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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


53. Der starke Jäger

I n alter Zeit hatte ein Amin einmal drei Söhne. Damals waren die Amin große Herren, die im Dorfe alle Gewalt hatten und deren Söhne, um ihrem Vater gleich zu werden, weit hinaus in das Land zogen, erst auf die Jagd, dann in den Krieg. Die drei Söhne des Amin waren alle drei annähernd gleich alt, und es war um die Zeit, da die Väter den Söhnen die Genehmigung gaben, zur Jagd zu gehen.

Eines Tages war der älteste Sohn des Amin alt genug, um allein ausreiten zu dürfen. Er kam also eines Tages zu seinem Vater und sagte: "Vater, ich bitte dich, mir ein Pferd und die Erlaubnis zu jagen zu erteilen." Der Vater sagte: "Ich will dir beides geben, aber achte sehr wohl auf das, was ich dir sage." Darauf erklärte der Vater seinem Sohne, in welchen Gebieten er jagen dürfe und in welchen nicht. Er wiederholte ihm alles mehrmals und ließ ihn dann mit seinem Pferde davonreiten.

Der älteste Sohn zog also hinaus und hielt sich zunächst streng an das, was sein Vater ihm gesagt hatte, d. h. er mied die Gebiete, deren Betreten ihm verboten war. Eines Tages hatte er einen Hasen getroffen, der lief noch ein Stück und sprang dann mit der letzten Kraft über die dem Burschen bezeichnete Grenze, um dort sogleich zu verenden. Der Bursche hatte große Lust, die Grenze zu überschreiten und das verbotene Gebiet zu betreten, um die Jagdbeute zu retten, er bezähmte sich aber und kehrte traurig nach Hause zurück.

Einige Tage darauf begegnete ihm genau das gleiche. Er bezwang sich wiederum, wenn es ihm auch schwer wurde, und kehrte ärgerlich nach Hause zurück. Als ihm aber genau das gleiche wenige Tage später zum dritten Male begegnete, ritt er über die Grenze. Er stieg ab und wollte den anscheinend toten Hasen aufheben, da sprang dieser auf und rannte, eine starke Schweißspur hinter sich lassend, von dannen. Der Bursche aber sprang im Jagdeifer auf sein Pferd und setzte, immer auf dem verbotenen Gebiet, hinter dem flüchtigen Wild her.

Ohne daß er es merkte, kam der Bursche von dem ihm bekannten



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Gebiete weit ab, so daß, als die Dunkelheit eintrat, er nicht wußte, wo er sich befand. Er irrte einige Zeit umher, dann sah er Rauch aufsteigen, und als er darauf zuritt, sah er wenig später ein Haus vor Sich liegen. Er stieg am Hause ab. In dem Hause lebte ein Mann mit seiner Tochter. Sie nahmen den Burschen freundlich auf, stellten sein Pferd in den Schuppen und luden ihn zum Essen und Nachtlager ein. Der Bursche nahm alles an. Nachher wurde ihm zwischen dem Lager des Vaters und dem der Tochter eine Stätte zum Schlafen bereitet. Alle drei legten sich nieder.

Am andern Morgen erhoben sich der Vater und die Tochter und blickten nach der Schlafstätte ihres Gastes. Wie erstaunten sie aber, als dieser mit abgeschnittenem Kopfe tot dalag? Erst erschraken Sie. Dann nahmen sie den Toten und legten ihn draußen in einen Schuppen.

Drei Monate später kam der zweite Sohn des Amin zu seinem Vater und bat ihn ebenfalls um ein Pferd und um die Erlaubnis zu jagen. Der Bursche war in dem gehörigen Alter, so konnte er es ihm nicht gut abschlagen. Er erteilte ihm die erbetene Erlaubnis, schenkte ihm das Pferd und setzte ihm dann eingehend auseinander, welche Gebiete ihm in Zukunft zur Jagd freiständen und welche er nicht betreten dürfe. Er wiederholte die Auseinandersetzung und schloß mit der Ermahnung: "Vergiß dieses alles nicht, mein Sohn, sondern präge dir alles ein. Denke daran, daß dies zu wissen und genau dem zu folgen sehr notwendig ist. Vergegenwärtige dir stets, wenn du auf die Jagd ausreitest, daß dein Bruder eines Tages zur Jagd ausgeritten und nicht wiedergekommen ist, weil er eben sicherlich meinen Ermahnungen nicht gefolgt ist." Der zweite Sohn versprach dem Amin, allen seinen Anordnungen genau Folge leisten zu wollen, bedankte sich und nahm sich beim Weggehen vor, stets gehorsam und vorsichtig die Gebote innezuhalten.

Eine Zeitlang ging alles sehr gut. Auch er bezwang sich das erstemal leicht, als der Hase jenseits der Grenze verendete. Auch er ertrug das gleiche das zweitemal ebenmütig. Aber auch er erlag der Versuchung, als er das drittemal dasselbe erlebte. Auch er ritt über die Grenze des Erlaubten. Auch er verritt sich, auch er sah den Rauch, auch er stieg ab und betrat das Haus, in dem der Vater und seine Tochter ihm entgegenkamen, ihm aber weit weniger bereitwillig als dem älteren Bruder Abendessen und Lager anboten. Auch dem zweiten wurde die Lagerstatt zwischen Vater und Tochter bereitet, auf der er dann bald in einen festen Schlaf verfiel.



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Am andern Morgen erwachten Vater und Tochter, blickten zu dein Lager ihres Gastes hinüber und erschraken nicht wenig, als sie diesen wieder mit abgeschlagenem Kopfe tot daliegen sahen. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatten, nahmen sie den Leichnam auf und trugen ihn in den Schuppen, wo sie ihn neben den des älteren Bruders legten.

Drei Monate später kam auch der dritte Sohn des Amin zu seinem Vater und bat ihn um ein Pferd und um die Erlaubnis, auf die Jagd zu gehen. Der Vater schüttelte bedenklich den Kopf und sagte: ,Mein Sohn, steh von diesem Wunsche ab." Der jüngste Sohn sagte: ,Mein Vater, ich bitte dich, meinem Wunsche Folge zu leisten, denn siehe, ich bin in dem Alter, in dem andre junge Leute zu solchem Behufe auch die Genehmigung hierzu erhalten." Der Vater sagte: ,Denke daran, daß deine beiden ältern Brüder auf die Jagd gingen Lind nicht wieder zurückkehrten. Denke daran, daß ich nun außer dir keinen Sohn mehr habe."

Der jüngste Sohn sagte: "Mein Vater, ich glaube, ich bin stark und Klug genug, um ernsten Aufgaben gewachsen zu sein. Bedenke, daß ich beim Spiele als Bursche schon als der Gewandteste galt. Bedenke, mein Vater, daß ich einmal beginnen muß, meine Stärke zu üben, und daß das Spiel der Jugend für mich kindisch wird, weil ich ihm entwachse. Bedenke, mein Vater, daß die Welt voll ist von abenteuern und großen und ganz großen Aufgaben, und daß die Pflicht der Starken ist, den Schwächeren mit Mut, mit Kraft und Klugheit Beispiele zu geben." Der Vater sagte: "Es ist wahr, daß du ein tüchtiger Bursche bist. Es ist wahr, daß du auch deinen Altersgenossen so überlegen bist, daß, wenn ich selbst an irgendwelche Kämpfe und Abenteuer denke, mir ein solches gegen einen Burschen deiner Art unangenehm sein würde. Also will ich deinen Wunsch gewähren und dir Pferd und Erlaubnis zur Jagd geben. Achte aber auf folgendes."

Danach setzte der Vater auch seinem dritten Sohn auseinander, welche Gebiete er betreten dürfe, welche nicht. Hierauf antwortete der Sohn aber nicht. Er nickte nur mit dem Kopfe und ging hinaus. Er sagte: "Verstanden habe ich alles."

Der Jüngste bestieg das Pferd und ritt von dannen. Nun hatte es nicht geregnet, seitdem der zweite Sohn des Amin seinen letzten Jagdausflug angetreten hatte. Also konnte man noch sehr gut alle Spuren erkennen. Der junge Jäger sagte zu sich: "Ich möchte doch wissen, bei welchem Abenteuer meine ältern Brüder umgekommen



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sind. Vielleicht kann ich die Spur meines zweiten Bruders noch verfolgen." Er hielt scharf Ausschau und kam nach einigen Stunden auch dahin, wo der Bruder an der Grenze des verbotenen Gebietes erst zögernd einmal das Pferd gewendet hatte, dann doch hinübergeritten, beim anscheinend toten Hasen abgestiegen und im Galopp hinter den Wiederauflebenden hergesetzt war. Sowie sich der jüngste Jäger aber der Stelle näherte, sah er auch schon eine Gazelle aufspringen, die genau auf der Spur des brüderlichen Pferdes fortrannte.

Der junge Jäger drückte sogleich dem Pferde die Sporen in die Seiten und galoppierte hinter der Gazelle her. Nach einiger Zeit wendete die Gazelle den Kopf und schaute sich um, als wenn sie sich davon überzeugen wolle, daß der Jäger ihr auch folge. Der junge Jäger sagte: "Oho, ich glaube, die Gazelle will mir den Todesweg meines Bruders noch schneller zeigen, denn sie bleibt immer in der Spur seines Pferdes." Nach einiger Zeit kamen die Gazelle und der junge Jäger dem Hause nahe, in dem der Vater und seine Tochter wohnten. Die Gazelle sprang über den Zaun und war dann fort. Der junge Jäger hielt mit seinem Pferde vor dem Hause. Er stieg ab. Er ging hinein.

Der Mann und seine Tochter kamen heraus. Der Mann sagte: "Ich kann dir leider nicht viel Gutes bieten. Ich meine es gut mit dir, wenn ich dir rate, weiter zu reiten." Der Jäger sprang vom Pferde und sagte: "Ich bin nicht auf die Jagd gegangen, um Gutes zugewinnen. Ich bin auf die Jagd geritten, um etwas zu erleben. Wenn du mir also trotz allem, was hier vorkommen kann, ein Abendessen und ein Lager bis morgen früh gewähren willst, so mag nachher kommen, was da will." Der Vater sagte: "Wenn du es nicht anders haben willst, so nimm das, was es in meinem Hause gibt, als gern geboten hin. Meine Tochter und ich werden dir nichts Böses tun." Der Jäger bedankte sich und sagte: "So richtet nur alles her, ich will bis zum Abendessen noch einen Weg in die Runde machen." Dann ging er hinaus und in einem weiten Kreise herum. Er betrachtete emsig den Boden und sagte heimkehrend zu sich: "Die Spur meiner Brüder führt in dieses Haus hinein, nicht aber wieder heraus. Sie sind also in diesem Hause umgekommen."

Danach kehrte der Jäger zurück, nahm mit dem Vater das Abendessen ein und ließ sich das Lager zwischen dem Vater und der Tochter anweisen. Ehe er sich aber niederlegte, schaute er zum Fenster, das zu seinem Haupte war, hinaus und sah, daß da ein Baum stand,



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dessen Äste er vom Fenster aus leicht erreichen konnte. Er legte sich vorderhand nieder, sowie aber Vater und Tochter eingeschlafen waren, ergriff er seinen Säbel und stieg zum Fenster hinaus auf den Baum.

Er saß schon einige Stunden auf dem Baum, da bemerkte er genau zur Mitternachtszeit, daß ein Ungeheuer durch das Dunkel leise auf das Haus zutappte (Luasch, plur. Leauhausch), gerade von der Seite her, an der er auf seinem Baume saß. Der Jäger sagte bei sich: "Dieses ist also das erste Abenteuer."

Der Luasch kam immer näher. Als er gerade unter dem Baume war, sprang der Bursche herab und schlug ihm eine schwere Wunde, so daß er strauchelte, dann aber von dannen tappte. Der Bursche tastete auf dem Boden hin und bemerkte, daß das Ungeheuer eine starke Blutlache hinterlassen hatte. Der Jäger sagte: "An dieser Blutspur werde ich morgen schon seinen Weg wiederfinden." Befriedigt stieg er hierauf wieder auf seinen Baum, vom Baum durch das Fenster in das Haus und legte sich auf seinem Lager zwischen Vater und Tochter nieder.

