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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


47. Die Stiefmutter

In alter Zeit war ein Mann einmal mit zwei Frauen verheiratet. Die beiden Frauen wurden am gleichen Tage Mütter und gebaren eine jede einen Knaben. Beide Knaben waren an Gestalt und Farbe sich so ähnlich, daß sie nicht voneinander zu unterscheiden waren. Eines Tages starb der Vater der beiden Knaben, und dessen eine Frau folgte ihm bald darauf, so daß nur noch die Mutter des einen Knaben am Leben blieb, die nun beide Knaben aufzog.

Die beiden Knaben wuchsen zu großen starken Burschen heran, die alle Tage ihre Pferde bestiegen und fort zur Jagd ritten. Sie waren einander so ähnlich, daß niemand sie voneinander unterscheiden konnte. Nicht einmal die Mutter konnte den eigenen Sohn von dem andern unterscheiden. Sie wußte nicht, welcher ihr Sohn war. Sie sagten beide zu ihr Mutter und wußten keinen Unterschied. Die Frau war hierüber aber sehr unglücklich. Sie wollte durchaus wissen, welcher ihr Sohn sei. Sie fragte die Leute: "Könnt ihr mir nicht sagen, welcher mein eigener Sohn ist?" Die Leute sagten: "Wie sollen wir dies erkennen, da du es nicht einmal weißt? Und weshalb willst du es wissen, da du sie und sie dich in gleicher Weise lieben ?" Die Frau wollte es aber durchaus wissen, und sie ging, als einmal beide Söhne auf der Jagd waren, zu einem Amrar asemeni und sagte: "Kannst du mir nicht sagen, welcher von diesen beiden mein eigener Sohn ist? Sieh, ich habe zwei Söhne. Der eine ist mein eigener Sohn, der andere ist der einer Frau, die mein Mann nach mir geheiratet hat. Sie haben den gleichen Vater und sind an Gestalt und Farbe einander



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so gleich, daß ich nicht weiß, welches mein Sohn und welches der Sohn der zweiten Frau meines Mannes ist. Kannst du mir nun nicht raten, wie ich meinen eigenen Sohn erkennen kann?"

Der Amrar asemeni sagte: "Ich rate dir, laß es mit den Söhnen bewenden, wie es derzeit ist. Wenn ihr euch alle gleich liebt, kann es nichts schaden, und du kannst glücklich sein, Mutter von zwei gleichen Söhnen zu sein." Die Mutter sagte: "Ich möchte es aber gern wissen, welcher mein Sohn ist." Der Amrar asemeni sagte: "Ich rate dir nochmals: laß das! Du wirst das Glück, das ihr gemeinsam genießt, stören!" Die Mutter sagte: "Ich bitte dich, sage mir, Amrar asemeni, wie ich meinen eigenen Sohn von dem der zweiten Frau meines Mannes unterscheiden kann."

Amrar asemeni sagte: "Wenn es denn sein muß, verfahre folgendermaßen. Ehe deine Söhne heute abend von der Jagd heimkommen, färbe deine Hand frisch mit Henna. Wenn deine Söhne angeritten kommen, tritt wie gewöhnlich vor die Tür, um ihre Pferde zu halten. Wenn sie absteigen, falle plötzlich hin, als habe ein Pferd dich getreten und verletzt. Derjenige der beiden Söhne, der dann herzuspringen und dich auffangen wird, ist dein eigener Sohn. Drücke ihm, während er dich aufhebt, die Hand mit dem Henna auf den Rücken seines Burnus. So hast du ihn gezeichnet. Der andere, der inzwischen mit größerer Ruhe die Pferde besänftigt, ist der Sohn der zweiten Frau deines Mannes." Die Mutter bedankte sich und ging.

