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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


54. Die kostbaren Eier

Ein Mann ging alle Tage in den Wald, um Holz zu schlagen. Er war verheiratet und hatte zwei Söhne und eine alte Dienerin im Hause, aber Ackerland hatte er nicht, und um das Brot für sich und seine Kinder zu verdienen, ging er alle Tage in den Wald, schlug Holz, trug es in die Stadt und verkaufte es.

Eines Tages war der Holzhauer, wie immer, im Walde; er hatte seine Last Holz geschlagen und zusammengebunden. Er ruhte noch einen Augenblick aus und hatte sich auf seine Last gesetzt, da sah er nahe vor sich ein Nest und in dem Nest ein Ei von eigenartiger Farbe. Der Holzhauer nahm das Ei aus dem Nest und steckte es in seine Kleider. Er sagte: "Vielleicht gibt mir einer im Orte dafür dasselbe wie für ein Hühnerei." Er schulterte danach seine Last und trug sie in den Ort, in dem er sein Holz gewöhnlich verkaufte.

Ehe er in der Ortschaft anlangte, setzte er sich noch einmal am Wege nieder, um auszuruhen. Dabei fiel ihm das Ei ein, das er heute morgen im Neste beim Holzschlagen gefunden hatte. Der Holzhauer betrachtete noch das Ei, als ein Jude vorbeikam, der das Ei in der Hand des Mannes sogleich sah. Der Jude trat heran und sagte: "Darf ich einmal das Ei sehen?" Der Holzhauer gab es ihm. Der Jude nahm es und betrachtete es. Der Holzhauer sagte: "Es ist ein frisches und sehr schönes Ei." Der Holzhauer lobte es, weil er glaubte, dadurch zu erreichen, daß der Jude ihm dafür vielleicht so viel zahlen würde wie für ein Hühnerei, wenn es auch kein Hühnerei war. Der Jude sagte: "So weißt du also, daß es ein ungewöhnlich schönes Ei ist." Der Holzhauer sagte: "Gewiß sehe ich es und ich verkaufe es auch nur, wenn du dafür einen guten Eierpreis zahlst." Der Holzhauer dachte: "Der Mann weiß also, was das Ei wert ist."Der Jude sagte: "Ich biete dir dafür fünfundzwanzig Goldstücke." Der Holzhauer dachte, der andere wolle sich über ihn lustig machen und sagte: "Laß das und sage mir den wahren Preis, den du zahlen willst." Der Jude dachte, der Holzhauer verlange noch



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mehr und sagte: "Ich will dir dreißig Goldstücke geben." Der Holzhauer, der noch immer meinte, jener scherze, hob seine Holzlast auf und sagte: "Ich habe keine Zeit, lange zu reden. Zahle einen guten Preis oder gib das Ei!" Der Jude sagte schnell: "Ich biete dir fünfzig Goldstücke, soviel habe ich bei mir!" Der Holzhauer sagte: "Nun, so halte dein Wort und zahle die fünfzig Goldstücke oder laß mich weitergehen." Der Jude griff darauf in die Tasche und zählte dem Holzhauer die fünfzig Goldstücke vor. Der Holzhauer gab das Ei, nahm die Goldstücke, steckte sie in die Tasche und ging kopfschüttelnd in den Ort, um sein Holz zu verkaufen.

Der Holzhauer wußte nicht, was er von der Sache denken sollte und sagte an diesem Tage, als er heimkam, auch noch nichts davon seiner Frau. Er versteckte die Goldstücke und ging am andern Morgen wie gewöhnlich in den Wald, um sein Holz zuschlagen. Dann kam er an der Stelle vorbei, an der er gestern gesessen hatte, schaute wieder in das Vogelnest, und er fand abermals ein Ei darin. Der Holzhauer nahm es heraus und sagte: "Wenn der Jude für das erste Ei fünfzig Goldstücke bezahlt hat, bezahlt er für das zweite vielleicht ebensoviel." Und richtig, als er an den Ort kam, traf er wieder den Juden, und der gab ihm ohne langes Hin- und Herreden wieder fünfzig Goldstücke. Auch an diesem Tage behielt der Holzhauer die Geschichte für sich. Als er aber am dritten Tage im Walde abermals im gleichen Neste ein gleiches Ei fand und der Jude ihm wiederum fünfzig Goldstücke auszahlte, da konnte er sein Geheimnis nicht mehr bei sich behalten.

Er erzählte in der Nacht seiner Frau: "Ich habe hundertundfünfzig Goldstücke verdient, wir sind nun wohlhabende Leute!" Die Frau fuhr auf und sagte: "Mann, du hast sicherlich eines unsrer Kinder verkauft." Der Holzhauer versicherte hoch und teuer, daß das nicht der Fall sei und erzählte dann, wie er mit Hilfe der Eier, die er an drei aufeinanderfolgenden Tagen in dem Neste gefunden habe, zu dem Reichtum gekommen sei. Als die Frau alles gehört hatte, sagte sie: "Ich werde dich morgen früh zu dem Neste begleiten, damit ich die Eier selbst kennen lerne." Der Holzhauer führte sie hin. Es lag wieder ein Ei drin. Die Frau sagte: "Nimm heute das Ei nicht heraus. Wir wollen es liegen lassen. Morgen wollen wir aber ganz früh eine Vogelfalle (Tachelat oder Taghelad) aufstellen und wollen uns den Vogel fangen. Wir werden ihn in einen Käfig setzen, und dann soll er uns seine Eier täglich in das Nest legen. Du kannst sie dem Juden verkaufen, und wir erzielen so eine regelmäßige



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Einnahme." Der Holzhauer fand diesen Vorschlag ausgezeichnet Und stellte die Falle am andern Tage ganz früh auf.

Der Holzhauer fing den Vogel. Die Frau setzte ihn in einen Käfig mit einem Nest, und der Mann nahm das Ei, das der Vogel täglich legte und verkaufte es regelmäßig, Ei für Ei zum Preise von fünfzig Goldstücken an den Juden. Der Jude überlegte sich mittlerweile, wie er wohl in den Besitz dieses Vogels kommen könne. Nachdem der Holzhauer ihm eines Tages erzählt hatte, daß er die Eier nicht mehr im Neste suche, sondern den Vogel jetzt bei sich im Hause habe, sagte der Jude zu sich selbst: "Dieser dumme Holzhauer weiß nicht, daß der Kopf und das Herz dieses Vogels dem, der sie beide genießt, die größte Klugheit und den größten Reichtum verschaffen, den es gibt. Ich werde den dummen Holzhauer wegschaffen und seine Frau heiraten. Ich werde den Holzhauer nach einem Orte schaffen, wo er sicher für sein Leben festgehalten wird, und von der Frau, sobald ich sie geheiratet habe, verlangen, daß sie mir den Vogel schlachtet und zum Essen vorsetzt."

Eines Tages sagte der Jude zu dem Holzhauer: "Höre, mein Freund, du bist nun durch mein Gold und den Verkauf der Eier so wohlhabend geworden, wie ich es selbst bin. In meinem Geschäft fehlt mir ein tüchtiger Teilhaber, der den Handel über die See betreibt, damit das Geschäft noch mehr abwirft. Deshalb bin ich bereit, dich zu meinem Teilhaber zu machen und mit dir in Zukunft allen Nutzen, den mein Geschäft abwirft, zu teilen." Der Holzhauer sprach daheim mit seiner Frau darüber, und seine Frau erklärte sich freudig einverstanden, da sie auf diese Weise die Frau eines angesehenen Kaufmanns wurde.

Der Holzhauer wurde also der Geschäftsteilnehmer des Juden. Nachdem er nun in die Art und das Wesen des Handels eingeführt war, übergab der Jude ihm eines Tages eine gewisse Masse von Ware und sagte: "Hiermit reise an das Meer. Schiffe dich mit den Waren ein und fahre nach dem gegenüberliegenden Ufer. Dort ist eine Stadt, deren Bewohner sehr reich und deren Fürst sehr gierig auf neue Waren ist. Zeige die Waren dem Fürsten, und du wirst ein ausgezeichnetes Geschäft machen." Der Holzhauer machte sich mit seinen Waren auf den Weg. Er reiste an das Meer, bestieg ein Schiff und kam wohlbehalten in der reichen Stadt mit dem gierigen Fürsten an. Er legte diesem auch alsbald seine Waren vor. Dieser Fürst war aber wirklich gierig nach neuen Sachen, so gierig, daß er sogleich beschloß, die Waren des Holzhauers zu behalten, ohne zu bezahlen.



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Der Fürst fuhr den Holzhauer also hart an und fragte ihn nach seiner Erlaubnis freien Handels. Der Holzhauer sagte, daß er nicht wisse, was eine solche Erlaubnis bedeute und fragte, ob er nicht überall die Freiheit habe, Handel zu treiben. Der Fürst sagte: "Das will ich dir gleich beweisen." Dann befahl der gierige Fürst seiner' Leuten, den Holzhauer gefangenzunehmen und zur Strafe arbeiten zu lassen. Der Holzhauer wurde nun in einen Wald geführt. Es wurde ihm gesagt, daß er den Wald zu fällen und an Stelle der umgeschlagenen neue Bäume zu pflanzen habe. Wenn diese neu gepflanzten Bäume Früchte trügen, dürfe er das Land wieder verlassen. —

Der Holzhauer war abgereist, und als die Zeit, die für seine Rückkehr festgesetzt war, verstrichen war, fragte die Frau oftmals den Juden, ob er nichts von seinem Geschäftsteilhaber, ihrem Manne, gehört habe. Der Jude sagte stets, er wisse von nichts. Als aber die Zeit lange verstrichen war, sagte er, nach allem, was er von Geschäftsfreunden gehört habe, sei der Mann doch wohl mit dem Schiffe untergegangen. Wieder einige Zeit später kam er von selbst zu der Frau und sagte, heute habe er einen Mann gesprochen, der der einzig Überlebende von jener Schiffsbesatzung sei, mit der der Holzhauer ausgefahren sei, und der habe den Holzhauer untergehen sehen. Die Frau weinte darauf eine Zeitlang; da sie sich aber allmählich schon an den Gedanken, den Gatten verloren zu haben, gewöhnt hatte, so beruhigte sie sich bald, und nun machte der Jude ihr den Vorschlag, seine Frau zu werden. Die Frau war durch den Gedanken, die Gattin eines so reichen und angesehenen Kaufmanns zu werden, sehr geschmeichelt. Sie erklärte sich damit einverstanden. Der Jude sagte ihr dann, daß sie am Hochzeitstage den Vogel essen wollten, den der Holzhauer als Andenken hinterlassen hatte. Auch hierzu war die Frau des Holzhauers bereit, bat den Juden aber, ihren beiden Söhnen, die inzwischen zu Burschen herangewachsen waren, davon nichts zu sagen, ehe die Ehe nicht abgeschlossen sei.