Der Jäger schlief sehr schnell ein und wachte nicht eher auf, als bis der Vater und die Tochter ihn durch ihre erstaunten Ausrufe weckten. Der Jäger hob den Kopf und fragte: "Was gibt es denn?" Der Vater sagte: "Du hast großes Glück gehabt, daß du noch lebst. Schon zweimal sind vor dir Fremde hier angekommen und hier zur Ruhe gegangen, und beide Male fanden wir sie am andern Morgen mit abgeschlagenem Kopfe auf ihrem Lager." Der Jäger sagte: "Es ist auch in dieser Nacht ein Luasch gekommen, der es auf mich abgesehen hatte, ich habe ihm aber die Lust zum Kopfabschneiden genommen; nachher werde ich mich auf die Suche nach seiner Spur begeben. Zunächst zeigt mir aber die beiden Fremden, die hier enthauptet sind."

Der Vater führte den Jäger in den Schuppen, in dem die Toten lagen. Der Jäger sagte: "Ja, es sind meine Brüder." Danach begrub er sie. —Der Vater führte den Jäger in den Stall, in dem neben dem des Jägers zwei Pferde standen und sagte: "Ich habe beide Pferde die Zeit durchgefüttert." Der Jäger sagte: "Ja, es sind die Pferde meiner Brüder. Behalte sie als Dank für deine Fürsorge und als Entgelt für deinen Schrecken."

Danach bestieg der Jäger sein Pferd, nahm Abschied von Vater und Tochter, zeigte ihnen die Blutlache und Spur, die das Ungeheuer hinterlassen hatte und machte sich auf zur Verfolgung.



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Sieben Monate verfolgte der Jäger die Spur des Luasch, ohne das Ungeheuer je zu erreichen. Nach sieben Monaten aber verlor er die Spur in der Sahara und vermochte sie trotz emsigen Suchens nicht Wiederzufinden. Er irrte in der Sahara umher, bis er endlich in der Ferne ein Licht sah, das hell leuchtete, aber so weit entfernt war, daß es nicht größer als ein Stern erschien. Der Jäger merkte sich genau die Richtung und ritt mit dem ersten Morgengrauen darauf zu. Gegen Mittag kam er zu einem sehr großen Gehöft, das hatte mehrere Stockwerke, stand aber ganz allein in der Wüste da. Es War kein Mensch zu sehen.

Der Jäger stieg ab, nahm sein Gepäck vom Pferde und setzte sich vor dem verschlossenen Hause auf eine Matte nieder. Nach einiget Zeit blickte er auf und sah, daß aus einem Fenster des oberen Stockwerkes ein Mädchen herabblickte. Er sah das Mädchen und war so erschrocken über seine Schönheit, daß er fast vergaß, seinen Gruß zu entbieten. Das schöne Mädchen sagte: "Fliehe, so schnell du kannst, denn ich habe vierzig Brüder, die augenblicklich im Kampfe auswärts sind, die dich aber unbedingt töten werden, wenn sie, heimkehrend, dich hier in der Gegend treffen." Der Jäger erhob sich und sagte: "Schönes Mädchen, verlange von mir, was du von einem Manne verlangen kannst. Verlange nur nicht, daß ich fliehe. Denn das ist ein Handwerk, das ich nicht gelernt habe. Viel lieber wäre es mir, wenn du mich auffordertest, gegen die vierzig Männer zu kämpfen, um dich so gewinnen zu können."

Das Mädchen lachte über das ganze Gesicht und sagte: "So komm zu mir herauf und unterhalte dich mit mir." Der Jäger brachte sein Pferd in den Hof, band es im hinteren Winkel an und stieg zu dem Mädchen hinauf. Das Mädchen sagte: "Komm, wir wollen die Karten werfen, um unser Schicksal zu lesen." Der Jäger und das Mädchen warfen die Karten. Sie warfen sie einmal. Da fand sich, daß sie füreinander zur Ehe bestimmt waren. Das Mädchen griff die Karten zusammen und warf sie nochmals. Da fand sich wieder, daß sie füreinander zur Ehe bestimmt waren. Sie warfen sie zum dritten Male, und wieder zeigte es sich, daß sie füreinander bestimmt waren. Das Mädchen sagte: "Nun sind wir also doch füreinander bestimmt und du magst hier bleiben. Bis meine Brüder wiederkommen und ich sie zur Zustimmung bewogen habe, halte dich aber versteckt, denn ich möchte nicht, daß mein Gatte mit meinen Brüdern kämpft."

Als es Abend war, kamen die vierzig Brüder heim. Als der Jüngste



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das Haus betrat, sagte er: "Ich wittere fremdes Fleisch. Es muß ein fremder Mensch da sein." Der Älteste der vierzig Brüder sagte aber: "Mein jüngster Bruder, wie soll wohl ein fremder Mensch in ein Haus kommen, das von vierzig Männern bewacht ist, die gefürchtet sind wie wir." Darauf lachten die andern achtunddreißig, und der Jüngste beruhigte sich.

Nun gewannen die vierzig Brüder sonst ihr Licht dadurch, daß die Schwester ihren kleinen Finger durch die Decke in den Raum steckte, in dem sie weilten. Und dies Licht war es auch gewesen, das der Jäger am vorhergehenden Abend in der Ferne wie einen Stern hell leuchten gesehen hatte. An diesem Tage kam aber die alte Negerin, die die Geschwister als Sklavin bediente und erklärte den Brüdern, daß sie heute im Dunkeln essen müssten, da ihre Schwester heute krank sei und somit ihren kleinen Finger nicht durch die Zimmerdecke strecken könne. Die vierzig Brüder sagten: "So werden wir eben heute im Dunkeln essen, es wird ja wohl jeder einen Löffel und ein Stück Fleisch vorfinden." Die alte Negerin sagte: "Ich werde gleich alles hereinbringen und wohl darauf achten, daß von jedem vierzig sind."

Die alte Negerin ging hinaus und kam gleich darauf mit einer riesigen Schale voll Kuskus herein, auf der vierzig Löffel und vierzig Stück Fleisch lagen. Mit ihr zugleich betrat der Jäger das Zimmer, und da es vollkommen dunkel war, bemerkte es niemand. Die Alte stellte die Schüssel hin und sagte: "Nun langt zu." Die vierzig Brüder lagerten sich um die Schüssel. Der Jäger lagerte mitten zwischen ihnen, und da es ganz dunkel war, so bemerkte es niemand. Jeder der Brüder griff sogleich nach einem Löffel und einem Stück Fleisch, ebenso der Jäger, und da es ganz dunkel war, bemerkte es niemand, bis der letzte Bruder sagte: "Ich habe keinen Löffel und kein Fleisch." Der älteste Bruder sagte: "So hat entweder einer von zwei Löffel und zwei Stücke Fleisch oder die alte Negerin hat sieh heute verzählt. Wenn einer zwei von einem hat, so soll er es sagen» Darauf sagte jeder einzelne: "Ich habe nur einen Löffel und ein Stück Fleisch." Der Älteste sagte: "Dann hat sich also die alte Negerin verzählt. Die alte Negerin kam und sagte: "Was sagt ihr? ich soll mich verzählt haben? Wieviel Jahre lang bringe ich euch kus- kus, Löffel und Fleischstücke! Und habe ich mich etwa je verzählt? Legt gleich alle Löffel und Fleischstücke wieder zusammen und Zählt sie noch einmal."

Alle neununddreißig und der Jäger legten ihre Löffel und das



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Fleischstück wieder hin; der Älteste zählte. Er sagte: "Es sind vierzig Von jedem. Ich habe mich nun selbst überzeugt. Es muß also in der Dunkelheit ein Löffel und ein Fleischstück übersehen worden sein. Langt jetzt wieder zu!" Wiederum griff jeder der Vierzig und auch der Jäger nach einem Löffel und einem Stück Fleisch, und wieder meldete sich einer der vierzig Brüder und sagte: "Diesmal habe ich keinen Löffel und kein Fleischstück erhalten." Wiederum wurde alles zusammengelegt, gezählt, richtig befunden und wieder aufgenommen. Und wiederum hatte einer der Brüder weder Löffel noch Fleischstück erhalten.

Da sagte der älteste Bruder: "So ist denn doch möglich, daß unser jüngster Bruder recht hatte, als er beim Eintritt behauptete, einen fremden Mann zu wittern. Wenn das so ist und wenn wirklich ein fremder Mann unter uns ist, so schwöre ich bei Gott, es soll ihm nichts geschehen, wenn er sich sogleich meldet." Der Jäger sprang auf. Der Jäger sagte: "Ihr habt recht! Ich bin unter euch, früher ein Fremder, in Zukunft aber euer Bruder und Schwager." Als er diese Worte gesprochen hatte, öffnete sich die Tür und eine ungeheure Lichtfülle strömte herein, als träte die Sonne selbst in das Zimmer. Denn die Schwester der Brüder war es, deren kleiner Finger ihnen sonst schon reichlich Licht bot, die nun aber hell strahlend unter sie trat und sagte: "Mein ältester Bruder, ich danke dir, daß du so geschworen hast. Diesen jungen Jäger habe ich zu meinem Gemahl auserwählt, nachdem ich gesehen habe, daß er euer würdig ist. Ich bitte euch nun, ihn auch als Bruder unter euch aufzunehmen."

Die vierzig Brüder betrachteten den Jäger und gaben ihre Zustimmung. Es wurde sogleich ein großes Fest veranstaltet und die Hochzeit gefeiert. Alle saßen vergnügt zusammen, bis der Älteste der Vierzig sagte: "Nun ist es aber genug der Unterhaltung. Vergeßt ihr, meine Brüder, nicht, daß morgen früh unsrer wieder der tägliche Kampf harrt, und daß wir ausgeschlafen und frisch sein müssen, um ihn wacker fechten zu können." Der Jäger sagte: "Erzählt mir, der ich doch nun euer Bruder bin, was ihr für einen täglichen Kampf habt."

Der älteste Bruder sagte: "In unserer Nachbarschaft herrscht ein mächtiger Fürst (Sultan) über eine große Stadt, in der vierzig sehr schöne Mädchen sind, die wir zu Frauen begehren. Es herrscht aber zwischen uns und diesem Fürsten schon seit der Zeit unserer Väter Krieg, und somit können wir unsere Frauen nur gewinnen, wenn wir im Kriege mit den Vätern und Brüdern siegen. Wir ziehen also



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täglich zum Kampfe mit diesen Leuten aus. Jene sind so stark und zahlreich, so daß es noch niemals zu einer Entscheidung zwischen ihnen und uns gekommen ist." Der Jäger sagte: "Ihr habt mir heute eure Schwester zur Frau gegeben, erlaubt mir, daß ich morgen allein gegen jenen Sultan und seine Leute zu Felde ziehe, auf daß ihr so einmal einen Tag ruhen könnt." Die Brüder lachten und sagten: "Was willst du allein gegen jene ausrichten, die wir vierzig nicht zu schlagen vermögen!" Der Jäger bat: "Erlaubt es mir! Schlagt eurem neuen Bruder nicht die erste Bitte ab!"

Die vierzig Brüder wollten es abermals abschlagen. Die Schwester hatte aber ihren Gatten lange von der Seite angesehen und sagte nun: "Haltet ein! Schlagt meinem Gatten diesen Wunsch nicht ab. Laßt ihn morgen allein zum Kampf gegen den Sultan und seine Leute ausziehen!" Darauf lehnten die Brüder sich nicht mehr gegen den Wunsch ihres Schwagers auf. Es war spät in der Nacht, als alle ihr Lager aufsuchten.

Ehe noch die vierzig Brüder und ihre Schwester am andern Morgen erwachten, hatte der Jäger sich schon erhoben, sein Pferd bestiegen und den Weg in der Richtung auf die Stadt des Fürsten eingeschlagen. Es währte auch nicht allzulange, da sah er die Mahalla (den Kriegshaufen) auf sich zukommen. Die Leute des Fürsten wollten nicht mit dem einzelnen Mann kämpfen. Der Jäger rief ihnen zu, dann sollten sie doch einzeln hervortreten und sich mit ihm messen. Damit war der Fürst einverstanden. Er rief einen der stärksten seiner Leute auf, daß er sich mit dem Jäger versuche. Die Gegner hoben die Säbel, ritten gegeneinander an, und der Jäger schlug den Mann des Fürsten nieder. Der Fürst rief einen zweiten unter seinen Leuten hervor, der als noch stärker galt, aber auch der erlag sogleich dem Säbelhieb des Jägers.

