder ja heute erst jüngst als Sitte ausgestorben ist. Er wurde im Altertum auch bei den kaschitischen Völkern am obern Nil, in Meroe-Napata, geübt, und Diodor, des Sizilianers Erzählung vom Ende dieser Sitte*, erinnert stark an unsere Erzählung.



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Ferner wird dies Sittenbereich und die Weltanschauung charakterisiert durch ein Priestertum, das die Sterne und den Lauf des Mondes, sowie seine Konstellation beobachtet, durch das heilige Feuer, das mit dem Tode und der Neubestattung des Königs gelöscht resp. entzündet wird, durch königliche Feldbestellung als Kultushandlung, durch den Brauch des vom König erkorenen Todesgenossen usw., und nicht zuletzt durch die starken matriarchalischen Züge.

Dies alles ist durchaus organisch zusammengehörig. Das Bild ist ohne jede Kompliziertheit einfach. Vom letzten Punkt ausgehend, sehen wir zunächst in Sah eine weibliche Persönlichkeit und in ihrer Handlung als solcher eine solche Freiheit, wie sie die Frauen dieser Länder seit Jahrhunderten nicht mehr besitzen. Sie paßt aber durchaus in eine Zeit, in der die Schwester eines Königs oder dessen Tochter, nicht aber der Sohn des Herrschers dessen Nachfolger wird. Das ist nicht nur erlöschendes (wie heute noch vielfach zu beobachten) oder nur formales Matriarchat. Es ist die Form, die seiner Zeit um die Küsten des Roten Meeres, in Südarabien wie an der Westküste Ostindiens heimisch war. Wenn dazu nun noch ins Auge gefaßt wird, daß in genau den gleichen Ländern früher auch der rituelle Königsmord geübt wurde, so ist damit der Bereich umschrieben, in dem außerhalb Afrikas kaschitische Kultur blühte. Es ist das um die nördlichen Randländer des Indischen Ozeans heimische östliche Kasch, im Gegensatz zu dem auf afrikanischem Boden eingesiedelte westliche Kasch.

Dieses östliche Kasch hatte im Altertum eine heute nur erst von wenigen geahnte Kulturbedeutung. Babylon wie Ägypten empfingen von ihm aus reichen Kulturzufluß. Besonders das südliche (glückliche) Arabien, das Heimatland des Weihrauchs, besaß bedeutenden Einfluß. Uns wird dieses sofort klar, wenn wir bedenken, daß hier auch das Königreich lag, durch dessen Schätze Judäa so reich wurde.

Als wir nun im Jahre 1915 langsam durch das Rote Meer strichen und ich manche Stunde mit den arabischen Schiffsleuten verplauderte, hörte ich von einer anscheinend weitverbreiteten Ansicht, die vielleicht dazu beiträgt, hier mancherlei aufzuklären. Meine



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Könige den Priestern, nicht durch Waffen oder Gewalt überwunden, sondern weil ihre Vernunft unter der Gewalt des Aberglaubens stand. Allein zur Zeit Ptolomäus II. wagte es Ergamenes, König der Äthiopier, der eine griechische Erziehung erhalten und sich auf die Philosophie gelegt hatte, zuerst diesen Befehl zu verachten. Mit einem aufgeklärten, des Thrones würdigen Edel.. mute, drang er mit seinen Soldaten in den unzugänglichen Ort, wo der goldene Tempel der Äthiopier war, brachte die Priester alle um, hob diese Gewohnheit auf und richtete alles nach seinem Gutdünken ein.



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Gewährsmänner behaupteten nämlich steif und fest, alle Märchen von Tausendundeiner Nacht wären zuerst in Hadramaut (Südarabien) erzählt worden und hätten sich von dort aus über die Erde ausgedehnt. Ganz besonders nahmen sie für sich die Geschichte von Sindbad dem Seefahrer in Anspruch.

Ob dieses im Speziellen berechtigt ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Für viele Märchen mag es zutreffen. Daß aber Südarabien, das Mittelland des östlichen Kasch, ein Heimatland der Erzählerkunst ist, das ist mir sicher, und wenn ich mich an der Hand dieser Tatsache für ein Land entscheiden soll, das mir als das Gegebene für die Herkunft des Märchenerzählers Far-li-mas erscheint, so ist dies in der Tat Südarabien.

Wenn dieser Annahme nichts widerspricht, so darf ich zum zweiten wohl auch die Meinung äußern, daß nicht nur dieser mystische Märchenerzähler, sondern auch der größte Teil der in Kordofan kursierenden und der von mir hier wiedergegebenen Märchen aus Südarabien stammt und nur seine letzte Form in Kordofan angenommen hat.

Nun kurz noch die letzte Frage, in welcher Zeit dieser Kulturzufluß von Südarabien, dem Hauptlande des östlichen Kasch, nach dem Innern des westlichen afrikanischen Kasch stattgefunden hat. — Kaschitische Kulturzuflutungen nach Nordostafrika haben seit langem, vielleicht durch Jahrtausende, in ständigem Fließen bald abflauend, bald anschwellend stattgefunden. Zwischen jenen, die den rituellen Königsmord nach Afrika trugen und jenen, die das letzte Reich in Abessinien gründeten, verstrichen viele Menschenalter.

Zunächst müssen wir uns an ein nachher und an ein vorher halten. Sicherlich hat der Typus der Erzählungen mit dem alten Napata-Meroe nichts zu tun. In jener Zeit erzählte sich das Volk andere Geschichten. In der klassischen Zeit des Altertums war dieser Stil noch nicht erreicht. Ich setze also das post nach dem Altertum. Das ante gewinnen wir durch die Tatsache, daß die neu zugewanderten Stämme, die heute wie ein Riegel zwischen Kordofan und dem Roten Meer lagern, nichts von solchen Märchen wissen.

Es bleibt nur also der Raum zwischen dem 8. Jahrhundert (Abschließung Napata-Nubiens durch den Islam) und dem 14. Jahrhundert. Dieser Zeitraum stimmt sicherlich annähernd. Denn dies ist die Zeit, in der auch in Agypten, Persien und Indien an den Höfen das Märchenerzählen Sitte wurde. Aus dem Anfange dieser Zeit, nämlich aus dem 10. Jahrhundert, ist uns auch die erste Niederschrift von Tausendundeiner Nacht bekannt, ohne daß es bis heute gelungen wäre, dessen erste indische und persische Fassung in Augenschein zu gewinnen.



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Mit Tausendundeiner Nacht hat aber die Einführungserzählung des Foraners Arach-ben-Hassul eine frappierende Ähnlichkeit. In Tausendundeiner Nacht errettet sich die schöne Schahrazad durch Märchenerzählen von dem Tode. In der Sage Arach-ben-Hassuls wird durch das Märchenerzählen der Held, seine Geliebte und der König vom Tode errettet, wobei allerdings auch hier das Weib, die Prinzessin Sah, geistige Urheberin der Unternehmung ist.

Zu dieser frappierenden Übereinstimmung sei es mir gestattet, dieser Erzählung sogar dem köstlichen Tausendundeiner Nacht gegenüber ein überordnendes Eigenlob auszusprechen: Die Erzählung von Far-li-mas, dem Manne aus dem Lande jenseits des östlichen Meeres, ist feiner gesponnen als die von der schönen und gewandten Schahrazad.

Erzählt der Afrikaner besser? Wohl kaum! Oder ist dies eine ältere, noch nicht so abgegriffene und durch viele indische, persische und ägyptische Umerzählung abgeschliffene Urfassung?



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KARTE DER LÄNDER UM KORDOFAN


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