Als der Tag, den der Jude und die Frau des Holzhackers zu ihrer Verehelichung festgesetzt hatten, gekommen war, gab die Frau der Dienerin den Auftrag, den Vogel, der im Käfig gehalten wurde, zu schlachten und zum Abend zu bereiten. Dann ging die Frau selbst in den Ort und versprach, am Abend wiederkommen zu wollen. Als es Nachmittag war, kamen die beiden Söhne des Holzhackers vom Acker nach Hause. Sie fragten die Dienerin, was sie zum Abendessen bereite. Die Dienerin sagte: "Ich habe den Auftrag, zum Abendessen



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den Vogel zu kochen, den euer Vater seinerzeit in den Käfig gesetzt hat." Der ältere Bruder sagte: "Ich werde gleich einmal sehen, wie er schmeckt." Er öffnete den Kochtopf, griff das erste Stück heraus, das ihm zwischen die Finger kam. Das war aber der Kopf des Vogels. Der Altere verzehrte also den Kopf des Vogels. Der Jüngere, der aber hinter seinem Bruder nicht zurückstehen wollte, griff auch in den Topf und nahm das erste beste Stück heraus, das ihm zwischen die Finger kam. Es war das Herz des Vogels. Der Jüngere schluckte also das Herz des Vogels hinunter.

Kaum hatte der ältere Bruder den Kopf des Vogels genossen, so wurde er auch gleich von der außerordentlichen Klugheit ergriffen, die der Genuß mit sich brachte. Er sagte zu seinem jüngeren Bruder: "Daß unsre Mutter heute diesen Vogel hat schlachten lassen, muß eine besondere Bewandtnis haben. Komm, mein Bruder, wir wollen sehen, ob wir diese Sache nicht erkennen können." Die beiden Brüder gingen hinaus. Sie waren noch nicht weit gegangen, so sahen sie den Juden kommen, der ein festliches Kleid anhatte. Da erkannte der ältere Bruder in seiner Klugheit sofort, was seine Mutter vorhatte und sagte zu seinem Bruder: "Unsere Mutter will heute den Juden heiraten, und der Vogel, den die Dienerin drinnen kocht, ist der Hochzeitsschmaus. Ich will nun nicht mehr daheim bleiben, sondern werde, so wie ich bin, in die Welt hinausziehen und einen Platz suchen." Der jüngere Bruder sagte: "Dann bleibe ich auch nicht mehr daheim und gehe mit dir fort." —So verließen die beiden Söhne das Haus, weil ihre Mutter den Juden heiratete.

Der Jude war aber nur gekommen, um zu sehen, ob der Vogel auch bereitet würde. Er trat hinein und fragte die Dienerin, ob der Vogel geschlachtet und gekocht würde. Die Dienerin sagte: "Er kocht schon dort im Topf." Der Jude sagte: "So sorge nur dafür, daß ich heute abend auch Kopf und Herz finde, denn diese beiden Teile esse ich besonders gern." Der Jude ging wieder. Die Dienerin bekam jedoch einen Schreck, denn den Kopf und das Herz hatten soeben die beiden Söhne der Frau gegessen. Sie wagte das aber nicht zu sagen. Als der Jude fort war, lief sie schnell hin, tötete eine alte Henne, schnitt ihr den Kopf vom Hals und das Herz aus dem Leib und warf beides in den Suppentopf.

Am Abend kamen der Jude und die Frau des Holzhauers nach Hause, und nachdem die Dienerin das Essen gebracht und die Kammer verlassen hatte, aßen die beiden das Hochzeitsmahl, wobei der Jude wohl darauf bedacht war, den Kopf und das Herz herauszufischen



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und zu sich zu nehmen. Nachher legte er sich schlafen, um die Wirkung des Genusses möglichst bald wahrzunehmen. Denn wer den Kopf des Vogels genoß, der wurde außerordentlich klug, und wer das Herz zu sich nahm, der fand jeden Morgen auf seinem Kopfkissen unter dem Ohr, auf dem er gelegen hatte, fünfzig Goldstücke.

Es war noch nicht Tag, da zündete der Jude Licht an und schaute auf das Kopfkissen. Er konnte die fünfzig Goldstücke nicht finden. Er sagte: "Es ist wohl noch zu früh", legte sich nochmals hin und versuchte mit aller Gewalt nochmals einzuschlafen. Er mußte aber ununterbrochen an die fünfzig Goldstücke denken, die er auf dem Kopfkissen finden mußte und konnte dem nicht widerstehen, immer noch einmal hinzufassen. Aber immer vergeblich.

Als es heller Tag war, erhob sich der Jude von seinem Lager und sagte: "Von den fünfzig Goldstücken kann ich nichts merken und von der größern Klugheit auch nichts."



***
Die beiden Söhne des Holzhauers gingen erst ein weites Stück gemeinsam von dannen. Dann kamen sie an einen Fluß, an dessem Ufer zwei Boote lagen. Sie stiegen jeder in ein Boot und stießen vom Ufer ab. In der Mitte war aber eine starke Strömung, und außerdem war der Fluß im Steigen begriffen, so daß die Burschen die Macht über die Boote verloren und von dannen getrieben wurden. Die Strömung führte die Burschen ein weites Stück flußab und trennte dann die beiden Boote, so daß der eine Bruder an das westliche, der andre an das östliche angetrieben wurde. Beide Boote strandeten, und die Brüder stiegen ans Land. Sie riefen sich, jeder dem andern zum entgegengesetzten Ufer, Lebewohl zu und wanderten dann, der eine nach Westen, der andre nach Osten.

(NB. Ein Erzähler behauptet, jeder der Burschen hätte vor der Trennung an seinem Ufer einen Feigenbaum gepflanzt, an dessen Blühen oder Welken der andre sein Wohlergehen oder Leiden erkennen könne; da dieses Motiv aber an dieser Stelle sinnlos erscheint, nämlich im Laufe der ganzen Erzählung nicht wieder erwähnt wird, so ist wohl anzunehmen, daß der Repetitor III, mit dem die Erzählung in Alger genau durchgegangen wurde, recht hat, wenn er sagt, das gehöre nicht in diese Geschichte.)

Der Ältere, der infolge des Genusses des Vogelkopfes von einer großen Klugheit beseelt war, wandte sich dem Hauptort des Landes zu. In diesem Orte war gerade der Amin gestorben, und nun wollte



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jeder der Einwohner gern selbst Amin werden. Die Leute konnten sich nicht einigen und beschlossen, den ersten klugen Fremden, der den Ort betreten würde, nicht aber einen Eingebornen, zum Amin zu erwählen. Der ältere Bruder kam grade nach diesem Beschlusse in den Ort. Schon nach wenigen Fragen und Antworten hatte er die schwierigsten Streitfragen, die die Leute untereinander entzweiten, geregelt, und nun wurde er sehr schnell zum Amin ernannt. Es dauerte nicht lange, so war der Ruf seiner Weisheit weit und breit im Lande bekannt geworden, und alle, die sich in ihren eignen Orten nicht Rat zu schaffen vermochten, wanderten zu ihm und waren sicher, keinen unnötigen Weg zu unternehmen.

Der jüngere der beiden Brüder hatte nun zwar das Herz des Vogels gegessen und hatte infolgedessen die Eigenschaft, jeden Tag unter seinen Ohren auf dem Kopfkissen fünfzig Goldstücke liegen zu lassen. Er wußte das aber nicht und ließ sie deshalb stets liegen. Es war daher ganz natürlich, daß die wenigen Münzen, die er beim Verlassen des Hauses noch in der Tasche gehabt hatte, bald verbraucht waren und daß er, da er keine Arbeit gefunden hatte, eines Tages nicht einmal mehr so viel hatte, um sich einen Kaffee zu kaufen.

In seiner Not ging er denn zu einem Lederarbeiter und bat ihn darum, ihm ein freies Nachtlager zu gewähren. Der Lederarbeiter, der selbst kein reicher Mann war, sagte es zu, und der Bursche legte sich auf das ihm gebotene Lager nieder, schlief gut, stand am andern Tage früh auf und überlegte, noch vor der Tür sitzend, wie er sich wohl eine Arbeit verschaffen könne, die ihn ernähre. Der Lederarbeiter war inzwischen in die Kammer gegangen, in der der Bursche geschlafen hatte, und wie sein Auge nach irgendeiner verlorenen Sache suchend umherglitt, fiel sein Blick auf das Kopfkissen, auf dem das Ohr des Burschen geruht hatte. Der Lederarbeiter sah sogleich die fünfzig Goldstücke, nahm sie auf, ging zurück in das Haus, wo der Bursche noch saß und fragte ihn: "Hast du mir nicht gestern gesagt, du habest nicht einmal mehr Geld genug, dir einen Kaffee zu kaufen und bätest mich deshalb um ein Nachtlager?" Der Bursche sagte: "So ist es." Der Lederarbeiter sagte: "Zeige doch einmal deine Taschen!" Der Bursche lachte und sagte: "Hier, schau' selbst hinein!" Der Lederarbeiter schüttelte den Kopf.