Auf diese Weise kämpfte der Jäger gegen den ganzen Haufen und schlug einen nach dem andern, bis zuletzt nur noch der Fürst selbst übrig blieb. Er ritt als letzter an, vermochte wohl einige Säbelhiebe mit dem Jäger zu wechseln, sah aber, daß der andere ihm überlegen war. Er sagte: "Mein tapferer Gegner, komm morgen wieder hierher, dann wollen wir den Kampf zu Ende führen." Der Jäger war einverstanden. Beide wendeten ihre Pferde und ritten heim.

Die vierzig Brüder waren erstaunt, als sie den Schwager wohl. behalten wieder ankommen sahen, denn im Innern waren sie überzeugt,



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daß er bei dem Kampfe das Leben verlieren würde. Sie fragten ihn, was er ausgerichtet habe. Er antwortete: "Wie soll ich gleich am ersten Tage etwas Nennenswertes erreichen, wenn ihr zu Vierzig schon jahrelang ohne wesentlichen Erfolg kämpft? Aber laßt mich die angefangene Arbeit nur noch einen Tag fortsetzen und ich hoffe, euch schon einen kleinen Erfolg aufweisen zu können."

Inzwischen kehrte der Fürst bekümmert in seine Stadt zurück. Er hatte nicht nur seine besten, sondern fast alle seine Kämpfer verloren und sah bei der großen Kraft und Gewandtheit des Jägers für morgen einem sehr schlimmen Ende entgegen. In seiner Bedrängnis ritt er sogleich nach seiner Rückkehr in die Stadt zu einem Amrár (alter) asemeni (Rat), einem bekannten Ratgeber und erzählte ihm alles, was sich heute ereignet hatte. Zuletzt sagte er: "Was soll ich nun tun, um meine Stadt vor dem Mann zu retten, der alle meine Leute erschlagen hat und dem ich allein, wenn er bei frischen Kräften ist, sicher nicht gewachsen bin ?"Der alte Ratgeber sagte: "Wann habt ihr die Fortsetzung des Kampfes verabredet ?" Der Fürst sagte: "Wir wollen morgen um die gleiche Zeit auf dem gleichen Platze kämpfen." Der Ratgeber sagte: "So sende vor dir her die vierzig schönen Mädchen der Stadt, jedes auf einer Stute, jedes mit zwei Gefäßen voll Lachmár (ein Likör aus Wein und Zitronen, der früher hier vielfach hergestellt wurde). Die schönen Mädchen sollen den Jäger begrüßen und ihm zu trinken anbieten. Wenn er dann den Verstand verloren hat, kannst du ihn leicht überwinden, zumal sein Hengst unter den vierzig Stuten unruhig sein wird." Der Fürst bedankte sich für den Rat und richtete alles dem Vorschlage gemäß ein.

Am anderen Morgen war der junge Jäger schon vor allen anderen auf und ritt dem Kampfplatz entgegen. Wie erstaunte er aber, als er statt des Fürsten und kampfbereiten Männern die vierzig schönen Mädchen sah, die ihn freundlich begrüßten und ihm aufmunternd den Lachmár entgegenreichten. Der junge Jäger lachte und sagte: "Dies ist wirklich ein Land der Abenteuer. Ihr seid sicherlich die stärksten Kämpfer des Fürsten." Danach nahm er von dem starken Lach-. mär und trank ihn und trank zu viel und lachte mit den Mädchen, so daß er auf dem Pferde unsicher saß. Sein Pferd aber war erregt durch die Anwesenheit so vieler Stuten, es stieg, sprang zur Seite, und der Jäger fiel zu Boden.

Bis dahin hatte der Fürst sich hinter den vierzig Mädchen versteckt gehalten. Jetzt kam er hervor, schlang einige Stricke um den taumelnden Jäger und machte ihn so zu seinem Gefangenen. Den



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Gefangenen band er dann auf ein Pferd und führte ihn in seine Stadt. In seiner Stadt ließ er ihn ins Gefängnis werfen, das lag tief unter der Erde. Das Pferd des gefangenen Jägers stellte er in seinen Stall, und seinen Säbel hängte er in seiner Kammer auf.

Befriedigt begab sich der Fürst in sein Haus und legte sich nieder. Er lag jedoch noch nicht lange, als er einen starken Gesang hörte. Sogleich sandte der Fürst einen alten Sklaven, der nachsehen sollte, wer der eigenartige starke Sänger sei. Der Bote ging, kam wieder und sagte: "Da ich wußte, daß alle erwachsenen Männer erschlagen sind, sah ich nach im Gefängnis und fand, daß es dein unter der Erde liegender Gefangener ist, der so stark singt."

Den Gesang hörte aber nicht nur der Fürst. Dieser Fürst hatte eine sehr schöne Tochter, die war seit ihrer Geburt in einer Kammer eingeschlossen und hatte noch nicht die Natur und den Himmel gesehen. Dieses Fürstenkind hörte den Gesang. Sie rief ihre Sklavin und fragte: "Sage mir, wer dort draußen so stark singt."Die Sklavin sagte: "Ich höre es auch, ich kann dir aber nicht sagen, wer es ist, denn auch ich habe noch nicht so singen gehört. Wenn du wünschst, will ich sehen, wer es ist; ich werde aber sogleich hingehen und sehen, ob ich finden kann, wer dort singt."

Die Sklavin ging. Sie durchstreifte die ganze Stadt. Sie fand nirgends den Sänger. Sie hörte ihn überall, aber sie konnte ihn nicht finden. Die alte Sklavin kam zu dem Fürstenkind zurück und sagte: "Ich habe in allen Häusern der Stadt nachgesehen, aber ich habe den Sänger nirgends gefunden, wenngleich ich ihn auch überall gehört habe." Die Tochter des Fürsten dachte nach und sagte: "Hast du auch unter der Erde nachgesehen? Ich weiß, mein Vater hat unter der Erde ein Gefängnis, vielleicht ist der Sänger ein Gefangener. Sieh, du Alte, ob du ihn findest. Suche und finde ihn! Ein Mann, der so herrlich singen kann, ist vielleicht auch imstande, mir trotz meines Vaters den Anblick von Himmel und Natur zu verschaffen." Die Alte sagte: "Du weißt, ich werde tun, was ich zu tun imstande bin." Die Alte ging.

Die alte Sklavin kam zu dem Gefängnis unter der Erde. Sie hörte, daß der Gesang aus dem Gefängnis unter der Erde kam. Die alte Sklavin stieg hinab. Sie hob den Verschluß über dem Gefängnis auf und sah den Gefangenen auf dem Boden der Grube liegen. Als der Jäger die Alte sah, brach er seinen Gesang ab. Die alte Sklavin fragte aber den Jäger: "Sage mir, wirst du singen, wenn ich dir aus deinem Gefängnis helfe? Sage mir, kennst du einen S'h(ö)ur-(Zauber-)



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Gesang, der Mauern stürzen läßt und den Verschlossenen die Natur und den Himmel zeigt?" Der Jäger sagte: "Ich bin wohl unterrichtet. Ich kenne solchen Shourgesang. Ich bin gern bereit, ihn zu singen, wenn du mich aus dieser Grube heraufziehst."

Die alte Sklavin lief fort und holte ein starkes Seil. Sie ließ das Seil hinab und band es oben an. Sie warf dem Gefangenen ein Messer hinab, damit schnitt er seine Fesseln durch und kletterte an dem Stricke empor. Der Jäger setzte sich auf den Rand des Gefängnisschachtes. Er begann ein zorniges Zauberlied zu singen. Er zitterte vor Zorn und sang. Darauf begannen allerorts in der Stadt die Mauern zu stürzen und die Menschen in Ohnmacht zu sinken. Auch der Fürst fiel in Ohnmacht. Aber das Haus, in dem die Tochter des Fürsten eingeschlossen war, sank nicht um, und die Tochter des Fürsten erschrak nicht. Als der Gesang geendet hatte, sagte sie zu ihrer alten Sklavin: "Schnell, bringe mir den Sänger herauf. Schließe aber den Schacht so, wie er vorher geschlossen war."

Die alte Sklavin ging hin und sagte zu dem Jäger: "Die Tochter des Fürsten möchte dich sehen und will dich verstecken. Laß uns aber vorher den Gefängnisschacht schließen, damit niemand dein Entweichen merkt." Sie verschlossen den Schacht, und der Jäger trat so stark darauf, daß nur ein sehr starker Mann imstande gewesen wäre, ihn zu öffnen. Die alte Sklavin zeigte dem Jäger den Weg zu ihrer Herrin. Es lag aber alle Welt in Ohnmacht, so daß niemand sie sah. Nach einiger Zeit kamen die Leute zu sich. Der Fürst sagte zu seinem Sklaven: "Dieser Gefangene ist fürchterlich. Geh hin und sieh, ob der Verschluß fest auf dem Schacht liegt und wälze mit andern zusammen noch Steine darauf." Die Sklaven gingen hin und sahen nach dem Schachtverschluß. Sie vermochten ihn nicht zu heben. Da versuchten sie es auch nicht erst lange, wälzten noch einige Steine darauf und gingen zum Fürsten zurück. Sie sagten zum Fürsten: "Der Verschluß liegt fest auf dem Schacht. Wir haben, wie du es befohlen hast, noch einige Steine darauf gewälzt. Man hört jedoch nichts mehr von dem Gefangenen, und wir glauben, daß er vor Zorn mit seinem Gesange gestorben ist." Über solche Nachricht war der Fürst sehr zufrieden.

Die alte Sklavin führte den Jäger hinauf zu ihrer Herrin. Die Tochter des Fürsten sagte: "Setze dich nieder, wir wollen die Karten schlagen und sehen, welches unser Schicksal ist." Das Fürstenkind warf die Karten. Da ersahen sie, daß die Tochter des Fürsten zui zweiten Frau des Jägers bestimmt war. Das Mädchen faßte die Karten



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nochmals zusammen und warf sie zum zweiten Male. Darauf sahen sie zum zweiten Male, daß die Tochter des Fürsten zur zweiten Frau des Jägers bestimmt war. Der Jäger ergriff die Karten, faßte sie zusammen und warf sie nochmals. Da erkannten sie zum dritten Male, daß die Tochter des Fürsten zur zweiten Gattin des Jägers bestimmt war. Die Tochter des Fürsten sagte zum Jäger: "So bleibe bei mir als mein Gatte. Ich werde dich versteckt halten, bis wir ein Mittel finden, mir die Natur und den Himmel zu erschließen." So blieb der Jäger bei dem Fürstenkind. Der Jäger und die Tochter des Fürsten ersannen einen Plan zur Flucht.

Eines Tages kam die alte Sklavin zum Fürsten und sagte: "Seit einigen Tagen hat deine Tochter nicht mehr gegessen, so daß sie ganz schwach ist. Seit einigen Tagen weint sie zu jeder Stunde, so daß sie ganz abgehärmt ist. Wenn es noch einige Zeit so fortgeht, wird deine Tochter sterben." Der Fürst sagte: "Geh zurück und sage meiner Tochter, ich ließe sie fragen, welches der Grund ihrer Traurigkeit sei." Die alte Sklavin ging. Nach einiger Zeit kam sie zum Fürsten zurück und sagte: "Ich habe in deinem Auftrage mit deiner Tochter gesprochen." Der Fürst sagte: "Was hat meine Tochter als Grund ihrer Traurigkeit angegeben ?" Die alte Sklavin sagte: "Deine Tochter läßt dir sagen, du hättest sie eingeschlossen gehalten von ihrer Geburt an bis heute. Alle ihre Gespielinnen dürfen frei umhergehen. Sie aber hat noch niemals die Natur und den Himmel gesehen. Sie sehnt sich danach so, daß sie glaubt, sterben zu müssen. Sie bittet dich, ihr einmal zu gestatten, in einer der Tochter eines Fürsten würdigen Art auszureiten." Der Fürst sagte: "In welcher Weise wünscht meine Tochter auszureiten ?" Die alte Sklavin sagte: "Deine Tochter bittet dich, ihr ein gutes Pferd zu geben. Sie bittet dich, ihr die vierzig schönen Mädchen der Stadt auf ihren Pferden mitzugeben. Sie bittet dich, ihrem Diener zu erlauben, auf dem Pferd und mit dem Säbel des fremden Mannes, den du neulich gefangen nahmst und der unten im Gefängnis starb, mitzureiten, damit jeder. mann so die Zeichen deines Triumphes, des Erfolges ihres Vaters, sieht." Der Fürst sagte: "Was wird geschehen, wenn ich meinet Tochter den Wunsch abschlage ?" Die alte Sklavin sagte: "So wird deine Tochter sicher aus Sehnsucht nach der Natur und dem Himmel sterben." Der Fürst sagte: "Wenn es sich so verhält, will ich den Wunsch meiner Tochter erfüllen."