Als es Abend war, bestrich sich die Mutter die Hände frisch mit Henna. Die beiden Söhne kamen auf ihren Pferden von der Jagd zurück. Die Mutter trat aus der Tür. Als die Söhne angekommen waren, ergriff sie die Pferde bei den Zügeln, und als beide abstiegen, stieß die Mutter einen Schrei aus und fiel hin. Der richtige Sohn der Mutter sprang, ohne sich weiter um die Pferde zu kümmern, auf die Mutter zu, richtete sie auf und sagte: "Haben die Pferde dich getreten, meine Mutter? Bist du verletzt, meine Mutter? Was fehlt dir, meine Mutter?" Die Mutter drückte ihre Hand mit Henna auf den Rücken des Burnus ihres Sohnes und sagte: "Es ist nichts. Ich weiß nicht, was mir war." Der andere Sohn führte inzwischen die Pferde beiseite, kam dann auch und sagte: "Geht es dir besser, meine Mutter?" Die Mutter sagte: "Es ist wieder ganz gut."

Die Mutter wollte nun ihrem Sohn noch ein andres Erkennungszeichen geben. Sie schenkte ihm einen Ohrring (thagethumth Plur. tigetusmin, die Kabylenmänner tragen nur einen Ohrring und zwar im rechten Ohrläppchen). Ihr Sohn sagte aber: "Ich bin gewohnt,



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nichts zu tragen, was nicht auch mein Bruder trägt. Laß das, meine Mutter." So blieb der Mutter zunächst denn kein anderes Erkennungszeichen, als der Flecken von Henna, den sie ihrem Sohne auf die Rückenseite des Burnus aufgedrückt hatte.

Sie bereitete aber nun in Zukunft zweierlei Kuchenart als Tagesnahrung für ihre Söhne. Sie buk täglich einen Kuchen aus Weizenmehl mit viel Butter, den gab sie ihrem Sohne mit auf die Jagd. Und dann buk sie noch einen Kuchen von Gerstenstroh und ohne Butter, den gab sie dem Sohne der zweiten Frau ihres Mannes mit auf die Jagd. Die Folge hiervon war, daß ihr eigener Sohn alle Tage stärker und gesünder wurde, der Sohn der zweiten Frau ihres Mannes aber wurde alle Tage schwächer und magerer.

Eines Tages waren die beiden Brüder wieder einmal auf der Jagd. Sie kamen an eine Quelle. Der rechte Sohn sagte: "Wir wollen nachher hier essen. Laß uns jeder sein Brot auf einer Seite in das Wasser legen. Es wird, bis wir zurückkommen, aufgeweicht sein." Jeder der beiden Brüder legte an einer Seite das Brot in die Quelle, dann ritten sie noch einmal zu einem Jagdzuge aus. Danach aber kehrten die beiden Brüder zu der Quelle zurück.

Beide Brüder sahen nach ihrem Brot in der Quelle. Das Brot des rechten Sohnes, das mit Butter und Weizenmehl gebacken war, war untergegangen und gequollen. Das Brot des Sohnes der zweiten Frau, das aus Gerstenstroh und ohne Butter gebacken war, schwamm aber dürr, wie vorher, auf dem Wasser umher. Der rechte Sohn der Mutter sah es. Er betrachtete das schwimmende Brot seines Bruders. Er nahm es aus dem Wasser und sagte: "Mein Bruder, dein Brot besteht aus dürrem Gerstenstroh! Jetzt weiß ich, warum du an Gesundheit und Kraft abnimmst und mager wirst." Der Bursche sagte: "Du hast es gesehen. Du bist der rechte Sohn deiner Mutter. Du hast gutes Brot daheim und lebst auf dem Boden eines liebenden Herzens, sowie dein Brot in der Quelle untersinkt. Mein Strohbrot schwimmt dagegen auf dem Wasser, weil ich deiner Mutter gleichgültig bin. Wenn ich länger bleibe, werde ich sterben. Ich will deshalb lieber in ein anderes Land ziehen."

Der rechte Sohn der Mutter sagte: "Ich sehe, daß du recht hast. Ich sehe, was dir geschieht. Ich will mit dir ziehen." Der rechte Sohn der Mutter weinte. Der Bruder antwortete: "Nein, du kannst nicht mit mir ziehen. Du mußt bei deiner Mutter bleiben. Laß mich allein gehen." Der rechte Sohn der Mutter sagte: "Geh nicht allein, nimm mich mit dir." Der Bruder weinte auch.



