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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

UBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 2

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VOM WASSERVOGEL UND DER SCHILDKRÖTE

Man erzählt, o König, daß einst ein Vogel hoch gen Himmel flog und sich dann auf einem Felsen mitten im Wasser niederließ; das war aber ein fließendes Gewässer. Und wie er dort so saß, erblickte er den Leichnam eines Menschen, den die Strömung dahin trieb und auf jenen Felsen warf; der war angeschwollen und aufgetrieben. Nun lief der Vogel an die Leiche



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heran, betrachtete sie genauer und sah, daß es ein menschlicher Leichnam war, an dem sich Spuren von Schwerthieben und Lanzenstichen befanden. Da sprach der Wasservogel bei sich selber: ,Ich glaube, dieser Erschlagene war ein Missetäter; da hat sich wohl eine Schar von Leuten gegen um zusammengetan und ihn getötet, sodaß sie nun vor ihm und seiner Schlechtigkeit Ruhe haben.' Verwundert und staunend blieb er dort. Aber da flogen plötzlich Geier und Adler rings von allen Seiten auf jene Leiche zu. Als der Wasservogel das sah, erschrak er heftig und sagte sich: ,An dieser Stätte kann ich nicht länger bleiben.' Dann flog er davon, um sich eine Stätte zu suchen, an der er bleiben wollte, bis die Leiche aufgefressen wäre und die Raubvögel sie verlassen hätten. Und so flog er weiter, bis er einen Fluß fand, in dessen Mitte ein Baum wuchs. Auf dem ließ er sich nieder, tief bekümmert und betrübt, daß er seine Heimat verlassen hatte, under sprach zu sich selber: ,Die Trauer verfolgt mich doch immer! Da saß ich nun so ruhig, als ich jene Leiche sah, und freute mich schon so sehr darüber, weil ich mir sagte, das wäre Nahrung, die Gott mir gesandt hätte; aber nun ward meine Freude zu Leid, und zu Kummer und Gram meine Fröhlichkeit. Denn die Raubvögel haben mir die Nahrung genommen und weggefressen und mir so meine Beute fortgeschnappt. Wie darf ich nun noch hoffen, daß ich in dieser Welt vor Trübsal sicher sein werde und mich auf sie verlassen kanne Es heißt ja im Sprichwort: Die Welt ist die Stätte dessen, der keine Stätte besitzt, und nur der läßt sich von ihr betören, der keinen Verstand besitzt. Ja, der vertraut ihr sein Hab und Gut, seine Kinder, sein Volk und seinen Stamm an. Wer von ihr betört ist, der verläßt sich immerdar auf sie und lebt in seinem Wahre auf der Erde dahin, bis er unter ihr liegt, und bis die den Staub auf ihn streuen, die ihm unter den



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Menschen die liebsten und nächsten waren. Aber dem echten Manne steht nichts besser an als auszuharren in den Sorgen und Trübsalen der Welt. So habe ich denn auch meine Stätte und mein Heimatland verlassen, wiewohl es mir schwer fiel, von meinen Brüdern zu scheiden und Freunde und Gefährten zu meiden.'

Während er in seine Gedanken vertieft war, da kam ein Schildkrötenmännchen im Wasser herangeschwommen, nahte sich dem Wasservogel, begrüßte ihn und sprach: ,Mein Herr, was ist's, das dich in die Verbannung getrieben und weit von deiner Stätte fortgeführt hat?' Jener gab zur Antwort: ,Die Feinde haben sich dort niedergelassen; und der Weise kann die Nähe seines Feindes nicht ertragen. Wie trefflich lautet doch das Dichterwort:

Kehrt der Bedrücker ein in eines Volkes Land.
So bleibet den Bewohnern nichts als fortzuziehn!'