Die alte Sklavin ging. Der Fürst gab alle Anordnungen. Das Pferd des Jägers und dessen Säbel wurden zum Hause der Fürstentochter



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gebracht. Die vierzig schönen Mädchen kamen auf ihren Pferden. Ein Sklave des Fürsten brachte eine herrliche Stute für das Fürstenkind. Die Fürstentochter kam herab. Sie bestieg das Pferd. Der Jäger stand als Diener neben ihr und half ihr. Der Jäger nahm den Säbel, der sein eigner war und bestieg das Pferd, das sein eignes war.

Die vierzig schönen Mädchen ritten voran. Das Fürstenkind folgte ihnen. Hinter ihr kam in gehöriger Entfernung der Jäger in der Kleidung eines Dieners. Der Fürst selbst kam angeritten. Er ritt neben seiner Tochter. Er fragte seine Tochter: "Bist du nun zufrieden ?" Die Tochter sagte: "Mein Vater, es ist alles unendlich schön, was du mir bislang vorenthalten hast. Es ist der schönste Tag meines Lebens." Der Fürst sagte: "Und hast du denn auch deinen Diener mit dem Pferd und dem Säbel des toten Gefangenen?" Die Tochter wies rückwärts und sagte: "Er reitet hinter uns." Der Fürst sagte: "Wenn dir das Reiten das erstemal nach deiner Krankheit zuviel wird, so kehre ja um, ehe du zu schwach wirst."Die Tochter sagte: "Laß mich mit den Mädchen nur noch etwas ins Freie vor die Tore der Stadt, damit ich auch diesen Anblick genieße." Der Fürst sagte: "Am Tore will ich euch an mir vorüberreiten lassen und selbst zurückkehren." Der Fürst ritt voraus.

Vor dem Tore hielt der Fürst. Die vierzig schönen Mädchen ritten grüßend an ihm vorüber. Seine Tochter ritt grüßend an ihm vorüber. Der Diener ritt grüßend an ihm vorüber. Der Zug ritt in die Wüste hinein. Der Fürst sah ihm nach. Nachdem der Jäger einige Schritte weit geritten war, wendete er sein Pferd und kehrte zum Fürsten zurück. Er hielt vor dem Fürsten. Er riß sein Dienerkleid herab und warf es dem Fürsten zu. Er sagte: "Es ziemt sich nicht, daß dein Schwiegersohn, der Sohn der einzigen Tochter eines Fürsten, am Tage des Ausrittes mit den vierzig schönsten Mädchen der Stadt ein Dienerkleid trägt." Der Fürst sagte: "Was soll das?" Der Jäger sagte: "Das soll heißen, daß dies der Hochzeitszug deiner Tochter ist, die sich heute mit deinem Gefangenen verheiratet. Wenn du aber damit nicht einverstanden bist, so kennst du ja meinen Säbel! Du hast ihn mir selbst gesandt. Die vierzig Mädchen führe ich aber ihren Gatten zu, und wenn du glaubst, mich hindern zu können, so tue es. Dein Schwiegersohn grüßt dich."

Damit ritt der Jäger hinter der Tochter des Fürsten und hinter den vierzig Mädchen her. Er setzte sich mit seiner Gattin an die Spitze des Zuges und führte ihn dem Hause seiner vierzig Schwäger zu.



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Der Jäger kam mit seiner zweiten Frau am Hause seiner Schwäger an. Das Haus lag mit geschlossenen Läden still da. Alle vierzig Schwäger trauerten. Als am Abend des zweiten Kampftages der Jäger nicht heimgekommen war, gerieten die vierzig Brüder in große Traurigkeit und sagten: "Unser Schwager ist getötet." Die Schwester sagte: "Ich glaube nicht, daß mein Gatte getötet ist."Die Schwäger blieben dabei. Sie ritten am folgenden Morgen aus, um mit dem Fürsten und seinen Leuten zu kämpfen. Aber es kam niemand zum Kampfe. Erstaunt kehrten sie heim. Die Schwester sagte: "Ich glaube nicht, daß mein Gatte getötet ist."Die Schwäger blieben dabei. Sie ritten jeden Morgen hinaus, um mit dem Fürsten und seinen Leuten zu kämpfen. Aber außer ihnen erschien niemand auf dem Kampfplatz. Da wurden sie noch trauriger, denn der alten Vereinbarung nach durfte keine Partei, die nicht besiegt war, das Gebiet der andern betreten. Und so glaubten die vierzig Brüder denn, daß sie nicht nur ihren Schwager, sondern auch die Möglichkeit, die vierzig Gattinnen zu gewinnen, verloren hätten. Sie schlossen also die Fensterläden und wurden alle Tage trauriger. Sie wurden so traurig, daß auch die Schwester mit ihrem festen Glauben an einen glücklichen Ausgang sie nicht mehr aufzuheitern vermochte.

Der Jäger kam mit den einundvierzig Frauen vor das Haus. Er schlug mit dem Säbel gegen die Tür. Die alte Negerin kam heraus und schlug die Hände zusammen. Die Schwester der Brüder schaute oben zum Fenster heraus und lachte. Die vierzig Brüder traten einer nach dem andern heraus, sahen die vierzig schönen Mädchen und neben sich die Augen. Der Jäger sagte: "Glaubt mir nur, ihr träumt nicht. Hier habe ich euch jedem die gewünschte Gattin, mir aber eine zweite Frau mitgebracht."

Sie veranstalteten ein großes Fest.



***
Drei Tage später schlug die erste Frau des Jägers die Karten. Sie schüttelte den Kopf. Sie legte sie zusammen und schlug sie noch zweimal. Sie ging darauf zu ihrem Gatten und sagte: "Mein Gatte, ich muß dir eine Bitte vortragen!" Der Jäger sagte: "Sage mir, was es ist." Die erste Frau sagte: "Geh auf die Jagd und erlege mir ein Federwild." Der Jäger sagte: "Weiter hast du nichts?" Die erste Frau sagte: "Weiter ist es nichts. Es ist aber ein große Bitte."Det Jäger ging hinunter, bestieg sein Pferd und ritt in die Wüste hinaus zur Jagd auf Federwild. Er ritt sehr weit, ohne etwas zu sehen. Ei



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blickte nach einer Spur von Wild irgendwelcher Art. Da sah er mit einem Male die Spur des Ungeheuers, des Luasch, die er verloren hatte, ehe er zum Hause der vierzig Brüder kam. Er verfolgte die Spur eine kurze Strecke, prägte sich die Stelle ein und kehrte eilig zurück.

Der Jäger trat zu seiner ersten Frau und sagte: "Bereite mir sogleich Speise für eine lange Wanderschaft. Ich will alsbald aufbrechen und weiß nicht, ob ich in einem Monat, in einem Jahr oder nach zwei Jahren zurückkehre." Die erste Frau nickte mit dem Kopfe und sagte: "Ich weiß es." Dann gab sie der Negerin den Auftrag, die Wegzehrung zu bereiten. Sie selbst aber schlug noch einmal die Karten, betrachtete sie eingehend und legte sie dann wieder fort. Der Jäger rüstete sich inzwischen. Er packte die Nahrung, seine Matte, seine Waffen und untersuchte das Geschirr seines Pferdes. Dann kehrte er zurück zu seiner ersten Gattin. Seine Gattin sagte: "Ich weiß, daß du vielleicht nach einem Monat, vielleicht erst nach einem, vielleicht erst nach zwei Jahren zurückkehren wirst. So laß mir denn ein Zeichen zurück, an dem ich immer erkennen kann, ob es dir wohl oder übel ergeht." Der Jäger nahm drei Blumen und gab sie seiner Gattin. Er sagte: "Solange die Blumen frisch sind, befinde ich mich wohl, wenn sie zu welken anfangen, geht es mir schlecht. Wenn die Blätter abfallen, bin ich tot." Die erste Gattin nahm die drei Blumen an sich und sagte: "Es ist gut." Der Jäger aber nahm Abschied und ritt von dannen.

Bald war der Jäger wieder auf der Spur des Ungeheuers. Sechs Monate lang, einen Tag nach dem andern, folgte der Jäger der Spur des Luasch. Sechs Monate lang sah er nichts als die Wüste (S'hära). Am ersten Tage des siebenten Monats langte er aber nahe einem Gehöft an, auf das er sogleich zuritt, da die Spur des Ungeheuers darauf zuführte. Am Gehöfttor angelangt, sprang er vom Pferde. Er führte sein Tier hinein und suchte den Stall auf. Im Stall stand ein sechsfüßiges Pferd. Der Jäger band sein Pferd neben dem sechsfüßigen fest. Dann sah er sich im Hofe nach einem Bewohner um, konnte aber nichts finden als eine Leiter, die zu einem obern Stockwerk hinaufführte. Der Jäger stieg hinauf und trat, da die Tür offen war, in die Kammer hinein. Er blickte in derselben umher und gewahrte sogleich, daß darin auf der einen Seite der fürchterliche Luasch lag, den er so lange gesucht hatte, der Luasch, der seine zwei Brüder getötet hatte, der Luasch, dessen Spur er in der Nähe des Hauses seiner ersten Frau verloren hatte.



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Aber das Ungeheuer schlief. Der Jäger sagte: "Gut; dann werde ich auch erst schlafen." Er legte sich also auf der andern Seite der Kammer auf eine Matte und schlief gleich ein. Nach einiger Zeit erwachte das Ungeheuer. Es erhob sich und entdeckte den schlafenden Jäger. Das Ungeheuer wollte sich auf ihn stürzen, um ihn zu verschlingen. Es hielt aber inne und sagte bei sich: "Als der Fremde herein kam und mich schlafend fand, hat er mich weder geweckt noch mir irgendein Leid angetan. Ich werde nicht anders wie der Fremde handeln." Darauf verließ das Ungeheuer die Kammer und stieg die Leiter hinunter.

Unten blickte das Ungeheuer in den Stall. Da stand neben seinem sechsfüßigen Pferde ein fremdes. Das Ungeheuer erstaunte und sagte: "Das muß das Pferd sein, das den Fremden, der jetzt oben schläft, hierher getragen hat." Dann geriet das Ungeheuer in Zorn und schrie: "Der Mann, der so furchtlos sein Pferd neben dem meinen im Staue anbindet, der hat Mut, der wünscht den Kampf, den kann ich wecken." Das Ungeheuer stürzte die Leiter wieder hinauf und wollte sich auf den Jäger stürzen. Der war aber inzwischen aufgewacht und erhob sich.

Das Ungeheuer fragte brüllend: "Welcher Wind hat dich hierher getragen?" Der Jäger antwortete: "Mein Pferd und meine Waffen haben mich hierher getragen." Das Ungeheuer sagte: "Wollen wir uns mit der Faust oder mit dem Säbel schlagen?" Der Jäger sagte: "Wir wollen uns mit dem Säbel schlagen. Ich bin bereit, sogleich mit hinunter zu kommen und den Kampf zu beginnen, denn ich habe vorzüglich geschlafen."