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Der Bruder sagte: "Deine Mutter lebt, meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Du bleibst bei deiner Mutter; ich werde jetzt von dannen reiten. Sieh aber hier auf diesen wilden Olivenbaum (thaschthad; der echte Olivenbaum heißt thethmurth). Solange seine Blätter grün sind, wird es mir gut gehen. Wenn seine Blätter aber zu dörren anfangen, geht es mir schlecht." Der Sohn der zweiten Frau bestieg sein Pferd. Er nahm von seinem Bruder Abschied. Er ritt mit seinen vier Hunden in den Wald.

Der rechte Sohn der Mutter ritt mit seinen Hunden nach Hause. Seine Mutter kam ihm entgegen. Seine Mutter fragte ihn: "Wo hast du deinen Bruder?" Der Sohn sagte: "Hatte ich denn einen Bruder?" Die Mutter sagte: "Gewiß hattest du einen Bruder. Er hatte eine andere Mutter, ihr hattet aber den gleichen Vater." Der Sohn sagte: "Wenn wir gleiche Brüder gewesen wären, hätte mein Brot nicht aus Weizenmehl und Butter und das meines Bruders nicht aus Stroh bestanden." Der rechte Sohn wandte sich von der Mutter ab.

Der Bruder ritt ein Jahr lang durch den Wald. Er kämpfte mit wilden Tieren. Er erlegte Wild. Das Fleisch des Wildes, Kräuter und Wurzeln waren seine einzige Nahrung. Seine einzige Freude waren seine Jagdhunde und sein Pferd. Er ritt, ohne einen Menschen je zu sehen und zu sprechen ein Jahr lang mit seinen Hunden durch den Wald.

Eines Tages kam der Jäger aber an das Ende des Waldes. Er sah einen großen Ort vor sich liegen. Der Ort hatte vordem viele Menschen geborgen. Jetzt war der Ort aber leer und verlassen. Es lebte da nämlich eine mächtige Kamelstute. Die hatte in ihrem Kopf Würmer. Und wenn die Würmer sie plagten, wälzte sie sich erst am Boden, dann rannte sie umher und vernichtete alle Menschen, die ihr in den Weg kamen. So hatte sie alle Menschen getötet, die im Orte waren. Nur die junge Tochter des Agelith lebte noch. Sie hatte sich auf den Tarorfiz gerettet.

Der Jäger kam in die Stadt. Er klopfte an ein Haus. Niemand antwortete. Er ging durch die Straßen. Er sah keinen Menschen. Er kam an das Haus des Agelith. Er sah die Tochter des Agelith im Fenster des Tarorfiz. Er sah, daß sie schön war wie die Sonne, und daß ihr Antlitz vor Schönheit leuchtete. Das Mädchen erschrak, als es den Jäger auf seinem Pferde mit seinen vier Hunden daherkommen sah. Das Mädchen rief: "Du Armer! Schnell rette dich! Die wilde Kamelstute wälzt sich jetzt noch, von Schmerz geplagt, auf der Erde. Gleich aber wird sie durch die Straßen rasen und dich, dein Pferd und deine



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Hunde vernichten." Der Jäger sagte: "Es wird also darauf ankomrnen, daß ich mit ihr kämpfe!" Das Mädchen weinte und sagte: "Ich beschwöre dich, wage es nicht. Kein Mensch und kein Tier kann der rasenden Kamelstute widerstehen. Ich will aber aus meinem Haar schnell einen Strick flechten. An dem Strick will ich dann erst dein Pferd heraufziehen. Ich lasse das Haar wieder herunter. Du bindest an jeder Seite zwei Hunde daran. Ich ziehe die Hunde hoch. Ich lasse das Haar wieder herunter. Du kletterst selbst am Haar wieder herauf." Der Jäger war einverstanden.