Der Lederarbeiter sagte: "Mein Bursche, du scheinst mir ein herlicher und ordentlicher Mensch zu sein. Bleibe also noch einen Tag bei mir zu Gaste. Du sollst dein Essen und dein Lager haben." Der Bursche war sehr zufrieden damit. Er blieb den Tag über bei dem



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Lederarbeiter, aß mit ihm und streckte sich dann auf dem ihm angebotenen Lager aus. Am andern Morgen saß er wieder traurig vor dem Hause des Lederarbeiters, der seinerseits, sowie jener die Kammer verlassen hatte, das Lager des Burschen beaugenscheinigte, wieder die fünfzig Goldstücke fand und an sich nahm. Der Lederarbeiter sagte nun aber bei sich: "Dies muß allerdings eine sehr merkwürdige Sache sein, von der der Bursche selbst nichts weiß, denn ich habe ihn gestern untersucht und fand nichts bei ihm. Er ist ohne Gold zur Ruhe gegangen, und ich selbst habe hinter ihm die Kammer abgeschlossen. Er sitzt traurig draußen, weil er nichts hat, und hat über Nacht, ohne es zu wissen, wieder fünfzig Goldstücke aus den Ohren geboren. Der Junge weiß also selbst nicht, wie reich er ist. Ich werde es noch einige Tage mitansehen."

Der Lederarbeiter ging hinaus zudem Burschen und sagte: "Wenn bir noch nichts eingefallen ist, so bleibe noch einen oder zwei Tage dei mir. Es soll mir auf das Essen und das Lager nicht ankommen." Der Bursche blieb noch einen Tag. Als er am andern Tage sein Lager verlassen hatte, ging der Lederarbeiter hinein und holte die fünfzig Goldstücke vom Kopfkissen und ebenso am vierten Tage. An diesem Morgen sagte aber der Bursche: "Ich kann nun keinen Tag mehr bei dir bleiben. Du bist selbst nicht wohlhabend, und ich kann sicher irgendwo Arbeit finden."

Der Lederarbeiter sagte: "Sage mir doch einmal, mein Bursche, weißt du denn wirklich nicht, daß du ein reicher Mann bist?" Der Bursche lachte und sagte: "Was meinst du? Ich soll ein reicher Bursche sein ?" Der Lederarbeiter sagte: "Gewiß bist du das!" Und dann holte er die zweihundert Goldstücke herbei, die der Bursche im Verlaufe der vier Tage auf dem Kopfkissen verloren hatte und sagte: "Dies hast du in vier Tagen unter deinem Kopfe liegen gelassen. Bleibe noch eine Nacht hier oder schlafe auch an einem andern Orte, greife aber, wenn du erwachst, unter deinen Kopf, und du wirst sicherlich jeden Morgen unter deinem Ohr fünfzig Goldstücke finden." Der Bursche sagte bei sich: "Dies muß die Folge des Genusses des Vogelherzens sein." Der Bursche sagte zu dem Lederarbeiter: "Ich danke dir, daß du mich auf dieses aufmerksam gemacht hast. Die zweihundert Goldstücke schenke ich dir. Miete mir jetzt einige Zimmer und bewahre mir, solange ich in dieser Stadt wohne, deine Freundschaft."

Der Bursche wohnte noch eine Nacht bei dem Lederarbeiter. Als er beim Erwachen am andern Tage unter sein Ohr griff, fand er auf



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dem Kopfkissen die fünfzig Goldstücke. Dann bezog er eine eigne Wohnung und machte es sich in dem Orte so behaglich, wie es ihm seine Wohlhabenheit erlaubte. Er kaufte sich außerdem einige Leder-Säcke und füllte diese allmählich mit dem vielen Golde, das er täglich auf seinem Kopfkissen fand und von dem er nur den geringsten 11 eil gebrauchte.



***
In dieser Stadt wohnte ein sehr schönes Mädchen, das hieß Motherob-Aliph. Dieses Mädchen war so berühmt durch seine Schönheit, daß die Männer sich um die Erlaubnis drängten, sie einmal Sehen zu dürfen. Ihr Vater hatte deshalb bestimmt, daß jeder, der Seine Tochter sehen wollte, jedesmal hundert Goldstücke dafür bezahlen müsse, so daß nur noch wenige, sehr Wohlhabende diesen Genuß gewinnen konnten. Eines Tages hörte der Bursche von der Schönheit Motherob-Aliphs und sagte bei sich: "Vielleicht ist das eine geeignete Frau für mich." Er sandte also dem Vater die bestimmten hundert Goldstücke und durfte sie dann auch an ihrem F'enster sehen.

Nachdem der Bursche Motherob-Aliph einmal gesehen hatte, konnte er nicht mehr schlafen. Am andern Tage sandte er dem Vater des schönen Mädchens abermals hundert Goldstücke, durfte sie wieder einmal sehen, sandte die Gabe nochmals und genoß den Anblick noch ein drittes Mal. Nachdem der Vater Motherob-Aliphs viermal hundert Goldstücke erhalten hatte und das Mädchen den Burschen viermal vorübergehen gesehen hatte, sagte sich Motherob-Aliph: "Dieser junge Mensch ist nicht nur hübsch, sondern er muß auch sehr wohlhabend sein, sonst könnte er nicht soviel Geld ausgeben. Ich werde ihn einmal zum Essen einladen und ihn fragen, wo er so viel Geld hernimmt, um meinen Anblick so oft erkaufen zu können." Motherob-Aliph lud den Burschen zum Abendessen ein.

Der Bursche war sehr glücklich darüber, daß er von diesem schönsten Mädchen der Stadt so bevorzugt wurde. Er kam und wurde ausgezeichnet bewirtet. Das schöne Mädchen war sehr freundlich zu ihm und sprach ihm beim Trinken zu. Sie setzte ihm sehr guten Wein vor, und als er von all dem Wein und Schönheit schon ein wenig berauscht war, sagte sie: "So erzähle mir doch, mein Bursche, wo du den ungeheuern Reichtum hernimmst, über den du verfügst. Wenn du mir erklären kannst, daß dieser Reichtum nicht eines Tages einmal plötzlich versiegt, will ich bereit sein, dich zum Gatten zu nehmen."



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Der Bursche lachte und sagte: "Wenn ich morgens vom Schlaf erwache, so finde ich stets unter dem Ohr auf dem Kopfkissen fünfzig Goldstücke." Das schöne Mädchen sagte: "Wenn du mich zur Gattin gewinnen willst, mußt du mir erklären, wie du diese Gabe erworben hast. Oder bin ich nicht schön genug, um deine Gattin zu werden?" Der Bursche sagte: "Gewiß möchte ich dich gerne zur Gattin gewinnen und will es dir deshalb auch sagen. Ich habe einmal das Herz eines merkwürdigen Vogels gegessen. Das habe ich noch im Leibe, und dieses Herz verleiht mir täglich die fünfzig Goldstücke. Willst du nun meine Gattin werden?" Das schöne Mädchen sagte: "Wenn ich mich überzeugt habe, daß dir diese Eigenschaft bis morgen früh nicht abhanden gekommen ist, werde ich deine Gattin werden."

Motherob-Aliph hieß darauf die Sklaven noch mehr Wein bringen. Sie mischte, ohne daß der Bursche es in der Trunkenheit merkte, ein starkes Mittel in den Wein, so daß er bald darauf einschlief und im Schlafe krank wurde. Er wurde sehr krank und mußte sich infolge des Mittels übergeben. Er spie das Vogelherz aus. Motherob-Aliph ergriff es sofort, übergoß es mit Wasser und schluckte es selbst hinunter. Dann rief sie ihre Sklaven und ließ den Burschen aus dem Hause tragen. Nun legte sich Motherob-Aliph selbst nieder. Als sie am andern Morgen erwachte, fand sie unter ihrem Ohr auf dem Kopfkissen fünfzig Goldstücke.

Als aber der Bursche am andern Morgen erwachte und wie immer unter seinen Kopf griff, fand er die fünfzig Goldstücke nicht wie sonst. Er überlegte sich alles, und es fiel ihm allmählich ein, daß er gestern abend bei Motherob-Aliph sehr betrunken gewesen sei. Er sagte bei sich: "Motherob-Aliph hat mir das Vogelherz aus dem Leibe genommen, und ich habe selbst nicht Klugheit genug, um es mir wieder zu verschaffen. Ich werde also zu Amrar asemeni (dem alten Ratgeber) gehen."

Der Bursche ging zu Amrar asemeni und trug diesem die Sache vor. Amrar asemeni sagte: "Du hast sicher recht. Diese Motherob-Aliph hat dir in der Trunkenheit das Vogelherz genommen und wird es sicher schon verschluckt haben. Es gibt aber Machtmittel, mit denen du sie zwingen kannst, dir dein Eigentum wieder zurückzugeben. Mache dich auf die Wanderschaft und gehe in jener Richtung auf das Dorf hinter dem großen Hügel zu. Da wirst du vier Männer treffen, welche sich um den Besitz einer Matte (theigerthilt), eines Stockes und einer Mütze streiten. Wer sich auf die Matte



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setzt, braucht nur zu befehlen, wohin er getragen sein will. Die Matte wird ihn sogleich dahin tragen. Wer dem Stock befiehlt, diesen oder jenen zu schlagen, der wird dies so energisch ausführen, daß der Geschlagene alles verspricht, tut und gibt, was man von ihm verlangt. Wer die Mütze aufsetzt, ist für jedermann unsichtbar. Um den Besitz dieser drei Dinge streiten sich die vier Männer. Wenn du an ihnen vorüberkommst, werden sie dich zum Richter ihrer Teilung ernennen. Laß sie um den Besitz einen Wettlauf anstellen, und wenn sie ein wenig entfernt sind, setze die Mütze auf, nimm den Stock in die Hand und lege dich auf die Matte. Dann wünsche dich zu Motherob-Aliph, und du wirst mit deinem Stock alles aus ihr herausschlagen können, was du nötig hast."Der Bursche bedankte sich für den Rat und machte sich auf die Wanderung.