Der Jäger und das Ungeheuer stiegen die Leiter hinunter. Beide bestiegen ihre Pferde und ritten ein wenig vom Gehöft fort in die Sahara. Der Jäger sagte: "Schlag du zuerst!" Sie schlugen sich. Die Hufe der Pferde rissen Felsblöcke aus der Erde. Die Schläge der Säbel erzeugten Blitze, die ringsum die letzten Grashalme verbrannten. Einen Tag lang schlugen sie sich so. Sie hörten am Abend nicht auf. Den zweiten Tag lang schlugen sie sich so, eine zweite Nacht hindurch, den dritten, vierten, fünften Tag lang. Sie hörten mit dem Kampfe nicht auf vor dem Mittag des siebenten Tages. Da hatten die Pferde mit den Hufen rings herum Täler und Berge aufgewühlt und die Blitze der Säbelhiebe alles Gestein in der Runde schwarz gefärbt.

Das Ungeheuer wandte sein Pferd und sagte: "In dieser Weise können wir noch acht Tage fortfahren und werden doch nicht Wissen,



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wer der Stärkere ist." Der Jäger sagte: "Du hast recht! Wir Wollen es anders versuchen. Ich schlage es so vor. Einer von uns beiden reitet eine Stunde weit fort, wendet sein Pferd und jagt auf den andern zu. Wenn er in voller Wucht am andern vorbeireitet, muß er mit einem Griff diesen am Nacken packen und ihn in vollem Galopp aus dem Sattel heben. Wem es gelingt, den andern so vom Pferd zu bringen, der soll als Sieger gelten, dem soll sich der andere in Zukunft unterwerfen." Das Ungeheuer sagte: "Es ist mir recht so!" Der Jäger sagte: "Wer reitet zunächst an ?" Das Ungeheuer sagte: "Der Mann mit dem sechsfüßigen Pferd."

Das Ungeheuer ritt also eine Stunde weit von dannen, wendete dann sein Pferd und jagte im schnellsten Galopp auf den Jäger zu. Als es dicht beim Jäger war, streckte es die Hand aus; als es am Jäger vorbeischoß, packte er jenen am Nacken, um ihn herunter zu reißen. Der Jäger saß aber fest wie ein Berg, und als das Ungeheuer sich am Halse des Jägers fest anklammerte, brachte es damit nur sein eignes Pferd zum Stehen.

Der Jäger sagte: "Nun bin ich an der Reihe!" Der Jäger ritt von dannen. Er ritt eine Stunde weit. Dann wandte er sein Pferd und galoppierte zurück auf das Ungeheuer zu. Er beugte sich auf dem Pferde etwas vor. Er hob den Arm nicht früher, als bis er gerade neben dem Ungeheuer vorbeischoß, dann aber packte er auch dessen Nacken, hob es hoch in die Luft, wirbelte es einmal herum, drückte es unter den Arm und sagte: "Wer hat den andern besiegt?" Das Ungeheuer sagte: "Der Mann die Frau."

Der Jäger hielt sein Pferd an. Er setzte das Ungeheuer auf die Erde und sagte: "Was sagst du?" Das Ungeheuer sagte: "Ich bin eine Frau." Der Jäger sagte: "Du bist behaart." Das Ungeheuer trat heran, drückte des Jägers Hand auf sein Herz und sagte: "Bin ich keine Frau?" Da wurde der Jäger zornig und rief: "Schande über mich, ich, der ich eine ganze Mahalla (Kriegsmacht) zu besiegen imstande bin, ich -ich -kämpfe mit einer Frau! Kämpfe mit ihr eine Woche lang. Fluch und Schande über mich!" Das Ungeheuer sagte: "Gräme dich nicht! Sei nicht ungerecht gegen dich. Bedenke, daß ich in dieser Gestalt drei Länder verwüstet und die Männer dreier großer Länder getötet habe, ohne je einen zu finden, der mir hätte Widerstand leisten können. Aber komm nun mit zu mir hinauf, wir wollen gemeinsam von der Arbeit dieser sieben Tage ausruhen."

Der Jäger folgte dem Ungeheuer. Sie banden ihre Pferde unten im Stall an. Sie gingen oben hinauf in ihr Zimmer. Das Ungeheuer



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sagte: "Nun sollst du alles erfahren. Wir wollen erst die Karten schlagen und nach unserm Schicksal sehen. Das Ungeheuer schlug die Karten und sagte: "Sieh selbst!" Der Jäger sah, daß das Ungeheuer bestimmt war, seine dritte Frau zu werden. Der Jäger sprang auf. Er rief entsetzt: "Was, dich soll ich heiraten, dich Ungeheuer?" Das Ungeheuer raffte die Karten zusammen, reichte sie ihm und sagte: "Schlage sie selbst!" Der Jäger nahm die Karten. Der Jäger legte sie. Er sagte: "Es ist wahr!" Der Jäger rief: "Was, dich soll ich heiraten, die du meine beiden Brüder getötet hast?" Das Ungeheuer sagte: "Deine Brüder mußte ich töten. Wie sollte ich, die ich euer Land erst betreten darf, nachdem ich Frau geworden sein werde, dich sonst auf meine Spur bringen? Nur dadurch konnte ich dich zwingen, meiner Spur zu folgen und mit mir zu kämpfen. Ohne den Kampf mit dir wäre der Fluch, der auf mir ruht, nie von mir gewichen, und ich hätte nie wieder meine eigentliche Gestalt zurückgewinnen können. Also schlage die Karten noch einmal und erstaune über nichts, was du dann sehen wirst." Der Jäger griff nochmals die Karten, er warf sie, er sah wieder, daß das Ungeheuer ihm zur Frau bestimmt war, aber gleichzeitig breitete sich ein helles Licht im Zimmer aus. Der Jäger blickte auf. Das Ungeheuer stand als eine leuchtend und unvergleichlich schöne Frau vor ihm. Die schöne Frau kniete vor ihm nieder, küßte seine Hand und sagte: "Ich danke dir, daß du mir meine wahre Gestalt wiedergegeben hast, indem du mich überwandest. Ich danke dir und werde dir immer danken."

Der Jäger blickte voller Erstaunen auf seine dritte Frau. Am gleichen Tage noch veranstalteten sie die Hochzeit.

Sie waren seit drei Tagen miteinander verheiratet, da sagte die junge Frau zu ihrem Gatten: "Ich bitte dich, geh auf die Jagd und erlege mir ein Wildbret." Der Jäger sagte: "Ich kann dich nicht verlassen. Wenn ich mich nur eine kurze Strecke weit entfernen würde, würde mich die Sehnsucht packen und mich nach dir zurückziehen." Die junge Frau sagte: "So will ich dir ein Bild von mir mitgeben. Wenn dich die Sehnsucht packt, so zieh es heraus und betrachte es. Dann wird deine Sehnsucht befriedigt sein. Denn jeder, der dies Bild sieht, glaubt, mich lebendig vor sich zu haben." Die junge Frau brachte das Bild herbei. Der Jäger betrachtete es. Der Jäger sagte: "Jetzt besitze ich dich in der Tat zweifach."

Mit dem Bilde im Kleide begab sich der Jäger auf die Jagd. Er ritt



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eine Weile dahin, dann überkam ihn die Sehnsucht nach seiner dritten Frau. Er zog das Bild heraus, betrachtete es eine lange Zeit und steckte es dann wieder fort. Er ritt ein Stück weiter, verfiel abermals in Sehnsucht nach seiner Frau und zog das Bild heraus. Nachdem er es wieder eine lange Zeit betrachtet hatte, tat er es in seine Kleider. Abermals ritt er ein Stück. Als er jedoch wieder von der Sehnsucht gepackt wurde und wiederum das Bild hervorzog, kam ein Windstoß, riß das Blatt mit dem Bilde ihm aus der Hand und trug es hoch oben in der Luft fort.

Der Jäger erschrak. Er behielt das herumflatternde Bild im Auge. Er gab seinem Pferde die Sporen und jagte hinter ihm her. Eine lange Zeit sah er es im Zickzackzug, bald hier, bald dort flattern, dann kam aber ein stärkerer Wind und trug es schnell aus der Gesichtsweite fort. Der Jäger suchte noch eine Weile nach dem Bilde, dann machte er sich traurig auf den Heimweg. Er kam zurück. Er begrüßte seine dritte Frau und sagte sogleich: "Ich bin sehr traurig, denn der Wind hat das Bild weggenommen, das dir so ähnlich war." Die dritte Frau erschrak und sagte: "Dieses wird ein großes Unglück geben. Nun es aber geschehen ist, wollen wir uns nicht weiter der Trauer hingeben, sondern unser Glück genießen."

Das Blatt mit dem Bilde der dritten Frau flog weit fort und fiel zuletzt einem Hirten gerade vor die Füße. Der Hirt nahm das Bild auf und betrachtete es. Er sah das Bild und sagte: "Eine schöne Frau ist mir durch die Luft zugeflogen. Sie ist aber zu schön für mich. Ich werde sie meinem Herrn bringen, daß der sie heirate. Es ist nicht eine Frau für einen armen Hirten. Es ist eine Frau für einen reichen Dorfherrn." Das Bild war nämlich so gemalt, daß jeder, der es nicht wußte, glauben mußte, er habe eine lebende Frau vor sich.

Der Hirt verbarg das Bild sorgfältig in seinem Kleide. Dann trieb er schnell die Herde heim. Als er so früh am Tage schon mit der Herde von der Weide zurückkam und der Dorfherr ihn sah, rief er ihm zornig zu: "Weshalb bringst du mir meine Herde so früh schon zurück? Wie kommst du dazu?" Der Hirt sagte: "Es ist mir durch die Luft eine Frau zugeflogen, die ist zu gut für mich. Sie ist so schön, daß sie würdig ist, deine, des Dorfherrn, Gattin zu werden. Deshalb habe ich sie dir sogleich hierher gebracht." Der Dorfherr erstaunte. Der Schäfer zog aber das Bild aus der Tasche und gab es dem Dorfherrn. Der Dorfherr nahm das Bild und betrachtete es eine lange Zeit. Der Dorfherr betrachtete das Bild und sagte kein Wort. Der Dorfherr stand und betrachtete das Bild.



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Nach einiger Zeit entfernte sich der Dorfherr schweigend und immer das Bild betrachtend. Er ging in die hinterste Kammer seines Gehöftes, schloß hinter sich die Tür, stellte das Bild auf eine Bank und hockte sich davor nieder. Er wandte keinen Blick von dem Bilde und wartete darauf, daß das Bild den Mund öffnen und sprechen würde. Denn auch er glaubte, daß das Bild ein lebendiger Mensch sei. Über dieses Bild vergaß der Dorfherr Essen, Trinken und Schlafen. Tagaus, tagein hockte er vor dem Bilde und wartete darauf, daß es anfange zu sprechen.

Niemand im Dorfe wußte, wo der Dorfherr hingegangen und was ihm zugestoßen war, denn der Schäfer hatte seine Herde wieder auf die Weide getrieben. Nach einiger Zeit suchten die Frauen, die das Essen bereitet hatten, den Dorfherrn. Sie suchten ihn. Sie fanden ihn nicht. Es kamen Leute, die mit dem Dorfherrn wichtige Sachen verhandeln wollten. Sie suchten ihn. Sie fanden ihn nicht. Es kamen viele Leute in allerhand Angelegenheiten. Sie suchten alle den Dorfherrn. Aber niemand fand ihn. Das ganze große Dorf war in Aufregung darüber, daß der Dorfherr verschwunden war. Zehn Tage lang suchte man den Dorfherrn, ohne ihn zu finden.

Im Dorfe war eine überaus schlaue, alte Frau; die war verschlagen und vertraut mit allen Schlichen. Als sie hörte, daß man den Dorfherrn nicht finden könne, machte sie sich insgeheim auf den Weg und schaute von außen durch alle Ritzen der Kammern. So gewahrte sie denn in der hintersten Kammer den Dorfherrn und sah ihn, wie er vor dem Bilde hockte und es ununterbrochen anstarrte. Sie ging zu den angesehenen Männern des Dorfes und sagte: "Was gebt ihr mir, wenn ich euren Dorfherrn auffinde und wieder unter euch bringe?" Die Männer boten eine große Summe. Die Alte sagte: "Das genügt mir nicht." Die Männer boten noch mehr. Sie sagte: "Für diese Summe will ich es tun, denn die Sache kann mich alle Knochen kosten. Schwört mir, daß ihr mir diese Summe zahlen wollt." Die angesehenen Männer schworen es. Die alte Frau kehrte zum Gehöft des Dorfherrn zurück.