Die Tochter des Agelith löste ihr Haar. Sie flocht einen langen Strick aus dem Haar. Sie ließ ihren Haarstrick zum Fenster des Tarorfiz herabfallen. Das Haar des Mädchens reichte bis auf die Erde. Der Jäger band erst sein Pferd daran. Das Mädchen zog es herauf. Der Jäger band dann die Hunde, auf jeder Seite zwei, daran. Das Mädchen zog die Hunde herauf. Dann kletterte der Jäger selbst hinauf.

Die Tochter des Agelith und der Jäger sahen einander an. Sie sahen, daß keines von beiden je einen schöneren Menschen gesehen hatte. Sie lachten beide. Sie aßen zusammen. Sie scherzten zusammen. Sie Waren so glücklich, daß sie weinten. Sie lachten und weinten sieben Tage lang.

Am achten Tage sagte der Jäger: "Ich werde dich heiraten. Wir wollen diesen Ort wieder aufrichten, und ich will die Kamelstute töten. Sage mir die Gewohnheiten der Kamelstute." Das Mädchen sagte: "Wenn die Kamelstute sich am Abend gewälzt hat und gequält von den Würmern in seiner Nase umhergerast ist, schläft sie und geht am Morgen mit großem Durst zur Quelle. Dort säuft sie hastig. Die Würmer treten aus ihrer Nase und trinken. Dann ist sie ruhig. Hernach wälzt sie sich wieder und rast durch den Ort." Der Jäger sagte: "Zeige mir, in welcher Gegend die Quelle liegt." Das Mädchen zeigte dem Jäger die Quelle.

Am andern Morgen ging der Jäger ganz früh zu der Quelle und versteckte sich an ihrem Rande. Nach einiger Zeit kam die Kamelstute brüllend angelaufen. Sie rannte auf die Quelle zu und steckte die Schnauze hinein. Der Jäger aber schlug mit der Hand das Wasser, so daß es Wellen schlug und zur Seite wich. Die Würmer kamen, von durstiger Gier getrieben, aus der Nase der Kamelstute heraus, tranken und krochen wieder zurück. Der Jäger sah, daß die Würmer wieder zurückkrochen. Als die Kamelstute wieder den Kopf beugte und saufen wollte, schlug er wieder das Wasser, daß es Wellen schlug



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und zur Seite wich. Die Würmer kamen wieder heraus. Der Jäger ergriff diesmal die Würmer und tötete sie: so konnten sie nicht wieder in die Nase des Kamels zurückkommen. Auf diese Weise tötete er alle Würmer, die in der Nase der Kamelstute waren. Die Kamelstute war nun ganz ruhig. Der Jäger kam heran und streckte ihr die Hand hin. Die Kamelstute leckte seine Hand. Der Jäger streckte ihr den Arm hin. Die Kamelstute leckte ihm den Arm bis zur Schulter hinauf. Die Kamelstute leckte ihm den Kopf. Die Kamelstute trat an ihn heran und rieb aus Dankbarkeit ihren Kopf an seiner Schulter. Der Jäger bestieg die Kamelstute und ritt nach Hause.

Die Tochter des Agelith sah zum Tarorfiz heraus. Sie weinte vor Furcht um den Jäger. Dann hörte sie die Kamelstute kommen. Sie sah den Jäger auf dem Rücken der Kamelstute. Da stieß sie Freudenschreie (thararathin; sing. therars; das gehende Freudenschreien der Kabylenweiber) aus. Sie rief so laut, daß der Donner antwortete. So entstand der Donner (aradtith; ein einzelner Donner heißt rada), und seitdem erklingt er.

Ein Jahr blieb der Jäger bei der Tochter des Agelith, dann brach er auf, ließ seine Hunde bei dem Mädchen zurück und ritt in das weite Land. Wo er ein Dorf fand mit armen Leuten, sagte er: "Kommt in meinen Ort; ich will euch Wohnung und Land geben." Die Leute kamen von hierher und dorther. Nach einem Jahr wohnten mehr Leute in dem Ort, als je vorher darin gewesen waren. Der Jäger wurde der Agelith des Ortes.