Wie Amrar asemeni vorausgesagt hatte, kam der Bursche zuletzt an das Dorf, vor dem vier Männer stritten. Der eine sagte: "Drei Stücke unter vier teilen, das geht nicht."Der zweite sagte: "Es ist unrecht, die drei Stücke auseinanderzureißen, nachdem sie immer zusammen gewesen sind." Der dritte sagte: "Nachher kommt es darauf heraus, daß alles der Älteste erhält." Der vierte sagte: "Oder jeder der drei Älteren bekommt ein Stück und ich, der Jüngste, bekomme nichts." Die Männer stritten so laut, daß der Bursche es schon aus der Ferne hörte. Als er ganz nahe herangekommen war, sahen aber auch die Streiter den Burschen, und sie waren sofort alle darin einig, daß er zum Schiedsrichter ernannt werden solle. Alle vier liefen auf ihn zu und bestürmten ihn, zwischen ihnen zu richten.

Der Bursche sagte: "Um was handelt es sich ?" Der Älteste sagte: "Wir haben von unserm Vater nichts geerbt als eine Matte, einen Stock und eine Mütze. Diese drei Stücke waren stets der einzige Besitz unsrer Väter und niemals geteilt. Nun wissen wir vier Brüder nicht, wie die drei Stücke, die zusammen gehören, unter uns vier geteilt werden könnten." Der Bursche fragte: "So ist es also!" Alle vier schrien: "So ist es und wir bitten dich, die Sache zu entscheiden."

Der Bursche sagte: "Legt die drei Stücke hier neben mich. Geht durch das Tal dort unten bis auf die Spitze des nächsten Hügels. Dort tretet nebeneinander und fangt alle gleichzeitig an zu laufen. Kommt auf mich zu. Der Erste, der hier ankommt, nimmt alle drei Stücke auf oder das, was er in der Eile, ohne von dem Nachfolgenden daran gehindert zu werden, ergreifen kann." Die vier Burschen waren einverstanden; sie gingen von dannen; sie waren bald in das Tal hinabgestiegen.



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Der Bursche setzte sich, nachdem die vier Leute fort und nicht mehr zu sehen waren, sogleich auf die Matte, stülpte die Kappe über und ergriff den Stock. Er sagte: "Ich möchte sogleich im Hause der Motherob-Aliph sein!"Im Augenblick war er im Hause der Motherob- Aliph und saß in der Kammer des schönen Mädchens, ohne daß diese ihn sah. Der Bursche schaute dem Mädchen eine Weile zu und sagte bei sich: "Sie sieht mich also wirklich nicht!"

Dann sagte der Bursche zu dem Stock: "Schlag das Mädchen!" Der Stock fuhr wie ein Besessener auf das Mädchen zu und schlug ihm auf dem Rücken herum, so daß es laut anfing zu schreien. Das Mädchen schrie so laut, daß ihr Vater, der in einer Kammer auf der andern Seite des Hofes war, sofort herbeigelaufen kam, um zu fragen, was ihm fehle. Als der Bursche sah, daß der Vater kam, sagte er zu seinem Stock: "Hör auf." Der Stock kehrte in seine Hand zurück.

Der Vater fragte Motherob-Aliph: "Was fehlt dir? Was ist geschehen? Weshalb schreist du so laut?" Das Mädchen sagte: "Es ist eine unerhörte Sache. Es ist niemand in der Kammer, und doch wurde ich eben in einer so starken Weise geschlagen, daß ich nicht anders konnte, als laut schreien. Es hat aufgehört, als du in die Kammer tratest." Der Vater sagte: "Ich glaube, du hast geträumt. Wenn es zu Ende ist, ist es gut." Der Vater ging.

Sowie der Vater aber die Kammer der Motherob-Aliph verlassen hatte, sagte der Bursche zu seinem Stock: "Nun schlage wieder auf das Mädchen, aber noch stärker!" Der Stock sauste sogleich wie der Wind aus der Hand des Burschen und wie der Sturm auf den Rücken des Mädchens. Der Stock wirbelte seine Hiebe so stark, daß das Mädchen schreiend auf ihr Lager fiel und ohne Unterbrechung schrie. Der Vater kehrte sogleich um und kam wieder herbei. Sowie er an der Kammer war, sagte der Bursche zu dem Stock: "Höre auf!" Der Stock hörte auf und kehrte gelassen in die Hand des Burschen zurück. Der Vater betrat die Kammer und fragte: "Was schreist du nun wieder?" Das Mädchen sagte: "Es war wie vorher. Ich wurde stark geschlagen, ohne daß jemand da ist." Der Vater wurde ärgerlich und sagte: "Du willst dich über mich lustig machen. Wenn du wiederum schreist, werde ich nicht wieder hereinkommen!" Der Vater verließ das Zimmer.

Der Vater war kaum aus der Kammer, so sagte der Bursche: "Nun schlage das Mädchen noch einmal!" Der Stock sauste aus der Hand des Burschen und auf den Rücken der Motherob-Aliph, die vor Angst 338



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und Schrecken heulte und rief: "Wer es auch ist, der mir dies antut, ich will gewiß alles tun, was er befiehlt, wenn die Schläge aufhören." Der Bursche sagte: "Stock, höre auf!"Sogleich hörte der Stock auf.

Der Bursche nahm die Kappe ab und Motherob-Aliph erkannte ihn. Motherob-Aliph sagte: "Du bist es? Also du bist es! Ich bin glücklich, dich wieder zu sehen und will gerne deine Frau werden. Ich bitte dich aber, erkläre mir, wie du in diese Kammer gekommen bist, ohne daß ich dich sehen kann und wie du den Stock gehandhabt hast, ohne daß du selbst ein Geräusch machtest." Der Bursche sagte: "Du siehst hier die Matte. Wenn ich mich auf die Matte setze, habe ich es nur nötig, mich irgendwohin zu wünschen, und ich werde sogleich dorthin getragen. Wenn ich die Kappe aufsetze, sieht mich kein Mensch. Wenn ich dem Stock sage, er solle irgend jemand schlagen, so schlägt er, so lange ich es will, ohne Aufhören."

Motherob-Aliph sagte: "Das glaube ich nicht. Wenn du aber wirklich im Besitze so kostbarer Dinge bist, will ich dich sogleich heiraten." Der Bursche sagte: "Hier setze dich auf die Matte und setze die Mütze auf. Versuche es mit deinem Vater!" Motherob-Aliph sagte: "Ja, ich will meinem Vater sogleich einen Besuch abstatten, dabei versuchen, ob es wahr ist, was du gesagt und dann zurückkehren." Motherob-Aliph setzte sich auf die Matte. Der Bursche stülpte ihr die Mütze auf.

Motherob-Aliph sagte: "Trage mich hinüber in die Kammer meines Vaters."Sogleich war das Mädchen in der Kammer ihres Vaters, der soeben dabei war, das Gold zu zählen, das er durch den Verkauf des Anblickes seiner Tochter verdient hatte. Motherob-Aliph sah ihm eine Zeitlang zu. Dann schlug sie ihm, als er gerade einen Griff in die Goldstücke getan hatte, auf die Hand, so daß der Vater erschrocken die Hand zurückzog und die Goldstücke fallen ließ. Der Vater sah sich überall um und sagte dann: "Meine Tochter Motherob-Aliph hat recht. Es schlägt hier irgend jemand im Hause, den wir nicht sehen können." Der Vater packte ängstlich sein Gold fort. Motherob-Aliph sagte zur Matte: "Trage mich zum Burschen zurück."

Die Matte trug Motherob-Aliph sogleich in ihre Kammer zurück, in der der Bursche mit dem Stock in der Hand auf sie wartete. Das Mädchen nahm die Kappe vom Kopf und sagte zu dem Burschen: "Ich habe es versucht. Ich habe soeben meinem Vater einen Besuch auf der Matte und mit der Kappe auf dem Kopf abgestattet und habe ihm das Gold aus der Hand geschlagen, ohne daß er es merkte.



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Also mit der Matte und der Mütze hast du mir zweifellos die Wahrheit gesagt. Wie aber hast du nun die Schläge auf mich niedergeschlagen? Kann ich das nicht auch einmal versuchen? Ich würde schon lange einmal einen meiner Sklaven verhauen haben, kann es aber nicht wagen, da er sich an mir rächen würde. An dem Sklaven aber könnte ich nun einmal den Stock versuchen." Der Bursche sagte: "Nimm den Stock und versuche es."Motherob Aliph nahm ihn.

Motherob-Aliph stand noch auf der Matte. Sie hielt die Kappe in der einen Hand und ergriff den Stock nun mit der andern. Motherob-Aliph stülpte die Kappe über, setzte sich gemächlich auf die Matte und sagte gelassen zu dem Stock: "Nun haue auf den Burschen so lange, bis er aus dem Hause ist." Der Stock hieb auf den Burschen. Der Bursche rannte zur Tür. Er sprang durch die Tür auf den Hof. Motherob-Aliph rief ihre Sklaven. Sie sagte zu den Sklaven: "Schlagt den Burschen, der sich da auf dem Hofe herumtreibt und jagt ihn aus dem Gehöft. Behandelt ihn so, daß er es nie wieder wagt, in meine Nähe zu kommen."

Die Sklaven taten wie ihnen befohlen war. Sie schlugen und mißhandelten den Burschen und warfen ihn dann aus dem Hause heraus. Der Bursche kam in einem schlimmen Zustande in seiner Wohnung an.