Bis zur hintersten Kammer ging die alte Frau; dort klopfte sie. Der Dorfherr starrte auf das Bild und antwortete nicht. Die Alte klopfte stärker. Der Dorfherr antwortete nicht. Die Alte rief: "Laß mich herein." Der Dorfherr antwortete nicht. Vorsichtig öffnete die alte Frau die Tür. Der Dorfherr beachtete es gar nicht. Die alte Frau sprach den Dorfherrn an. Der Dorfherr beachtete es gar nicht. Da



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ging die alte Frau und stellte sich zwischen den Dorfherrn und das Bild, so daß er es nicht mehr sehen konnte.

Der Dorfherr herrschte die alte Frau zornig an. Der Dorfherr sagte: "Geh weg und störe die schöne Frau nicht, sie wollte soeben den Mund öffnen und sprechen." Die alte Frau sagte: "Vergib mir, aber du irrst dich. Dies ist kein lebender Mensch, es ist nur ein Blatt Papier, auf dessen einer Seite eine sehr schöne Frau abgemalt ist. Das Bild der schönen Frau lebt nicht. Es ist aber nach dem Leben gemalt. Die schöne Frau selbst lebt aber. Und wenn du nicht leben kannst, ohne sie sprechen zu hören oder gar zu besitzen, so will ich sie herschaffen. Dies ist jedoch sehr schwer, denn es ist die Frau eines andern Mannes und zwar eines sehr starken Jägers, so daß mich der Versuch die Gesundheit meiner Glieder kosten kann. Zahlst du mir jedoch eine sehr hohe Summe, so will ich mich anheischig machen, die Frau herbeizuschaffen. —Sieh aber selbst, daß dieses hier nur ein Bild ist." Die Alte trat zur Seite und wendete das Blatt um, so daß der Dorfherr statt des Bildes nur ein Papierblatt sah.

Der Dorfherr rieb sich die Augen und nahm Vernunft an. Er sagte: "Welche Summe verlangst du von mir, wenn es dir gelingt, die Frau hierher zu bringen?" Die alte Frau nannte die Summe und fügte hinzu: "Dazu mußt du mir aber noch zwanzig bewaffnete Männer geben, die meinen Befehlen untergeordnet sind." Der Dorfherr war damit einverstanden. Er verschloß das Bild in eine Truhe und trat wieder unter seine Leute, von denen er freudig begrüßt wurde.

Die alte Frau machte sich mit den zwanzig bewaffneten Leuten auf den Weg. Sie wanderte mit ihrer Begleitung weit fort, bis sie eines Tages in der Nähe des Gehöftes war, in dem der Jäger mit seiner dritten Frau wohnte. Die alte Frau versteckte die zwanzig Mann in der Nähe, verabredete ein Zeichen, auf das hin sie in das Gehöft einrücken sollten und machte sich dann in der Kleidung einer alten Bettlerin zu dem Besuche fertig. Sie kam an das Gehöft. Sie bemerkte, daß der Jäger ausgeritten war. Sie rückte ein Bündel Stroh unter das Fenster der Kammer, in der die dritte Frau des Jägers weilte.

Die alte Frau stieg als Bettlerin die Leiter hinauf zu der schönen jungen Frau. Kaum erblickte die aber die Alte, so packte sie sie auch schon und warf sie zum Fenster hinaus. Die Alle fiel unten auf das Stroh, so daß ihr nichts geschah, schleuderte das Stroh aber schnell zur Seite und stellte sich bewußtlos. Nach einiger Zeit kam der Jäger heim. Er sah die alte Frau liegen. Er hob sie auf und trug sie



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hinauf in die Kammer. Er legte sie auf sein Bett und sagte zu seiner Frau: "Diese alte Bettlerin fand ich unter deinem Fenster. Sie wird halb verhungert sein. Wir wollen sie pflegen." Die dritte Frau sagte: "Diese Alte da ist nicht halb verhungert, sondern wird im schlimmsten Falle einige Knochen gebrochen haben, denn ich selbst habe sie aus dem Fenster geworfen. Es ist eine schlimme Person, die nur unser Unglück will, und die uns sicher Unglück bringen wird, wenn wir sie beherbergen."

Der Jäger sagte: "Du hast Unrecht getan, die alte Bettlerin so schlecht zu behandeln. Was soll eine solche alte Frau uns für Unglück zufügen können. Wir wollen die alte Frau pflegen."Die schöne Frau sagte: "Wenn du es verlangst, muß ich dir gehorchen. Jetzt sehe ich selbst noch klar in der Sache. Nachher aber wird die auch mich rühren und meine Zweifel zerstreuen und dann werde ich nicht mehr stark genug bleiben, das Unheil abzuwenden. Ich bitte dich, laß uns die Alte wegbringen." Der Jäger sagte: "Nein, wir können sie nicht wegbringen. Du hast ihr Unheil bereitet, nun müssen wir sie pflegen." Die junge Frau seufzte und sagte: "Wir wollen verfahren, wie du es verlangst."

Die alte Frau blieb im Walde. Die alte Frau wurde von der jungen, schönen Frau gepflegt. Die alte Frau fand für die junge Frau schöne Worte. Die alte Frau unterhielt die junge, wenn der Jäger abwesend war. Sie erzählte aus ihrem eigenen Leben und daß sie selbst einst schön und jung gewesen sei, dann aber viel Unglück erlebt habe. Sie sagte nicht, daß sie mehr Schlechtigkeiten begangen habe, als sonst irgendein Mensch, und daß sie geldgierig war, wie nur je eine Frau solcher Art. Sie erlog aber, wie sie hier und da den Menschen Gutes erwiesen habe, ohne je einen Lohn zu verdienen und wie sie jeden Pfennig, den sie durch die Menschen gewinne, mit andern armen Leuten teile.

Eines Tages war der Jäger wieder abwesend. Die junge Frau saß am Lager der Alten. Die Alte legte die Hand auf den Leib der jungen und weinte. Die junge Frau fragte: "Weshalb legst du deine Hand auf meinen Leib? Weshalb weinst du ?" Die Alte sagte: "Ich denke daran, daß du eines Tages Mutter werden und dann vielleicht ganz allein hier in der Wüste sein wirst." Die junge Frau sagte: "Ich habe einen starken, jungen Gatten, der mir immer zur Seite stehen wird." Die alte Frau sagte: "Auch dein Mann kann einmal getötet werden, er kann leichter getötet werden als ein andrer, denn er liebt die Abenteuer." Die junge Frau sagte: "Mein Mann kann nicht getötet



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werden, denn sein Leben ist mit einem Zaubergeheimnis verbunden. Die Alte sagte: "Das behaupten viele solcher jungen Leute. Sie glauben es auch. Aber man muß solche Zaubergeheimnisse kennen, um sie abmessen und schätzen zu können." Die junge schöne Frau sagte: "Was mein Mann sagt, ist wahr." Die alte Frau sagte: "Alle jungen Frauen sagen: ,Was mein Mann sagt, ist wahr.' Aber wenn es darauf ankommt, den eignen Mann zu schützen, dann wissen sie sich nicht zu helfen, weil sie beizeiten nicht gefragt haben, wie man dies macht, und weil sie sich von uns alten Frauen nicht beizeiten darüber haben belehren lassen, wie sie die Geheimnisse schützen können."

Die junge Frau dachte nach. Die junge Frau vergaß die Worte der alten Frau nicht mehr. Die junge schöne Frau sagte bei sich: "Es ist wahr, ich muß das Lebensgeheimnis meines Gatten kennenlernen, um ihn schützen zu können." Eines Nachts sprachen der Jäger und seine junge Frau miteinander. Die junge Frau sagte: "Ich habe bei deiner Freude an Ritt, Jagd und Kampf doch viel Sorge, daß du mir eines Tages sterben könntest." Der Jäger lachte und sagte: "Mein Leben beruht in einem Geheimnis, das niemand kennt, und deshalb kann mich auch niemand töten." Die junge Frau sagte: "So sage es mir, daß meine Sorge schwindet." Der junge Jäger sagte: "Nur wenn mir ein Haar aus dem Wirbel des Hinterkopfes ausgerissen wird, kann ich wirklich sterben."

Die junge Frau dachte viel darüber nach. Die junge Frau sagte: "Ich will einmal mit der Alten darüber sprechen, wie man dies Lebensgeheimnis schützen kann. Ich werde ihr nicht sagen, daß es das Lebensgeheimnis meines Gatten ist." Die junge Frau saß einmal wieder allein am Lager der alten Frau. Sie sagte: "Wie kann man einen Mann schützen, dessen Leben daran hängt, daß ihm niemals jemand ein Haar aus dem Wirbel des Hinterkopfes abreißt." Die alte Frau sagte: "Ich werde darüber nachdenken, und ich werde du in einigen Tagen Bescheid geben. Ich glaube aber, ein solcher Mensch ist so geschützt, daß ihm niemand etwas anhaben kann: denn das errät niemand." Darauf ward die junge Frau ruhig.

In der kommenden Nacht erhob sich die Alte ganz leise von ihren Lager. Sie schlich zum Lager der jungen, schönen Frau und über. zeugte sich, daß diese fest schlief. Dann schlich sie zum Lager des Jägers und sah, daß dieser auch fest schlief. Er lag aber auf dei Seite und hatte ihr den Rücken zugedreht. Da ergriff sie eines seiner Haare am Wirbel des Hinterkopfes und riß es aus. Sie zitterte abei



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doch vor Furcht, und so kam es, daß sie das Haar nur zur Hälfte abriß, sie ließ es fallen und lief hinweg.

Sowie das Haar des Jägers abgerissen war, verfiel er, wie er lag, in eine schwere Ohnmacht. Er hatte große Schmerzen, konnte sich weder rühren noch bewegen. Er starb jedoch nicht, denn das Haar war nur zur Hälfte abgerissen. Inzwischen eilte die alte Frau aus dem Hause und gab das Zeichen, auf das hin die bewaffneten zwanzig Männer aus ihrem Versteck herbeieilten. Sie führte die zwanzig Männer in die Kammer, in der die schlafende junge Frau und der ohnmächtige Jäger lagen. Sie fesselten die schlafende Frau und schleppten sie trotz ihres Widerstandes herunter. Die alte Frau ließ das sechsfüßige Pferd der jungen Frau und das Pferd des Jägers aus dem Stall nehmen und zog mit ihren Leuten und mit ihrer Beute heim zu dem Dorfherrn.

Die alte Frau führte dem Dorfherrn ihre Beute vor und sagte: "Hier hast du, wonach du dich so sehntest. Zahle mir nun meinen Lohn. Die schöne Frau und das sechsfüßige Pferd sind zunächst noch etwas wild, das wird sich aber legen, so wie sie sich ein wenig beruhigt haben." Der Dorfherr war sehr glücklich über den Erfolg. Er zahlte der alten Frau ihren Lohn aus. Dann jedoch brachte er die junge Frau in die hinterste Kammer, in der auch das Bild verschlossen war, schloß die Tür hinter der Widerstrebenden ab und stellte die beiden Pferde in seinen Stall.

Nach einiger Zeit sandte er eine Magd mit Essen in die Kammer der gefesselten Frau und einen Burschen mit Futter in den Stall zu den beiden Pferden. Die junge Frau hatte sich in ihrem Zorn sogleich in eine Teriel verwandelt. Als die Magd mit dem Essen in ihre Kammer trat, verschluckte sie das Essen und die Magd gleichzeitig, und als der Bursche mit dem Futter in den Stall zu dem sechsfüßigen Pferde trat, verschluckte das Pferd das Futter mit dem Burschen gleichzeitig. Das erschreckte alle Leute im Dorfe und den Dorfherrn auch. Niemand wußte, was mit der schrecklichen, schönen Frau und dem entsetzlichen sechsfüßigen Pferde zu tun sei.