Eines Tages brach der Jäger mit seinem Pferde und den vier Hunden wieder auf, um auf die Jagd zu gehen. Er kam in einen großen Wald, aus dem war noch nie ein Mensch wieder lebend herausgekommen. Es lebte eine alte Frau darin, die hieß Ahasphoar, und wenn diese pfiff (pfeifen; äsphoar), so ward der, mit dem sie sprach, in Stein verwandelt. Der Jäger hatte mehrere Tiere erlegt. Er hatte sie an den Sattel gebunden. Er kam in den Wald und traf die Alte. Die alte Ahasphoar sah ihn, trat auf ihn zu und sagte: "Gib mir die Tiere, die du erlegt hast." Der Jäger sagte: "Wie komme ich dazu, dir meine Beute zu geben. Ich habe dir nichts zu danken."Da pfiff die alte Ahasphoar, und sogleich waren der Jäger, sein Pferd und seine vier Hunde Steine. Sie lagen als sechs Steine im Walde.



***
In der folgenden Nacht träumte dem richtigen Sohn der Mutter, dem Bruder daheim, sein Bruder, sein Pferd und seine vier Hunde seien in Stein verwandelt. Als er am Morgen darauf erwachte, hatte



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er ein schweres Fieber. Der Bruder erhob sich und sagte bei sich: "Das Fieber soll mich an meinen Traum erinnern. Ich habe seit einem Monat nicht nach dem falschen Olivenbaum gesehen und will sogleich hinreiten und schauen, ob sich mein Bruder auch nicht etwa im Elend befindet." Der Bruder machte sich zurecht und wollte ausreiten. Seine Mutter trat ihm entgegen und sagte: "Mein Sohn, du hast heute ein schweres Fieber. Du kannst heute nicht ausgehen. Warte bis morgen. Es gibt nichts, was so wichtig und eilig ist." Der Sohn sagte: "Doch, meine Mutter, es gibt etwas, das so wichtig und eilig ist. Aber es ist nicht deine, sondern meine Sache." Der Sohn ging hinaus. Er kam an den falschen Olivenbaum und sah, daß seine Blätter gelb und vertrocknet waren.

Der rechte Sohn ging schnell wieder heim. Er bestieg sein Pferd, rief seinen vier Hunden und ritt hinaus in den Wald. Seine Hunde folgten der Spur der Hunde seines Bruders, des Jägers. Er ritt so schnell er konnte. Er legte den Weg, zu dem sein Bruder ein Jahr gebraucht hatte, in drei Tagen zurück. Er kam aus dem Walde heraus und in den Ort.

Der rechte Bruder fragte die Leute: "Welcher Ort ist hier? Wem gehört er?" Die Leute sagten: "Dieser Ort war vernichtet und ist von einem Agelith neu errichtet worden. Der Agelith selbst ist aber seit vier Tagen auf der Jagd und noch nicht wieder zurückgekehrt. Er ist es, der uns allen Wohlstand und glückliches Leben gegeben hat. Wir alle sind besorgt um ihn." Der rechte Sohn sagte: "Zeigt mir das Haus des Agelith." Die Leute wiesen ihm den Weg.

Der rechte Sohn kam an das Haus des Agelith. Er stieg ab und trat herein. Die junge Frau lief ihm entgegen. Sie sah ihn. Sie dachte nicht anders, als daß dies ihr Gatte sei. So glichen die beiden Brüder einander. Sie umschlang ihn und sagte: "Ah! Warum hast du mich so lange allein gelassen. Ich dachte schon, die wilden Tiere hätten dich getötet." Der Bursche machte sich frei und sagte: "Nachher will ich dir alles erzählen. Jetzt muß ich schnell noch einmal umkehren und das Wichtigste erledigen." Die junge Frau sagte: "Was, du willst in den gleichen Wald dort drüben noch einmal zurückkehren, aus dem sonst noch kein Mensch zurückgekehrt ist?" Damit zeigte sie in der Richtung des Waldes der alten Ahasphoar.