Der Bursche sagte bei sich: "Ich bin allein nicht klug genug, um mit diesem Mädchen fertig zu werden. Ich muß mir bei Amrar asemeni wieder einen Rat holen." Der Bursche ging zu Amrar asemeni und trug dem die Sache vor. Amrar asemeni lachte und sagte: "Ich wußte es, daß dies nicht leicht für dich sein würde. Du hast dabei eine schlechte Erfahrung gemacht. Nun gibt es aber erfreulicherweise noch eine Möglichkeit für dich, dieser Motherob-Aliph die wertvollen Sachen, die sie dir geraubt hat, wieder abzunehmen und sie zu zwingen, ihr Versprechen einzulösen und deine Frau zu werden. — Wenn du ununterbrochen in jener Richtung fortgehst, so kommst du an einen Berg, auf dessen Spitze ein Fels steht, neben dem ein Feigenbaum wächst. Nun ist es jetzt ja durchaus nicht die Zeit der reifen Feigen. Dieser Baum an dem Felsen trägt aber zwei reife Feigen, eine schwarze und eine weiße. Pflücke diese Feigen und kehre mit ihnen in die Stadt zurück. Gehe mit den Feigen auf einem Teller in die Straße, in der Motherob-Aliph wohnt und rufe aus, daß du, trotzdem es nicht an der Zeit ist, Feigen zu verkaufen hast. Motherob-Aliph wird an das Fenster kommen und dir eine Feige abkaufen wollen. Du gibst ihr die weiße, und sie wird sie



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sogleich verschlucken. Es werden Motherob-Aliph nun zwei Hörner wachsen, so daß sie den Kopf nicht wieder in die Kammer zurückziehen kann, und sie wird sogleich Übelkeit empfinden und das Herz ausspeien. Nimm dieses zunächst und sage ihr beim Abschied, wenn sie dir sonst noch etwas zu geben oder zu sagen habe, solle sie zu dir senden." Der Bursche dankte dem Alten für seinen Rat und machte sich auf den Weg.

Der Bursche ging in der angegebenen Richtung von dannen und kam nach einer langen Wanderung auch zum Schluß an den Berg mit dem Felsen und dem Feigenbaum. Wie Amrar asemeni es vorhergesagt hatte, trug der Baum, trotzdem es gar nicht die Jahreszeit hierzu war, zwei reife Früchte, eine schwarze und eine weiße, Der Bursche pflückte sie und kehrte in seine Ortschaft zurück. Er legte beide Früchte auf einen Teller und ging in die Straße, in der Motherob-Aliph wohnte und auch gerade zum Fenster hinaussah.

Der Bursche trat in die Straße ein und schrie laut: "Reife Feigen außer der Zeit! Wer kauft reife Feigen außer der Zeit! Reife Feigen außer der Zeit!" Motherob-Aliph verspürte ein großes Verlangen nach reifen Feigen und rief den Burschen heran. Motherob-Aliph beugte sich weit aus dem Fenster und sagte: "Verkaufe mir eine der Feigen." Der Bursche sagte: "Beuge dich noch ein wenig weiter herab. Ich will dir eine schöne Feige geben." Motherob-Aliph beugte sich weit herab. Der Bursche reichte ihr die weiße Feige und Motherob-Aliph führte sie sogleich zum Munde.

Kaum hatte Motherob-Aliph die Feige gegessen, so wuchsen ihr rechts und links mächtige gewundene Hörner. Motherob-Aliph fühlte augenblicklich starke Leibschmerzen und wollte den Kopf in das Zimmer zurückziehen. Sie rannte mit den schweren, langen, gewundenen Hörnern von außen gegen die das Fenster einrahmenden Mauern. Sie wandte und drehte den Kopf. Sie konnte es machen, wie sie wollte. Sie war nicht imstande, den Kopf mit den Hörnern wieder in das Zimmer zurückzuziehen.

Motherob-Aliph empfand die inneren Schmerzen immer stärker und stärker und mußte zuletzt, um sich von den schlimmsten Qualen zu befreien, zum Fenster hinausspeien, dabei spie sie das Herz aus. Der Bursche stand immer noch unter dem Fenster der Motherob-Aliph und sah ihren Bemühungen, den mit Hörnern beschwerten Kopf in das Haus hineinzuziehen, mit Vergnügen zu. Er sah ihr wachsendes Unbehagen, und als sie das Herz ausspie, fing er es schnell auf, um sich so die Quelle seines Reichtums zu sichern. Der



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Bursche sagte dann zu Motherob-Aliph: "Wenn du sonst irgend etwas mir zu geben hast, so sende zu mir!" Dann ging er von dannen.

Motherob-Aliph versuchte inzwischen immer noch vergeblich, den Kopf wieder in ihr Zimmer zu ziehen. Die Hörner waren so mächtig, daß es nicht möglich war. Zuletzt kam der Vater dazu und sah den Zustand. Er schrie vor Schrecken auf. Er sah die mächtigen gewundenen Hörner und sagte: "Dir kann nicht anders geholfen werden, als daß ein Holzschnitzer kommt und das Horn an den Wurzeln durchschneidet. Ich werde hinlaufen und einen Holzschnitzer rufen." Der Vater ging hin. Er suchte einen Holzschnitzer auf. Inzwischen sammelten sich alle Leute auf der Straße und alle Bewohner des Ortes konnten nun die schöne Motherob-Aliph sehen, auch ohne hundert Goldstücke zahlen zu müssen. Auch kamen allein schon deswegen so viel Leute angelaufen, weil noch nie jemand einen Menschen mit Hörnern gesehen hatte. So strömte denn das ganze Volk des Ortes nach der Straße, in der Motherob-Aliph zum Fenster heraussah, und da es gerade an einem Markttage war, so kamen zu den Einheimischen auch noch viele Fremde.

Der Vater kam mittlerweile mit dem Holzschnitzer an. Der Holzschnitzer ließ eine Leiter bringen, stieg hinauf und begann eines der Hörner an der Wurzel abzuschneiden. Der Holzschnitzer fand aber, daß er noch nie in seinem Leben ein so hartes Horn zur Bearbeitung erhalten hatte, denn alle seine Messer wurden stumpf und doch bekam er kaum eine schmale Rinne in dem Horn zustande. Am Abend kam er nicht weiter mit der Arbeit und sagte zu dem Vater Motherob-Aliphs: "In dieser Nacht wird deine Tochter in dieser Stellung noch verweilen müssen, dann kann ich morgen sehen, ob ich wenigstens eines der Hörner abbekomme." Der Holzschnitzer ging. Motherob-Aliph blieb die ganze Nacht über mit aus dem Fenster gebogenen Kopfe stehen, ohne sich rühren zu können. Der Bursche ging zur gewohnten Stunde schlafen, nachdem er noch das Vogelherz verschluckt hatte.

Als der Bursche am andern Morgen erwachte und unter sein Ohr auf das Kopfkissen griff, fand er wie früher fünfzig Goldstücke. Als der Holzschnitzer am andern Morgen zu Motherob-Aliph kam, um mit frisch geschärften Messern seine Arbeit fortzusetzen, sah er zu seinem Erstaunen, daß über Nacht die Rinne, die er gestern mit Mühe und Not geschnitten hatte, wieder zugewachsen war. Trotzdem ging er an die Arbeit, schnitzte den ganzen Tag, so daß alle seine



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Instrumente stumpf, im Hornschnitt aber gegen gestern ein kleiner Fortschritt zu bemerken war.

Der Holzschnitzer ging am zweiten Abend nach Hause. Motherob-Aliph blieb über Nacht abermals mit zum Fenster herausgebeugtem Kopf stehen, und als der Schnitzer am dritten Morgen wiederkam, war die gestern mühsam hergestellte Rinne wieder zugewachsen. Da sagte der Holzschnitzer zu dem Vater Motherob-Aliphs: "Das ist keine Arbeit, die ich ausführen kann. Ich habe noch keinen Menschen gesehen, dem so plötzlich Hörner gewachsen sind, und auch noch keine Hörner, die so schwer zu bearbeiten gewesen wären. Der dem Mädchen die Hörner beigebracht hat, der kann sie ihr vielleicht auch wieder abnehmen. Ich kann es nicht. Es ist keine Arbeit für einen Holzschnitzer." Der Holzschnitzer nahm sein Messer und ging wieder von dannen, und Motherob-Aliph mußte mit dem zum Fenster herausgesteckten Kopfe dastehen, ohne sich rühren zu können, wie am ersten Tage.

Da fiel Motherob-Aliph ein, daß der Bursche, nachdem sie das Vogelherz ausgespien hatte, beim Weggehen gesagt hatte: "Wenn du sonst irgendetwas mir zugeben hast, so sende zu mir!"Motherob-Aliph sagte zu ihrem Vater: "Mein Vater, hinter meinem Ruhelager befindet sich eine alte Matte, eine alte Mütze und ein alter Stock. Nimm diese drei Dinge, binde sie zusammen und trage sie zu dem Burschen, der dir seinerzeit vierhundert Goldstücke gezahlt hat, mich sehen zu dürfen. Dieser Bursche kann mir vielleicht in meiner Not helfen. Bring ihm also die drei alten Gegenstände und sage ihm, hier sei das, was ihm gehöre, und er solle mich von den Hörnern befreien."

Der Vater folgte der Aufforderung seiner Tochter. Er wunderte sich zwar sehr darüber, was ein so wohlhabender Bursche wie jener, der viermal für den Anblick seiner Tochter hundert Goldstücke bezahlen konnte, mit dem alten Stock, der alten Mütze und der alten Matte sollte; er nahm aber die drei bezeichneten Gegenstände und ging damit zu dem Burschen. Er trat bei ihm ein, legte Matte, Mütze und Stock vor ihm nieder und sagte: "Motherob-Aliph, meine Tochter, sendet dir diese drei Gegenstände und läßt dir sagen, das sei das, was dir gehöre. Meine Tochter bittet dich ferner darum, du möchtest sie von ihren Hörnern befreien." Der Bursche sah, daß Motherob-Aliph ihm die Matte, die jeden trug, wohin er wollte, die Mütze, die jeden unsichtbar machte und der Stock, der auf Befehl jeden verprügelte, zurücksandte und war seht



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zufrieden. Er sagte aber bei sich: "Ich habe erfahren, daß ich allein nicht klug genug bin. Deshalb will ich lieber erst den Amrar asemeni fragen, was er mir zu tun rät." Der Bursche sagte zu dem Vater Motherob-Aliphs: "Ich danke deiner Tochter, daß sie mir das, was mir gehört, wieder zurücksendet. Ob ich ihr die Hörner abnehme, will ich mir noch überlegen. Komme du aber heute mittag wieder zu mir, dann werde ich dir Antwort geben." Der Vater Motherob-Aliphs ging.