***
Die erste Frau des Jägers, die Schwester der vierzig Brüder, blickte jeden Morgen nach den drei Blumen, die der Gatte zurückgelassen hatte. Lange Zeit hindurch waren sie frisch und farbig. Eines Tages begannen sie aber zu welken. Die erste Frau des Jägers verwandte nun keinen Blick mehr von den drei Blumen. Sie sah, daß die Blätter der Blüten welk waren, daß sie aber nicht abfielen. Die Schwester



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ging zu der alten Sklavin und sagte: "Bereite mir Essen, ich will eine Wanderung antreten. Mein Mann ist schwach und krank. Er ist aber nicht todeswund, und so will ich zu ihm wandern und ihm beistehen." Die alte Negersklavin bereitete Essen. Die erste Frau rüstete ihr Pferd, legte Männerkleider an und nahm eine Büchse mit Henna (henni, rote Farbe), eine Schere (thimksi[n]) und Kamm (timschat) mit und begab sich auf die Wanderschaft. Die erste Frau wanderte sehr lange und sehr weit. Sie trug stets die drei Blüten bei sich, die der Gatte ihr zurückgelassen hatte. Sie betrachtete sie jeden Morgen und jeden Abend und fand stets, daß die Blätter im Zustande des Verwelkens blieben, ohne daß sie abfielen.

Eines Tages langte die erste Frau beim Gehöft der dritten Frau ihres Gatten an. Sie stieg ab und ging hinauf in die Kammer. Da lag der junge Jäger voller Schmerzen, aber in vollkommener Ohnmacht, unfähig sich zu bewegen oder sich zu regen. Die erste Frau kniete sogleich am Lager ihres Gatten nieder. Sie beschaute ihn sehr genau. Sie betrachtete seinen Kopf und seine Haare. Sie bemerkte, daß ein Haar am Wirbel des Hinterkopfes abgerissen war und nahe dabei lag. Sie betrachtete es genau und erkannte, daß es gewaltsam abgerissen war. Nun nahm sie ihre Schere hervor und schnitt sämtliche andern Haare genau so weit ab, wie jenes abgerissen war. Alsdann nahm sie die Büchse mit der roten Farbe und rieb die Kopfhaare damit ein, goß Öl darüber, und zum Schluß kämmte sie den Kopf lange und sorgfältig.

Die erste Frau richtete sich im Hause ein. Jeden Tag behandelte sie die Kopfhaare ihres Gatten mit Henna, Öl und Kämmen. Sie war dabei so sorgfältig, daß sie auf jedes einzelne Haar achtete, damit keines weniger gefärbt, geölt und gekämmt wurde als das andre. Als sie am sechsten Tage am Morgen den ersten Blick auf die drei halbwelken Blüten warf, erkannte sie, daß sie begannen, sich zu erholen, und als sie zum Lager des kranken Gatten trat, sah sie, daß seine Haare zu wachsen begannen. Da fuhr sie dann mit doppelter Sorgfalt mit dem begonnenen Werke fort.

Die Haare begannen ganz langsam zu wachsen. Die erste Frau flößte ihrem Gatten jeden Tag ein wenig Nahrung ein. Eines Tages erwachte er aus seiner Ohnmacht, er wandte seinen Kopf um. Er erkannte aber nicht, daß es seine erste Frau war, die neben ihm kniete. Die erste Frau kämmte ihn täglich, die Haare wuchsen. Als er wieder eines Morgens erwachte, erkannte er seine erste Frau und sagte:



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"Also du bist gekommen!" Er weinte. Die Haare wuchsen. Der Ja.. ger erholte sich schnell.

Eines Tages sagte der Jäger zu seiner ersten Frau: "Ich glaube, ich bin genesen und stark wie früher." Die erste Frau sagte: "Wie stark warst du früher ?" Er sagte: "Ich konnte acht Doppellasten über den Kopf heben." Die erste Frau trug acht Doppellasten herbei und sagte: "Nun versuche es!" Er hob die acht Doppellasten, konnte sie aber nur bis zur Höhe des Knies bringen. Die erste Frau sagte: "Du bist noch nicht genesen", und sie setzte ihre Pflege fort. — Einige Tage später sagte er: "Ich glaube, ich bin genesen und stark wie früher." Die erste Frau sagte: "Wie stark warst du früher?" Er sagte: "Ich konnte sechzehn Doppellasten über den Kopf heben." Die erste Frau trug sechzehn Doppellasten herbei und sagte: "Nun versuche es!" Er hob die sechzehn Doppellasten, konnte sie aber nur bis zur Höhe der Brust bringen. Die erste Frau sagte: "Du bist noch nicht genesen", und sie setzte ihre Pflege fort. —Einige Tage später sagte er abermals: "Ich glaube, ich bin genesen und stark wie früher." Die erste Frau sagte: "Wie stark warst du früher ?" Er sagte: "Ich konnte vierundzwanzig Doppellasten über den Kopf heben." Die erste Frau trug vierundzwanzig Doppellasten herbei und sagte: "Nun versuche es!" Er hob die vierundzwanzig Doppellasten bis über den Kopf!" Die erste Frau sagte: "Jetzt bist du stark wie früher. Deine Haare sind auch so lang gewachsen, daß sie bis zu den Füßen herunterreichen. Jetzt geh hin und ordne deine Angelegenheiten." Dann ging die erste Frau hinunter, bestieg ihr Pferd und ritt wieder heim.

Der Jäger suchte nun nach seiner Gattin, fand sie aber nirgends in der Gegend. Er suchte die Pferde, fand sie aber nicht im Gehöft, wohl aber sah er, daß die Spur des sechsfüßigen Pferdes weit hinausführte. Darauf legte er das Kleid eines heiligen Wanderers an und ging hinter der Spur des sechsfüßigen Pferdes her. Er hatte eine Trommel genommen und sang dazu. Nachdem er weit gewandert war führte ihn die Spur in das Dorf des Dorfherrn. Er ging auf den Männerversammlungsplatz, setzte sich dahin, schlug die Trommel und sang heilige Lieder.

Als er eine Pause machte, fragten ihn die Männer auf dem Versammlungsplatze: "Was bist du und was ist dein spezieller Beruf.' Der verkleidete Jäger sagte: "Ich bin ein Prophet (= 'suhaba) und kann im besonderen gut kranke Pferde heilen." Die Männer sagten: "Da kannst du hier deine Kunst zeigen." Sie führten ihn zu denn



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Dorfherrn und sagten dem, was der Suhaba für eine spezielle Befähigung habe. Der Dorfherr sagte: "Komm, Suhaba, und sieh ein ganz besonderes Pferd, das sehr krank ist." Er zeigte ihm das sechsbeinige Pferd der dritten Frau des Jägers. Der verkleidete Jäger fragte: "Was fehlt dem Pferde?" Der Dorfherr sagte: "Das Pferd frißt Knaben." Der verkleidete Jäger sagte: "Das ist nicht möglich! Diese Krankheit ist sehr schwer zu heilen." Der Dorfherr sagte: "Sie ist aber zu heilen." Der verkleidete Jäger sagte: "Ja, es ist nicht unmöglich."Der Dorf herr zog plötzlich seinen Säbel und sagte: "Sogleich heilst du mein Pferd, oder ich schlage dir den Kopf ab." Der verkleidete Jäger tat, als ob er über diese Drohung erschrak, trat dann aber zu dem Pferde und flüsterte ihm ins Ohr: "Ich bin es, der Gatte deiner Herrin. Ich werde euch frei machen. Sei zahm!" Hierauf nickte das Pferd mit dem Kopfe und rieb ihn dann an seiner Schulter. Alles erstaunte. Der verkleidete Jäger sagte: "Ihr könnt dem Pferde jetzt ohne Furcht Essen bringen. Es ist geheilt und wird niemand mehr verschlingen." Ein Bursche brachte auf Befehl des Dorfherrn Futter. Das Pferd nahm das Futter und tat dem Burschen nichts. Da waren allen Umstehenden noch viel mehr erstaunt und priesen den Suhaba.

Insgeheim trat aber einer der Leute zu dem Dorfherrn und fragte ihn: "Sollte dieser Bursche nicht auch imstande sein, die Menschen verschlingende, schöne Frau zu heilen, die du in deiner Kammer eingeschlossen hältst?" Der Dorfherr sagte: "Wahrhaftig, du hast recht!" Und er wandte sich wieder zu dem verkleideten Jäger und sagte: "Könntest du vielleicht auch eine Frau heilen, die ähnlich krank ist, nämlich die Gewohnheit hat, mit dem Essen zusammen die Zutragmägde zu verschlingen?" Der verkleidete Jäger sagte: "Es gibt Suhabas, die das recht gut verstehen. Ich habe es mir auch einige Male erklären lassen; aber jeder Suhaba hat seine Besonderheiten, und meine sind die Pferde und nicht die Frauen." Da erhob der Dorfherr seinen Säbel und sagte: "Suhaba, entweder du heilst meine Frau, oder ich schlage dir den Kopf ab."Darauf brachte man den verkleideten Jäger zu der äußersten Kammer, in der die schön€ Frau eingeschlossen war, öffnete ein wenig, stieß ihn hinein und verschloß sie wieder.

Die dritte Frau erkannte ihren Gatten. Sie kam ihm entgegen. Si sagte: "Also bist du doch noch am Leben geblieben und hast der Weg zu mir gefunden. Ich bin hier dein geblieben und habe das erreicht, indem ich mich jedesmal, wenn sich jemand näherte, in eine



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Teriel verwandelte und ihn verschlang. So kam der Dorfherr nicht dazu, mich zu heiraten. Du hast nun selbst erfahren, daß ich recht hatte, indem ich jenes alte Weib zum Fenster hinauswarf." Der Jäger sagte: "Du hattest recht. Nun wollen wir uns aber des Wiederfindens freuen und überlegen, wie wir herauskommen." Die schöne Frau sagte: "Das hat keine Eile. Die Dorfleute schicken mir durch jenen Fensterspalt täglich so viel Essen herein, daß wir uns beide damit sättigen können. Sie haben aber solche Angst vor mir, daß keiner hereinkommen wird, um nach dir zu sehen."

Einen Monat blieb der Jäger ungestört in der Kammer bei seiner Frau. Im Laufe dieses Monats fanden sie das Bild in der Truhe und nahmen es an sich. Die Leute glaubten aber alle, der Suhaba sei von der wilden Frau verschlungen worden. Nach einem Monat öffnete der verkleidete Jäger die Kammer, trat hinaus und schloß sie hinter sich wieder. Alle Leute kamen zusammen und staunten ihn an. Der Dorf herr fragte: "Was hast du den Monat lang in der Kammer gemacht." Der verkleidete Jäger sagte: "Ich habe für die Besserung der unglücklichen Frau gebetet." Der Dorfherr sagte: "Hast du etwas erreicht ?" Der verkleidete Jäger sagte: "Gerade heute ist die Besserung eingetreten, gerade heute hat sie angefangen zu sprechen." Der Dorfherr wurde sehr erregt und fragte: "Was hat sie denn gesprochen?" Der verkleidete Jäger sagte: "Sie hat erst gemeint, du wolltest ihr die Schande antun, sie ohne (das übliche) Fest zu heiraten. Der Gedanke an die Schande hat sie krank gemacht. An sich ist sie jetzt aber zur Ehe mit dir bereit, wenn du ihr das Fest nach der Art ihrer Heimat bereiten willst." Der Dorfherr sagte: "Wie ist das ?" Der verkleidete Jäger sagte: "Bei ihrer Familie ist es Sitte, daß am Festtage die Braut auf ihrem eignen Pferde mit zwanzig Mädchen auf Pferden herumreitet. Sie bittet dich ferner, mich mitreiten zu lassen, damit ich, wenn die Traurigkeit sie wieder überfallen sollte, über ihr beten kann." Der Dorfherr war erfreut über diese Nachricht und bereitete sogleich alles zum Feste vor.

Am andern Tage ritten zwanzig Mädchen im Zuge voraus. Danach folgte die schöne, junge Frau auf ihrem sechsfüßigen Pferde, auf der einen Seite der verkleidete Jäger auf seinem Pferde und auf der andern der Dorfherr. Die junge, schöne Frau war erst still, dann wurde sie fröhlich. Sie sagte zum Dorfherrn: "In meinem Dorfe ist es Sitte, daß die Braut am Festtage mit einem Mann um die Wette reitet. Ich möchte mit dem Suhaba um die Wette reiten." Der verkleidete Jäger sagte: "Ich bin ein Suhaba und kann mich kaum auf



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dem Pferde halten. Wie soll ich gar wettreiten!" Der Dorfherr sagte: "Du versuchst es, oder ich schlage dir den Kopf ab." Der verkleidete Jäger tat, als versuche er und ritt mit der jungen, schönen Frau an. Dann ließ er sich herunterfallen. Die junge, schöne Frau wandte sich Um, lachte und kam zurück. Sie versuchten es noch einmal. Wieder ließ der verkleidete Jäger sich vom Pferde fallen und wieder kam die vorausgeschossene junge Frau zurück. Sie lachte und verlangte, der Suhaba müsse es noch einmal versuchen. Der verkleidete Jäger und Seine Frau ritten an. Diesmal preßte der Jäger die Sporen dem Pferde in die Weichen. Er riß die Gandura des Suhaba vom Leibe, warf sie dem erstaunten Dorfherrn zu und rief: "Den Suhaba behalte hier. Meine Frau nehme ich mit. Nun sieh, wie du sie wieder bekommst."

