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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


49. Der verstorbene Sohn (Auszug)

Ein Mann heiratet. Seine Frau schenkt ihm einen Sohn. Die Frau stirbt. Der Witwer ist nun mit dem kleinen Jungen allein. Der Mann will wieder heiraten. In jedem Hause nun, in dem er um eine Tochter zur Ehe vorspricht, fragt man ihn: "Hast du ein Kind?' Er muß dies bejahen. Darauf schlägt ihm dann jeder Vater seine Tochter aus. Der Witwer kann also wegen des Kindes seiner ersten Frau nicht heiraten. Der gute Witwer wird dadurch ganz niedergeschlagen.

Eines Tages beschließt er: "Ich will lügen und sagen, ich hätte kein Kind!" Er geht nun zu einem andern Familienvater und sagt: "Gib mir deine Tochter zur Frau." Der Vater sagt: "Hast du auch kein Kind?" Der Witwer sagt: "Nein, ich habe kein Kind." Der Vater der Tochter sagt: "Gut, so gebe ich dir meine Tochter zur Frau." Es wird also ein großes Fest veranstaltet. Der Witwer heiratet und nimmt dann seine junge Frau mit nach Hause. Der Witwer hat bei der Einführung der jungen Frau zunächst seinen Sohn versteckt.

Eines Tages, bald nach der Ehe, ist der junge Ehemann aber einmal abwesend; da sieht die junge Frau den Sohn. Sie fragt sogleich: "Wem gehört das Kind ?" Die Leute sagen: "Es ist das Kind deines Mannes und seiner ersten Frau, die gestorben ist." Die junge Frau



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beginnt zu weinen. Als der junge Ehemann nach Hause kommt, findet er seine Frau weinend vor. Er fragt: "Was hast du?" Die junge Frau sagt: "Du hast meinen Eltern gesagt, du hättest kein Kind. Und nun hast du hier den Knaben. Du hast gelogen." Die Frau weint ununterbrochen. Der Mann sagt: "Was soll ich machen ?" Die junge Frau sagt: "Du mußt das Kind töten." Der Mann will erst nicht. Endlich geht er doch darauf ein und sagt zu. Der Mann will sein eigenes Kind töten. Der Knabe aber läuft weg.

Der Knabe kommt zu einem guten Manne (amrar-vetz oder -betz); der nimmt ihn auf und unterrichtet ihn ein Jahr lang. Der Vater ist nun aber wütend, daß sein Sohn ihm entronnen ist. Die junge Frau unterhält seinen Zorn. Er sucht und sucht nach seinem Sohn und findet endlich heraus, daß er bei dem guten Manne Unterschlupf gefunden hat. Der Vater kommt zu ihm und sagt: "Dies ist mein Sohn; ich habe ihn erzeugt und ernährt und will ihn weiter ernähren. Gib mir mein Kind heraus." Der gute Mann sagt: "Du hast deinem Sohn Essen gegeben. Du wolltest ihn aber dann töten. Ich schwöre dir, daß ich deinen Sohn schützen will." Gleichzeitig gibt der gute Mann dem Burschen einen Wink (ein Zeichen geben heißt chemith), daß er fliehen soll. Der Junge flieht also.

Der fliehende Bursche kommt nun zu einem Fischer, der jeden Tag so viel Fische fängt, daß er dafür zwei Kupferstücke einlösen und damit sich und seine Frau ernähren kann. Der Bursche folgt dem Fischer zum Fischfang, arbeitet für ihn und erangelt eines Tages ein Kästchen. In dem Kästchen findet er beim Öffnen ein wunderschönes Mädchen, die Tochter des Agelith der Ledjenun (oder Aldjenun). Sie hat an ihrem Finger einen Ring, den braucht man nur herumzudrehen, und gleich geht jeder Wunsch in Erfüllung. Das Mädchen wird die Frau des Burschen, und der wird nun, da sie alles erreichen können, was sie wollen, steinreich.

Der Vater des Burschen hört von dem ungeheuren Glück seines Sohnes. Er kommt und wohnt bei dem Fischer und seinem Sohn und nimmt so teil an dessen Wohlhabenheit. Eines Tages will der Bursche eine längere Reise antreten und läßt seine junge Frau unter dem Schutze seines Vaters und des Fischers zurück. Kaum ist er aber fort, so kommt der Agelith der Aldjenun (agelith-ledjenun) und kauft dem Vater und dem Fischer seine Tochter ab.