Der Bursche eilte sogleich zu Amrar asemeni und sagte zu ihm: "Ich danke dir für die guten Ratschläge, die du mir erteilt hast. Motherob-Aliph hat die starken gewundenen Hörner. Sie hat mir das Vogelherz zurückgegeben. Seit drei Tagen kann sie den Kopf nicht in die Kammer zurückziehen und hat mir heute morgen die Matte, die Mütze und den Stock wieder gesandt. Jetzt möchte sie von mir von den Hörnern befreit sein. Soll ich ihr nun die schwarze Feige zu essen geben?"

Amrar asemeni sagte: "Damit das schöne Mädchen dich nicht wieder überlistet und wieder deine kostbaren Dinge raubt, mußt du sie heiraten. Ist Motherob-Aliph erst deine Frau, so brauchst du dich vor ihrer List nicht mehr zu fürchten, vorausgesetzt, daß du vollkommene Macht über sie gewinnst. Die Macht über Motherob-Aliph aber kannst du nur gewinnen, wenn du ein gewisses Mauleselkopfgebiß besitzt, welches sich in den Händen des Vaters der Motherob-Aliph befindet. Wenn du Motherob-Aliph dieses Mauleselkopfgebiß anlegst, so wird sie sogleich in einen sehr schönen Maulesel verwandelt und niemand kann sie dir rauben, wenn du etwa mit ihr auf der Wanderschaft bist. Fordere also von dem Vater der Motherob-Aliph, wenn er wieder zu dir kommt, die Motherob-Aliph zur Frau. Sage ihm, er solle dir als Beweis, daß er zustimmt, das alte Mauleselkopfgebiß bringen. Der Vater des Mädchens wird dich sogleich verstehen und wird dir das Kopfgeschirr bringen. Erst dann gib Motherob-Aliph die schwarze Feige und ziehe mit ihr in ein andres Land." Der Bursche dankte Amrar asemeni für seinen Ratschlag und ging wieder nach Hause.

Zur festgesetzten Zeit kam der Vater Motherob-Aliphs und fragte den Burschen, ob er sich entschlossen habe, seine schöne Tochter von den Hörnern und aus der Stellung, in der sie sich seit drei Tagen befinde, zu befreien. Der Bursche sagte: "Ich will es tun, wenn du mir deine Tochter zur Frau geben willst und mir das aushändigen willst, was mir ihren unbestrittenen Besitz sichert."Der Vater sagte:



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"Ich will dir Motherob-Aliph, meine Tochter, gern zur Frau geben, aber wie soll ich dir ihren unbestrittenen Besitz sichern?" Der Bursche sagte: "So gib mir nur das alte Mauleselkopfgeschirr. Das genügt mir." Der Vater des Mädchens sagte: "Ich sehe, du weißt in der Sache gut Bescheid. Ich will dir also das Kopfgeschirr bringen, wenn du mir schwörst, nachher meine Tochter zu befreien." Der Bursche sagte: "Ich schwöre es dir zu." Der Vater lief von dannen. Er kam nach einiger Zeit wieder und brachte ein altes Mauleselkopfgestell. Der Bursche bändigte ihm die schwarze Feige aus und sagte: "Laß das deine Tochter genießen und dann bring sie zu mir." Der Vater ging. Motherob-Aliph aß die schwarze Feige. Sogleich waren die Hörner wieder fort. Sie konnte den Kopf in das Zimmer zurückziehen und sagte zu ihrem Vater: "Bringe mich zu meinem zukünftigen Gatten."

Der Vater ging mit seiner Tochter zum Burschen und sagte: "Hier ist meine Tochter. Du willst mit ihr in ein anderes Land ziehen. Nun merke dir eines: Meine Tochter ist so schön, daß alle Männer, die sie sehen, augenblicklich wünschen, sie zu besitzen; hüte dich also davor, sie je in dieser Gestalt auf dem Wege zu zeigen. Wenn du wanderst, lege ihr stets das Mauleselgeschirr über den Kopf. Dann wird sie sogleich eine starke Mauleselin. Setze dich auf sie und reite sie. Sobald du irgendwo rastest oder an deinem Reiseziel angekommen bist, nimm das Geschirr ab und du hast wieder deine Frau." Der Bursche dankte dem Vater für seine Ratschläge, veranstaltete ein großes Hochzeitsfest und machte sich wenige Tage später mit seiner jungen schönen Frau auf die Wanderschaft.

Der Bursche hatte sich die Worte Amrar asemenis und seines Schwiegervaters gut eingeprägt. So oft er seinen Rastplatz verließ, legte er seiner Frau die Mauleselzügel an, und sie verwandelte sich in ein starkes Reittier, das er bis zur Ankunft an seinem nächsten Bestimmungsort ritt, und dann erst wieder, wenn er sich vor den neugierigen Augen der Menschen geschützt sah, durch Abnahme des Zügels zu einer menschlichen Gestalt umwandelte.

Eines Tages nun kam er in eine Ortschaft, in der er bei einem sehr habsüchtigen Manne abstieg. Er stellte seinen Maulesel in dessen Stall und wartete, daß der Geschäftsinhaber die Kammer, die er dem Burschen für diese Nacht vermietet hatte, verlassen würde. Der Mann ging aber immer um den schönen Maulesel herum und sagte zuletzt: "Den Maulesel will ich dir abkaufen." Der Bursche sagte: "Der Maulesel ist mir nicht verkäuflich. Laß also den Handel und



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entferne dich, denn ich will mich zum Schlafen niederlegen." Der Mann suchte nun einen Grund zum Streit mit dem Burschen, in dessen Verlauf er hoffte, des Maulesels habhaft zu werden. Der Mann sagte also: "So nimm dem Tier das Kopf geschirr ab, damit es fressen kann." Der Bursche sagte: "Laß mich das machen, wann und wie ich es will; das geht dich nichts an." Der Mann sagte: "Es geht mich wohl etwas an, denn es ist mein Stall, in dem der Maulesel untergebracht ist." Sie stritten eine lange Zeit hin und her, und die Dorfbewohner, die mit Vergnügen dem Streit mit dem Fremden zusahen, auch in der Hoffnung, daß der schöne Maulesel ihrem Dorfe erhalten bleiben möchte, waren darüber sehr erfreut.

Der Bursche wollte nun mit seinem Maulesel endlich weiterziehen und den habsüchtigen Mann verlassen und zog das Tier aus dem Staue. Da stellte der Mann sich ihnen aber in den Weg und sagte: "Da du für heute das Haus von mir gemietet hast, um darin zu wohnen, verlange ich auch, daß du es tust. Morgen werde ich dann mit dir bis in den nächsten Ort gehen, in dem ein überaus kluger Amin lebt, und da werde ich schon sehen, ob ich recht hatte oder nicht." Die Dorfbewohner schrien alle: "So ist es recht. Das soll die Entscheidung sein." Der habsüchtige Mann ging nun, schloß aber von außen die Tür ab, so daß der Bursche mit dem schönen Maulesel nicht entweichen konnte. Der Bursche sagte aber zu seinem Maulesel: "O Motherob-Aliph! Warum habe ich nun niemand, der mir raten kann! Warum habe ich von dem Vogel, den mein Vater fing, nur die Gabe, Gold zu gewinnen, nicht aber Klugheit gewonnen!"

Am andern Tage kamen die Dorfbewohner in großer Menge und begleiteten den Burschen und seinen schönen Maulesel zudem Amin, der weit und breit durch seine große Klugheit bekannt geworden war.



***
Um diese Zeit hatte der Holzhauer, der Vater der beiden Söhne, die Strafarbeit, die der gierige Fürst ihm in dem fernen Lande auferlegt hatte, beendet. Er hatte den Wald gerodet und neu angepflanzt. Die neu gepflanzten Bäume trugen Früchte, und somit wurde er aus der Gefangenschaft entlassen und konnte heimkehren. Er fuhr über das Meer, wanderte über die Berge in seine Heimat und kam an sein Haus. Es war das Haus, das er früher mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen sowie der Dienerin bewohnt hatte.

Vor dem Hause des Holzhauers stand der Jude. Als der Holzhauer



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in das Haus treten wollte, stellte sich der Jude davor und sagte: "Das ist nicht dein Haus, sondern es ist mein Haus!" Der Holzhauer Sagte: "In dem Haus sind meine Frau, meine Söhne und meine Dienerin. Laß mich in mein Haus." Der Jude sagte: "Das ist nicht Wahr. In dem Hause lebe ich mit meiner Frau und meiner Dienerin." Der Holzhauer und der Jude stritten sich. Sie schrien so laut, daß die Frau des Juden, die früher die Frau des Holzhauers gewesen War, zur Tür herauskam, um zu sehen, was es gäbe.

Der Holzhauer sah seine Frau und rief dem Juden zu: "Fort, du betrüger! Laß mich zu meiner Frau, die dort steht!" Die Frau erschrak, denn sie sah nun, daß ihr erster Mann noch lebte, daß sie also eine strafbare Ehe eingegangen war. Die Frau sagte: "Was will der Mann?" Der Jude sagte: "Dieser Mann behauptet, dein Ehemann zu sein. Weißt du etwas davon? Eine Frau kann doch nicht mit zwei Männern verheiratet sein; ist dieser nun dein Gatte oder bin ich dein Gatte ?" Die Frau sagte: "Du bist mein Gatte." Die Frau hatte aber große Furcht und sagte weiter: "Früher bin ich überhaupt nicht verheiratet gewesen." Der Holzhauer sah nun, daß Seine Frau ihn betrog und rief: "Ganz schlechte Betrüger und Diebe seid ihr!"