Während er sich umwandte und dem Dorfherrn etwas zurief, merkte er nicht, daß eine alte Frau des Weges kam. Er ritt sie um. Sein Pferd zertrat ihr mit den Hufen den Kopf. Die junge Frau aber lachte und sagte: "Jetzt hast du die totgeritten, die ich nur zum Fenster hinausgeworfen habe!"

Nachdem der Jäger mit seiner jungen, schönen Frau ein Stück weit geritten war, hielt er das Pferd an und sagte: "Wohin reiten wir?" Seine Frau sagte: "Wir reiten dahin, wo deine erste Frau mit ihren Brüdern und deiner zweiten Frau sind." Der Jäger war einverstanden. Sie ritten lange Zeit dahin. Sie langten an. Die Freude der vierzig Brüder war groß, als sie den Jäger wiedersahen. Sie wurden aber traurig, als der Jäger eines Tages sagte: "Ich bin nun lange herumgezogen. Ich sehne mich danach, meine Mutter und meinen Vater wiederzusehen. Erlaubt mir, daß ich mit eurer Schwester und mit meinen andern Frauen heimkehre." Zögernd stimmten sie zu.

Eines Tages begann der Jäger den Heimritt. Er hatte für reichlichen Vorrat gesorgt und jedes Pferd war gut bepackt. Er ritt voraus. Die drei Frauen ritten hinterher. Sie ritten einen Weg zwischen den Bergen hin und kamen eines Tages an eine Stadt, in der herrschte große Trauer. Vor den Toren der Stadt saß nämlich ein Neger mit Namen Samsam-bel-chamcham, der wollte durchaus Amin der Ortschaft werden. Der Neger hatte zwei riesige Ochsen, von denen immer einer schlief und der andre umherhorchte, so daß man ihm auch im Schlafe nichts anhaben konnte. Er war aber sehr stark und hatte eine riesige Debus, die er von Zeit zu Zeit in die Luft warf, Fiel die Keule danach herab, so schlug sie ein Haus ein. Das machte die Bewohner des Ortes sehr traurig.



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Als der Neger den Jäger vorbeireiten sah, schrie er ihn an und fragte: "Weshalb gehst du auf meinem Weg!" Dabei schüttelte er seine Debus wütend mit beiden Händen. Der Jäger fragte: "In welcher Weise handhabst du deine Keule?" Der Neger sagte: "Sie jst so schwer, daß man dazu zwei Hände braucht." Da nahm sie ihm der Jäger spielend mit zwei Fingern aus der Hand und warf sie ihm lachend vor die Füße. Der Neger war wütend und wollte sich auf den Jäger stürzen. Der packte ihn aber mit der Hand, schwang ihn in der Luft und drückte ihm die Kehle zu. Der Neger erschrak. Der Neger, der noch nie besiegt war, geriet in Verzweiflung. Samsam-bel-chamcham rief: "Dir, dem größten Jäger, will ich bis an meinen Tod als Sklave dienen." Der Jäger ließ ihn los und sagte: "So bewache die Frauen und geh hinter ihnen her." Er ritt durch den Ort. Die Leute des Ortes waren glücklich, als sie hörten, daß der Neger von denn Jäger besiegt war. Sie baten ihn, ihr Oberhaupt zu werden. Der Jäger entgegnete jedoch: "Ich muß zu meiner Mutter und meinem Vater!"

Der Jäger kam heim. Die Mutter des Jägers war gestorben. Der Vater sah den Jäger, er sah seine schönen Frauen. Der Vater des Jägers ergrimmte, daß sein Sohn so unsagbar schöne Frauen hatte. Er beschloß, seinen Sohn töten zu lassen und dessen Frauen an sich zu reißen. Im Orte des Vaters war ein Jude, von dem man wußte, daß er gegen Bezahlung alles tat, was man von ihm verlangte. Der Amin ließ den Juden zu sich kommen und sagte: "Entweder du tötest meinen Sohn und bringst mir als Beweis dafür seine Kleider, dann werde ich dich reich belohnen, oder ich lasse dich töten, denn du hast genug Schlechtes getan."

Der Jude kam zu dem Jäger und sagte: "Ich lade dich ein, mit mir zur Jagd zu kommen. Du nimmst das Getränk mit, ich das Essen. Wo wir hingehen, können aber keine Pferde gehen." Der Jäger war einverstanden. Er rüstete eine große Kürbisfiasche mit Wasser. Der Jude bereitete salzige Speise. Insgeheim nahm er aber noch eine Flasche mit Wasser und ungesalzene Speise zu sich. Als sie ein Stück weit in die Wüste gegangen waren, stach der Jude ein Loch in die Kalabasse des Jägers. Das Wasser lief aus. Als der Jäger hungrig war, gab er ihm von der gesalzenen Speise, aß aber selbst von der ungesalzenen. Der Jäger wollte trinken. Er sah, daß sein Kürbis ausgelaufen war. Der Jude sah es auch. Der Jude schrie: "Sieh, ich habe versprochen, Essen mitzunehmen und tat es." Da sagte der Jäger nichts und ging stumm in die Wüste weiter. Die salzige Speise



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verursachte Schmerzen und Qualen. Der Jude sagte: "Morgen kommen wir an gutes Wasser." Der Jäger schlief nicht, so durstete ihn. Am zweiten Tage aß er nochmals vom Gesalzenen. Am dritten Tage mittags sagte der Jäger zum Juden: "Jude, ich weiß, du hast immer alles, wenn du verdienen kannst. Was willst du für drei Schluck Wasser?" Der Jude sagte: "Für den ersten Schluck will ich dein eines Auge, für den zweiten das andere, für den dritten deine Kleider." Der Jäger war so durstig, daß er zustimmte. Der Jude stach ihm die Augen aus und nahm die Kleider. Er reichte dem Jäger drei Schluck Wasser und eilte nach Hause.

Der Jäger blieb am Fuße eines Baumes blind, nackt und immer noch durstig liegen. Als es Abend war, kam der Adlervater aus dem Osten und setzte sich auf diesen Baum. Es kamen die Söhne des Adlers aus dem Westen und setzten sich auf den Baum. Der alte Adler war ganz nackt vor Alter, und die Jungen deckten ihn sonst mit ihren Flügeln zu. Heute taten es die jungen Adler nicht. Der alte Adler sagte: "Sonst decktet ihr doch eure Flügel über mich. Heute, wo es so kalt ist, tut ihr es nicht. Ich werde vor Frost sterben." Die jungen Adler sagten: "Es gibt keine Treue mehr unter Väter und Söhnen!" Der alte Adler fragte: "Wieso das?" Die jungen Adler sagten: "Sieh, dort unten liegt der starke Jäger. Der eigne Vater hat ihm durch einen Juden die Augen ausstechen und die Kleider rauben lassen, damit er seine Frauen besitzen kann. Nun liegt der Jäger und verdurstet." Der alte Adler sagte: "Das ist sehr schlimm. Aber der Jäger braucht sich nur aufzurichten, von den Blättern des Baumes zu pflücken und sie zu kauen, so wird sein Durst vergehen. Er braucht die gekauten Blätter nur zu bespeien und auf die Augen zu legen, so wird er wieder sehen." Der Jäger hörte dies. Er richtete sich auf. Er ergriff einige der Baumblätter und kaute sie; da verging sein Durst. Er nahm einige der gekauten Blätter, spie darauf und legte sie auf die Augen; da konnte er wieder sehen. Der Jäger dankte dem Adler und ging. Die jungen Adler aber deckten den Vater zu.

Der Jäger kam völlig entblößt im Heimatdorfe an. Er versteckte sich in den Büschen des Brunnens. Es kam eine alte Frau. Der Jäger trat aus dem Busch heraus: "Ein völlig Entblößter bittet dich darum, ihm ein Stück Kleid zu leihen, damit er in den Heimatsort gehen kann." Die Alte sagte: "Es gibt kein Guttun mehr! Da haben wir einen Amin im Dorfe, der hat seinen eignen Sohn durch einen Juden totschlagen lassen, damit er ihm hernach seine Frauen wegnehme.



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Der Jäger hat aber einen Neger hinterlassen, der wacht über die Sicherheit der Frauen. Er sitzt am Gehöftseingang und schlägt jeden tot, der hinein will. Der Amin sandte schon ganze Mahallas (Kriegshaufen) gegen den Neger. Aber der schlägt alles. Dabei verliert der Ort in dem ungerechten Kampfe seine besten Männer. Der Amin zwingt alle gegen den Neger zu kämpfen. Gestern hat der Neger so meinen ältesten Sohn getötet, heute meinen zweiten und morgen soll ich meinen dritten senden. Und da soll man noch seine Kleider aus Guttat an fremde Leute verschenken ?"

Der Jäger sagte: "Frau, leiht mir heute eine Gandura und gebt mir daheim den Anzug eines Eurer Söhne, so will ich morgen an Stelle Eures dritten Sohnes in den Kampf gegen den Neger ziehen." Die Frau sagte: "Schwöre, daß du morgen für meinen Sohn eintrittst." Der Jäger schwor. Die Frau gab ihm ein Kleid.

Am andern Morgen näherten sich die Leute des Amin wieder dein Gehöft des Jägers, um gegen den Neger zu kämpfen. Die dritte Frau des Jägers stand am Hause hinter dem Neger. Mit einem Male erbebte der Neger. Die dritte Frau sagte: "Zitterst du? Fürchtest du dich heute, so will ich für dich kämpfen." Der Neger sagte: "Ich fürchte mich nicht, ich wittere nur meinen Herrn, deinen Gatten. Er muß verkleidet unter den Leuten des Amin sein." Die dritte Frau sagte: "Das ist schnell aufgeklärt. Nimm diese Orange. Wirf sie in die Reihen der Leute dort. Fängt sie einer, der sie ißt, so ist mein Gatte, dein Herr, nicht darunter, fängt sie einer, der sie erst zur Nase führt und dann in die Tasche steckt, so ist er es." Der Neger warf die Orange. Ein Mann griff aus dem Haufen hoch in die Luft, fing sie, roch daran und schob sie in die Tasche. Die dritte Frau eilte in das Haus und rief voll Freude den andern zu: "Mein Gatte lebt. Unser Gatte kehrt zurück." Die erste Frau sagte: "Ich weiß es."

Der Neger sagte zu einem Sklaven: "Fülle mir schnell einen Sack mit Ochsenblut und drücke ihn mir unter den linken Arm." Der Sklave tat es. Der Haufe des Amin kam heran. Allen voran sprang ein großer Mann. Der große Mann sprang vor den anderen her. Er langte als erster bei dem Neger an und schrie laut: "Wollen wir für den Amin oder für seinen Sohn fechten?" Der Neger sagte leise: "Stich du mir mit dem Säbel unter den linken Arm. Ich habe da einen Blutsack. So kannst du mich besiegen, Herr!" Der fremde Mann stach den Neger unter den Arm. Der gefüllte Blutsack entleerte sich. Blutüberströmt stürzte der Neger zu Boden. Alle Leute schrien: "Der fremde Mann hat den Neger besiegt." Die Leute wollten sich vordrängen.



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Der fremde Mann erhob aber den Arm und sagte: "Ich bin der Sieger. Niemand kommt zu mir als der Amin."

Der Amin trat heran und sagte: "Was willst du? Wer bist du?" Der fremde Mann schob die Verkleidung des Gesichtes beiseite. Der Amin blickte ihn an. Er verhüllte selbst seinen Kopf und starb.


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