Der Bursche kommt heim und findet seine junge Frau nicht mehr vor. Er ruft: "Wo ist meine Frau?" Der Vater sagt: "Deine Frau ist zu ihrem Vater zurückgegangen; der hat sie gerufen." Der



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Bursche ist tieftraurig. Er sagt zu seinem Vater: "Ich werde fortgehen, um meine Frau zu suchen. Du und der Fischer, ihr mögt meinen Reichtum als euer Eigentum behalten."Dann bricht der Bursche auf, seine Frau zu suchen.

Der Bursche reist nun als Kuchenverkäufer weit fort. Er kommt auch in das Land und an den Ort des Agelith der Aldjenun. Der Agelith der Aldjenun hat sieben Töchter, darunter die junge Frau des Burschen. Die sieben Töchter kaufen alle Tage Kuchen bei dem Burschen; auch seine junge Frau. Da bäckt er eines Tages seinen Ring in einen Kuchen und spielt ihn beim Kaufe seiner jungen Frau in die Hände. Die junge Frau findet den Ring. Sie kehrt zurück und sagt zu dem kuchenbackenden Burschen: "Du bist mein Mann. Was machen wir nun?" Der Bursche sagt: "Ich bin hierhergekommen. Mach du nun einen Plan, wie wir wieder von hier fort und in mein Land kommen." Die junge Frau sagt: "Es gibt keinen andern Weg; du mußt zu meinem Vater gehen und ihm freimütig (chubäla) sagen: ,Ich will deine Tochter heiraten!'." Der Bursche ist einverstanden.

Der Bursche kommt zum Agelith der Aldjenu und fordert dessen Tochter zur Frau. Der Agelith sagt: "Ich habe einen Gegner mit viel Kriegsvolk. Wenn du den vernichtest, so gebe ich dir meine Tochter zur Frau." Die Tochter des Agelith gibt dem Burschen (ihrem Manne) nun eine besondere Flöte (thäguats) mit auf den Weg, und der Bursche zieht aus zum Kampfe.

Der Bursche vernichtet im Kampfe fast die ganze Bevölkerung (imthdar) des Feindes und kommt kämpfend bis an die Burg des feindlichen Agelith. Dessen bildschöne Tochter sieht eines Tages zum Fenster herab auf den kämpfenden Burschen, bewundert ihn, ist aber so beunruhigt über das Schicksal ihrer Familie, daß sie sagt: "Das ist ein schrecklicher Krieger. Man muß ihn vernichten. Im Kampfe ist es nicht möglich. Es geht nur mit Frauenlist." Sie ruft ihre sechs Schwestern herbei. Die sieben Schwestern ziehen zur Burg hinaus. Sie machen eine berückende Musik (l'chäsa). Die schöne Schwester tanzt.

Der kämpfende Bursche sieht das Bild des schönen Tanzes. Er hört die berauschende Musik. Er hält inne mit Kämpfen. Er gibt sich ganz dem Sehen und Hören hin. Zuletzt wird er von der Musik so betört, daß er auch zu tanzen beginnt. Er tanzt, bis er halb bewußtlos in einen Brunnen fällt. Im Brunnen liegt er eine Zeitlang.

Wie der Bursche wieder zu sich kommt, findet er bei einem zufälligen



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Griff in seine Tasche die Flöte, die ihm seine junge Frau mitgegeben hat. Er zieht sie heraus und beginnt zu blasen. Die Töne der Flöte haben eine schwer betörende Wirkung. Die Tochter des Agelith, die vorher schon Bewunderung für den kämpfenden Burschen hatte, ihn aber vernichten wollte, weil sie ihre Familie retten wollte, hört diese Flötentöne. Sofort verfällt sie in eine brennende Liebe für den Burschen, kommt herbei und fragt den Burschen: "Wie kann ich dich wieder retten?" Der Bursche sagt: "Laßt nur mein Pferd frei, das ihr in eure Burg gebracht habt." Das schöne Agelithtöchterlein kehrt heim, bindet das eingefangene Pferd frei und dieses rennt, sowie es die Flötentöne hört, zu dem Brunnen, in dem sein Herr, der Bursche, gefallen ist.

Das Pferd beginnt am Brunnen zu weinen. Das Pferd weint so, daß das Wasser im Brunnen steigt. Das Tränenwasser des Pferdes trägt den Burschen aus dem Brunnen heraus. Der Bursche nimmt das schöne Agelithtöchterlein auf sein Pferd und reitet mit ihm zu dem Lande des Vaters seiner ersten Frau, nimmt diese dort auch noch mit herauf und kehrt mit seinen beiden jungen Frauen heim.


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