Der Jude und die Frau und der Holzhauer schimpften so laut aufeinander, daß die Dienerin es drinnen hörte und herauskam, um zu sehen, was es gäbe. Als der Holzhauer seine alte Dienerin sah, rief er: "Diese da ist aber meine Dienerin, die ihr mir auch genommen habt." Der Jude schrie: "Es ist meine Dienerin." Der Holzhauer sagte: "Du alte Dienerin, sage du selbst, ob ich dein früherer Herr und der Mann dieser Frau dort bin oder nicht?" Die Dienerin sagte: "Ich weiß allerdings, daß deine Frau früher auch verheiratet war, ich erkenne dich aber nicht wieder, da meine Augen schlechter geworden sind und du wohl gealtert bist." Der Holzhauer sagte: "Nun habt ihr schon eine Lüge. Frau, du sagst, daß du früher nicht verheiratet gewesen bist; diese Dienerin wird das aber auch vor dem Richter widerlegen. Komm, Jude, da du mich um alles, was ich besaß, gebracht hast, komm mit mir zu dem weisen Amin, der dort in der Gegend alles so klug entscheidet. Der Amin wird entscheiden."

Am andern Tage brachen der Holzhauer mit dem Juden, seiner Frau und seiner alten Dienerin auf und schlugen den Weg zu dem weisen Amin ein. Sie gingen zusammen einen Tag lang. Abends trafen sie an einem alleinstehenden Gehöft ein. Der Jude erhielt als wohlhabender Mann für sich, seine Frau und seine Dienerin eine



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Kammer. Der Holzhauer, der kein Geld hatte, mußte froh sein, daß man ihm erlaubte, auf einem Heuschober zu übernachten. Die junge Frau des Hauses, die gerade guter Hoffnung war, kam nun, als es dunkel war, noch einmal in den Heuschober, denn sie wollte sich da mit ihrem Liebhaber treffen. Sie wußte nicht, daß der Holzhauer im Heu lag. Der Holzhauer fuhr auf, als die junge Frau am Heu zog. Die junge Frau schrie und erschrak so, daß eine Fehlgeburt eintrat.

Der Mann des Gehöfts kam, als er das hörte, in den Heuschober. Er schrie den Holzhauer an und sagte: "Was hast du getan! Ich habe dir erlaubt, hier im Heuschober zu übernachten und du tötest mir mein Kind! Ersetze mir mein Kind. Ich werde morgen mit dir zu dem weisen Amin gehen und werde mit dir dort streiten. Du sollst mein Kind mir ersetzen!"

Am andern Tage gingen also der Holzhauer, der Jude, die Frau des Juden, die Dienerin, der Kindsvater und die Kindsmutter zusammen den gleichen Weg in der Richtung auf das Dorf des weisen Amin. Sie waren ein gutes Stück gekommen, da lief ihnen ein Mann entgegen, der schrie: "Kommt schnell alle zusammen! Kommt und helft mir! Mein Esel ist mir in den Schlamm geraten und sinkt immer tiefer! Helft mir doch, meinen Esel wieder aus dem Schlamm zu ziehen!"

Da liefen denn der Holzhauer und der Jude, die Frau des Juden, die Dienerin, der Kindsvater und die Kindsmutter dahin, wo der Esel im Schlamm steckte. Der Holzhauer zog den Esel am Schwanz, die andern an den Beinen. Da der Holzhauer am stärksten war, gelang es ihm, den Esel hinten emporzuziehen, worauf denn auch die Beine hochkamen. Beim letzten Ruck war der Esel gerettet, der starke Holzhauer hatte ihm aber den Schwanz ausgerissen. Der Eselbesitzer schrie, als er das sah, voller Wut: "Was, du reißt hier meinem Esel den Schwanz aus? Ist das mein Esel oder dein Esel? Ich werde dich zu dem weisen Amin führen und der soll dann entscheiden, ob du mir den Esel zu ersetzen hast oder nicht."

So zogen denn der Holzhauer, der Jude, die Frau des Juden, die Dienerin, der Kindsvater, die Kindsmutter, der Eselbesitzer und der Esel mit abgerissenem Schwanz gemeinsam auf dem Wege zu dem weisen Amin dahin. Der Holzhauer sagte aber: "Nun habe ich schon drei Sachen zu verfechten und drei Parteien gegen mich. Wie soll der weiseste Richter da nun wohl gerecht zu meinen Gunsten entscheiden! Es ist das beste, ich nehme mir vorher das Leben!" Wie sie nun den Hügel hinauf zu dem weisen Amin gingen, kamen sie an einen 48



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Felsenvorsprung, der sich jäh erhob, vorbei. Der Holzhauer sprang den Felsenvorsprung herab. Unten im Tale nun saß gerade ein Greis, dessen sieben Söhne um ihn versammelt waren und von ihm die Auszahlung ihres Erbteils noch zu seinen Lebzeiten verlangten. In diese Versammlung hinab stürzte der Holzhauer und zwar gerade auf den Greis, mitten zwischen die hadernden sieben Söhne Der Greis brach unter dem Aufschlag des Holzhauers sterbend zusammen und verschied sofort. Der Holzhauer aber blieb unverletzt.

Die sieben Söhne des Greises sahen, daß ihr Vater endlich tot war, wie sie es sich der Erbschaftsverteilung wegen schon lange gewünscht hatten. Als der Holzhauer sich nun aber wohlbehalten erhob, schrien sie ihn an und sagten: "Wie kannst du unsern alten teuern Vater so töten? Glaubst du etwa, daß uns unser Vater nichts wert ist? Was er uns wert ist, sollst du uns bezahlen! Komm nur mit uns zu dem weisen Amin, der wird schon wissen, was recht ist."

Dann setzten der Holzhauer, der Jude, die Frau des Juden, die Dienerin, der Kindsvater, die Kindsmutter, der Eselbesitzer, der Esel und die sieben Söhne des Greises gemeinsam den Weg zum Amin fort. Der Holzhauer sagte aber bei sich: "Nun habe ich vier Sachen zu verfechten und sieben Parteien gegen mich! Wie soll ein Richter so gerecht sein können, mir in allem Recht zu geben. Es hilft nichts. Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen."



***
D er älteste Sohn des Holzhauers genoß, je länger die Zeit hinging, desto mehr Ansehen, und der Ruf seiner Weisheit verbreitete sich mehr und mehr. Es verging kein Tag, an dem aus der Ferne nicht Leute zu ihm kamen, um seine weise Entscheidung in schwierigen Fällen anzurufen.

Eines Morgens rief er nach dem Aufstehen seinen Diener und fragte: "Was habe ich heute morgen zu erledigen?" Der Diener sagte: "Es ist ein junger Mann da, der angeklagt ist, in unangemessener Weise seinen Maulesel in dem Staue eines andern behandelt zu haben, so daß er die ganze Bewohnerschaft des Ortes in Aufregung versetzt hat. Alle Leute sind mitgekommen, sich über den Schinder zu beklagen, der ein so schönes Tier nicht verdient. Die Leute bitten, daß man ihm das schöne Tier abnimmt, da er es nicht verdiene. Sie wollen sich verpflichten, das Tier in ihrem Ort zu pflegen." Der weise Amin sagte: "Was habe ich sonst noch zu erledigen?" Der Diener sagte: "Dann ist noch ein großer Verbrecher hierher geschleppt, der ist von vier Parteien angeklagt. Er hat einem Juden Frau und Hof



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abschwindeln wollen; er hat ein Kind getötet, er hat gewalttätig einem Esel den Schwanz ausgerissen und endlich einen von seiner Familie hoch verehrten Greis getötet, indem er von einem Felsen aus auf ihn herabgesprungen ist und ihm das Genick gebrochen hat. Es muß ein ganz schlimmer Mann sein." Der weise Amin sagte: "Bringe mir erst einmal den jungen Mann mit seinem Maulesel und die übelgesinnten Dorfbewohner herein!"

Der Diener brachte den jüngeren Bruder mit dem schönen Maulesel und den habgierigen Mann mit den Dorfbewohnern herein. Als der weise Amin den jüngern Bruder sah, wußte er sogleich, daß das sein Bruder sei; der aber erkannte den Amin nicht. Der habgierige Mann trug dem weisen Amin die ganze Sache vor. Als der habgierige Mann geendet hatte, fragte der weise Amin die mitgekommenen Dorfbewohner: "Weshalb seid ihr mitgekommen?"Die Dorfbewohner sagten: "Wir wollten dich bitten, daß, wenn du dem Burschen da als Entgelt für sein unhöfliches Benehmen und als Strafe für seine schlechte Behandlung des Maulesels sein Tier wegnehmen willst, es unserem Dorfe zur Pflege übergeben möchtest." Der weise Amin sagte: "Ist keiner von euch auf einem eigenen Maulesel gekommen ?" Die Leute sagten: "Wir sind alle auf Mauleseln hierher geritten." Der Amin sagte: "So will ich auf den Hof kommen und mir eure Tiere ansehen."

Der weise Amin ging auf den Hof. Auf dem Hofe standen etwa hundert Maulesel. Der weise Amin sagte: "Nun führt eure Tiere einer nach dem andern an dem Maulesel des jungen Mannes hier vorüber." Die Leute taten es. Es war kein Maulesel so schön, wie der des jungen Mannes. Die sämtlichen Maulesel der Dorfbewohner waren aber auch nicht annähernd so gut gepflegt wie der Maulesel des jüngeren Bruders. Dem einen war ein Auge verletzt, der zweite hinkte, der dritte war nicht geschoren. Die meisten hatten blutige Stellen auf dem Rücken usw. Der Maulesel aber, auf dem der Habgierige gekommen war, hinkte, hatte nur ein Auge, blutete auf dem Rücken und war ganz dünn. Der Amin betrachtete die sämtlichen Maulesel, wandte sich dann an die Dorfbewohner und sagte: "Ich nehme euern Vorschlag, daß dem, der die schlechte Behandlung des Maulesels zu verantworten hat, eine Buße auferlegt wird, an. Ich habe euch doch richtig verstanden?" Die Dorfbewohner sagten: "Ja, du hast richtig verstanden?"