Da sprach die Schildkröte: ,Wenn es so ist, wie du sagst, und die Lage sich so verhält, wie du sie schilderst, so will ich immerdar bei dir bleiben und mich nicht mehr von dir trennen. auf daß ich dir deine Wünsche erfülle und mich deinem Dienste widme. Denn es heißt, daß niemand sich verlassener fühlt als der Fremdling, der von seinem Volke und seiner Heimat getrennt ist; und ferner heißt es, daß der Trennung von den Guten kein einziges anderes Unglück gleich zu achten ist. Aber der beste Trost für den Verständigen ist in der Fremde die Geselligkeit und bei Unglück und Kummer die Beharrlichkeit. Und so hoffe ich denn, daß du es mir danken wirst, wenn ich dir Gesellschaft leiste; denn ich will dir ein Diener und Helfer sein.' Als der Wasservogel die Worte der Schildkröte vernommen hatte, sprach er zu ihr: ,Fürwahr, du hast recht mit deinen Worten! Denn, bei meinem Leben, ich leide immer Schmerz



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und Kummer, seit ich meiner Stätte fern bin, seit ich von meinen Brüdern geschieden und meine Freunde gemieden. In der Trennung liegt auch eine Lehre für die, so sich lenken lassen, und sie gibt denen zudenken, so Gedanken erfassen. Und wenn der echte Mann keinen Freund findet, der ihn tröstet, so bleibt das Glück ihm fern in alle Ewigkeit, und er ist auf immer dem Unglück geweiht. Ja, der Verständige sucht nur beidem treuen Gefährten Trost gegen die Sorgen in allen Lebenslagen, und er wappnet sich mit Geduld und Ausdauer; denn das sind zwei hochgepriesene Eigenschaften, sie schützen gegen das Unglück und die Wechselfälle der Zeit, und in allen Dingen vertreiben sie Angst und Leid.' ,Leid sei dir fern!' erwiderte die Schildkröte, ,denn es macht dir dein Leben zur Qual, und es raubt dir die Mannhaftigkeit.' So sprachen sie noch immer weiter miteinander, bis schließlich der Wasservogel zur Schildkröte sprach: ,Ich werde doch immer in Furcht leben vor den Wechselfällen der Zeit und vor des Schicksals Unbeständigkeit!' Wie die Schildkröte diese Worte des Wasservogels hörte, kroch sie an ihn heran, küßte ihn auf die Stirn und sprach zu ihm: ,Immerdar war das Volk der Vögel durch dich gesegnet und ließ sich durch deinen Rat zum Guten belehren; wie könntest du dich da mit Gram und Kummer beschwerend' So fuhr sie fort das Herz des Wasservogels zu beruhigen, bis er seinen Frieden wiedergefunden hatte.

Darauf flog der Wasservogel wieder zu der Stätte, an der die Leiche angetrieben war; und als er dort ankam, sah er nichts mehr von den Raubvögeln, und von jenem Leichnam entdeckte er nur noch die Knochen. Da kehrte er zurück und berichtete der Schildkröte, daß die Feinde seine Wohnstätte verlassen hätten; und er fügte hinzu: ,Wisse, ich möchte doch zu meiner alten Wohnstätte zurückkehren. um die Gesellschaft



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meiner Freunde nicht mehr zu entbehren. Fürwahr, der Verständige erträgt es nicht, seiner Heimat fern zu sein.' Nun begaben sich die beiden an jenen Ort; und ihnen widerfuhr nichts von dem, was sie befürchtet hatten. Da sprach der Wasservogel die Verse:

Wie manches Unglück gibt es, gegen das dem Manne
Die Kraft versagt, und wo bei Gott die Hilfe steht!
Schwer war's -, wie seine Maschen sich immer enger schlossen,
Kam Rettung. Ach, ich glaubte, die Rettung sei zu spät!

Darauf lebten die beiden zusammen auf jener Insel. Doch während der Wasservogel in Freuden und in Sicherheit lebte, sandte plötzlich das Geschick einen hungrigen Falken gegen ihn. Der schlug ihm seine Krallen in den Leib und tötete ihn. Und so hatte ihm auch die Vorsicht nicht mehr genützt, als seine Zeit erfüllet war. Der Grund aber, weshalb er getötet wurde, war der, daß er es versäumte, Gott zu preisen. Es heißt, daß sein Lobpreis also lautet: ,Preis sei unserem Herrn, dieweil er bestimmt und lenkt! Preis sei unserem Herrn, dieweil er Reichtum und Armut schenkt!' Dies ist es. was mit dem Wasservogel und den Raubvögeln geschah. « * * *

Da sprach der König: »O Schehrezâd, du hast mir durch deine Erzählung noch mehr Ermahnungen und Lehren zuteil werden lassen. Weißt du auch etwas von den Geschichten über die Tiere des Feldes? «»Jawohl!«erwiderte sie, und sie begann


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