Der weise Amin sagte: "Vergleicht nun die Tiere untereinander. Eure Tiere sind sämtlich in einem schlechten, das des jungen Burschen



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ist aber in einem guten Zustand. Ihr seid demgemäß im Unrecht, der Bursche aber im Recht. Ihr habt ihn gekränkt, ihr werdet ihm also eine Buße geben. Je schlechter eure Tiere sind, desto höher wird die Buße sein. Von dir, Bursche, möchte ich nun wissen, wie du es erreichst, daß dein Maulesel in so gutem Zustande ist. Du brauchst es nicht vor allen Leuten zu sagen, komme mit in meine Kammer und bringe dein Tier auch mit, du kannst mir dort sagen, warum du dich weigerst, das Kopfgeschirr abzunehmen." Der Bursche erschrak. Der weise Amin ging aber voran, und er folgte ihm mit dem Maulesel.

Als sie in der Kammer waren, schloß der weise Amin hinter sich die Türe ab, zog den jüngeren Bruder an sich und sagte: "Kennst du mich denn nicht? Ich bin dein älterer Bruder." Da sah auch der Jüngere, wen er vor sich hatte und er sagte: "Ach! was bin ich dankbar, daß ich dich als Weisen wiedergefunden habe, denn ich habe mit dem Herz des Vogels zwar vielen Reichtum aber keine Klugheit gewonnen." Danach erzählte er seine Erlebnisse, nahm dem Maulesel das Kopfgeschirr ab und zeigte dem Bruder seine Frau. Der Bruder begrüßte sie herzlich, brachte sie hinüber zu seinen eigenen Frauen und sagte zu dem jüngeren Bruder: "Komm mit, draußen habe ich eine sehr wichtige Sache zu erledigen."

Der weise Amin setzte sich auf seinen Platz und der jüngere Bruder neben ihn. Dann führte der Diener den Holzhauer, den Juden, die Frau des Juden, die alte Dienerin, den Kindsvater, die Kindsmutter, den Eselbesitzer, den Esel und die sieben Söhne des verstorbenen Greises herein. Der Holzhauer hatte große Furcht und sagte sich immerfort: "Ich habe vier Sachen zu verfechten und vier Parteien gegen mich. Der weiseste Richter kann nicht für mich stimmen. Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen." Der weise Amin beugte sich aber zu seinem Bruder nieder und sagte ihm ins Ohr: "Sieh, das ist unser Vater, unsre Mutter, die alte Dienerin und der Jude." Der jüngere sagte: "Du hast recht, sie sind es." Aber weder Vater noch Mutter erkannten ihre Söhne, die inzwischen älter geworden waren.

Die sieben Männer beklagten sich darüber, daß der Holzhauer ihnen den Vater erschlagen habe. Der weise Amin fragte sie: "Worüber spracht ihr, als das Unglück geschah? Es muß eine besondere Unterhaltung gewesen sein, denn einmal spricht man das Übliche daheim im Gehöft, und dann wäre es sonst auch kaum möglich gewesen, daß der Vater mitten zwischen euch gesessen hätte und



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ihr alle Sieben um ihn standet. Also wovon spracht ihr ?" Die sieben Männer wurden verlegen und sagten: "Wir forderten von ihm unser Erbteil, da es nicht abzusehen sei, wie lange er noch leben würde." Der Amin sagte: "Ihr seid schlechte Söhne, die ihr nicht einmal den Tod des Vaters abwarten könnt; zur Strafe dafür werdet ihr diesem Holzhauer, der euch in euerm Sinn auch noch von einer Last befreit hat, eine Buße zahlen. Geht aber noch nicht, sondern bleibt!"

Der Eselbesitzer beschwerte sich darüber, daß der Holzhauer seinem Tiere den Schwanz ausgerissen hatte. Der weise Amin fragte: "Ist das Leben des Esels mehr wert oder ist der Schwanz des Esels mehr wert ?" Der Eselbesitzer sagte: "Das Leben des Esels ist mehr wert." Der weise Amin sagte: "So bist du dem Holzhauer immer noch mehr schuldig, denn der Holzhauer hat das Leben des Esels gerettet. Du zahlst ihm also eine Buße. Geh aber noch nicht, sondern bleibe!"

Der Kindsvater brachte seine Klage vor, daß der Holzhauer sein Kind getötet habe. Der weise Amin ließ die Kindsmutter vortreten und sagte zu ihr: "Schwöre mir, daß du die Wahrheit sagen willst." Die Kindsmutter schwor. Der Amin fragte: "Was wolltest du nachts noch am Heuschober, da die Ziegen doch am Abend schon Futter bekommen hatten ?" Die Frau wurde verlegen. Die Frau sagte endlich: "Ich wollte mich da mit einem Liebhaber treffen." Der weise Amin sagte zum Kindsvater: "Das Kind war offenbar nicht deines. Also hast du kein Recht zur Klage. Du zahlst dem Holzhauer eine Buße aus Dankbarkeit dafür, daß er die Liebhaberschaft deiner Frau ans Tageslicht gebracht hat. Geh aber nicht. Ich habe noch an euch alle, mit denen ich bisher gesprochen habe, eine Frage zu richten. Sagt mir doch, seid ihr alle selbst auf den Gedanken gekommen, jeder einzelne in seinem Fall, den Holzhauer zu verklagen?"

Die sieben Söhne sagten: "Nein, der Jude trat hinter uns und flüsterte uns zu, wir sollten mitkommen und Klage führen."

Der Eselbesitzer sagte: "Nein, der Jude trat zu mir und flüsterte mir zu, ich solle mitkommen und Klage führen."

Der Kindsvater sagte: "Nein, der Jude kam nachts noch zu mir und sagte mir, ich solle mit ihm kommen und auch über den Hole.. hauer Klage führen."

Der weise Amin sagte: "Es ist gut. Ich weiß genug. Zahlt alle eure Buße und geht, wenn ihr es eilig habt. Wenn ihr aber sehen wollt, welcher Art die Klage des Juden ist, so bleibt hier!" Darauf blieben



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alle. Der weise Amin wandte sich nun an den Juden und sagte: "Erkläre du mir genau und kurz den Grund deiner Klage."

Der Jude sagte: "Dieser fremde Mann, den ich früher nicht kannte, wollte in mein Haus eindringen und behauptete, mein Gehöft gehöre ihm und meine Frau sei die seine." Der weise Amin fragte seine Mutter: "Was sagst du hierzu?" Die Mutter sagte: "Ich war vorher nie verheiratet und kenne den Mann nicht. Ich bin die Frau des Juden." Der weise Amin fragte die alte Dienerin: "Was sagst du hierzu?" Die alte Dienerin sagte: "Die Frau war früher schon einmal verheiratet. Ich erkenne den Mann aber nicht, weil meine Augen von Alter schwach wurden und weil er gealtert ist."

Der weise Amin sagte zum Juden: "Es ist lange her, da hast du täglich einmal einem Holzhauer ein Ei immer für fünfzig Goldstücke abgekauft. Der Holzhauer fand die Eier erst im Walde in einem Nest, bis seine Frau ihm eines Tages den Rat gab, den Vogel zu fangen und in einen Käfig zu setzen. Du kanntest den Wert des Vogels und brachtest den Holzhauer als Kaufmann über das Meer. Dann heiratetest du seine Frau und verlangtest als Hochzeitsmahl den Vogel, der die Eier legte. Es lag dir daran, den Kopf und das Herz des Vogels zu genießen, weil dieser Kopf und das Herz besondere Klugheit und Reichtum verleihen. Erinnerst du dich an alles dieses, Jude?" Der Jude sagte: "Ich weiß davon nichts."

Der weise Ami rief seine Mutter heran, streifte den Arm hoch und sagte: "Du hattest mit dem Holzhauer zwei Söhne, die an dem Tage, als du den Juden heiratetest und du den eierlegenden Vogel tötetest, fortliefen. Sieh hierher!" Der weise Amin hatte an der Schulter ein Muttermal. Die Frau sank weinend nieder und sagte: "Alles, was du sagst, ist die Wahrheit, die reine Wahrheit! Und du bist mein ältester Sohn." Der weise Amin sagte: "Du erkennst also diesen Mann als deinen ersten Gatten ?" Die Frau sagte: "Ja, er ist es."

Der weise Amin sagte: "Jude, du hast den Holzhauer in Lebensgefahr über das Meer gebracht. Du hast ihm die Quelle seines Reichtums gestohlen. Du hast ihm seine Frau genommen, du hast seine beiden Kinder, die hier vor dir sitzen, aus dem Hause gejagt, du hast die Leute gegen ihn aufgewiegelt, daß sie ihn mit ihren Klagen ins Gefängnis brächten. jude, du wirst hierfür mit dem Leben bezahlen und alles was dein war, gehört von nun ab dem Holzhauer. Bringt den Juden fort!"

Die Leute brachten den Juden fort und töteten ihn. Der weise



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Amin begrüßte seinen Vater und hieß ihn, sich neben ihn setzen. Dann sagte der weise Amin:

"Mutter, der Vater und seine zwei Söhne sind wieder vereinigt. Mein jüngerer Bruder und ich werden uns nicht mehr trennen. Unser Vater wird das Besitztum des Juden übernehmen. Die alte Dienerin wird bei ihm bleiben. Du hast unrecht gehandelt, aber mir, deinem Sohne, steht es nicht zu, über dich zu urteilen. Das mag dein Mann tun."


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