Der rechte Sohn wußte nun die Richtung und die Stelle, an der sein Bruder umgekommen war. Er machte sich sogleich und ohne sich erst auszuruhen auf den Weg. Er ritt bis an den Waldrand. Am Wald-. rande fanden seine Hunde wieder die Spur der Hunde seines Bruders.



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Sie bellten und wollten in den Wald laufen. Der rechte Bruder rief aber seine Hunde zurück und setzte sich am Waldrand nieder, uni auszuruhen und nachzudenken.

Der rechte Sohn saß am Rande des Waldes. Über ihm im Baume saßen zwei Vögel. Die beiden Vögel sprachen miteinander. Die beiden Vögel sagten: "Dieser arme Bursche sucht seinen Bruder, den die alte Ahasphoar in einen Stein verwandelt hat. Wenn er seinen Bruder und dessen Pferd und dessen Hunde wieder zum Leben bringen will, muß er dort in den Busch treten. In dem Busche dort muß er sich nach der Korbschale (tewak; Plur. tebók) umsehen, die mit Federn gefüllt ist (itschur [voll]derrisch [Federn]). Wenn er einen Teil von diesen Federn verbrennt, so wird die alte Ahasphoar sogleich ganz schwach und willig. Sie wird dann dem Burschen ganz gefügig sein. Sie wird zu ihm kommen und alles tun, was er verlangt. Sie kann dann schon kaum mehr sehen. Der Bursche muß nun erst verlangen, daß sie ihm die Schlüssel zu ihrem Hause gibt und ihm alle Schätze zeigt, die sie aufgesammelt hat. Dann muß er von ihr verlangen, daß sie über den Steinen, zu denen sein Bruder, dessen Pferd und dessen Hunde verwandelt sind, pfeift. Diese werden wieder zum Leben zurückkehren, und er kann dann die alte Ahasphoar töten."

Der rechte Sohn hörte dieses alles. Er stand sogleich auf und trat in den Busch. Er suchte und fand die Korbschale mit den Federn. Er verbrannte einige von den Federn, die andern Federn steckte er zu sich. Gleich darauf kam die alte Ahasphoar. Sie kam halb betäubt und fast blind. Der rechte Bruder sagte zu ihr: "Gib mir deine Schlüssel und zeige mir, was du in deinem Hause hast." Die alte Ahasphoar gab ihm ihre siebzig Schlüssel. Sie führte den Bruder zu ihrem Hause; ließ ihm alle Kammern öffnen und zeigte ihm alle Schätze. Der rechte Sohn sagte dann zu der alten Ahasphoar: "Nun führe mich zu meinem Bruder." Die alte Ahasphoar führte ihn zu den sechs Steinen, in die der Jäger, sein Pferd und seine vier Hunde verwandelt waren. Der rechte Sohn sagte: "Nun pfeife über diesen Steinen!" Die alte Ahasphoar tat es. Sogleich kam der Bruder, das Pferd und die vier Hunde wieder zum Leben. Der rechte Sohn schlug mit seinem Schwert schnell die alte Ahasphoar tot, dann umarmte er seinen Bruder.

Beide Brüder weinten vor Freude. Die beiden Brüder bestiegen dann ihre Pferde, ritten noch einmal zum Hause der Ahasphoar, um die Schätze zu besichtigen und kehrten heim. Als sie in das



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flaus des Jägers kamen, sprang ihnen die junge Frau entgegen. Sie umarmte bald den einen, bald den andern. Sie konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Nach einiger Zeit holten die Brüder die Schätze der Ahasphoar in den Ort. Sie verschenkten einen Teil unter ihre Leute, die so zu den reichsten Leuten des Landes wurden, einen andern Teil aber verwahrten sie. Der rechte Sohn blieb bei seinem Bruder.

Eines Tages sagte der Jäger zu seinem Bruder: "Ich will hingehen und deine Mutter auch hierherbringen, damit sie an unserem gemeinsamen Glück teilnehme." Der rechte Sohn seiner Mutter erschrak und sagte: "Mein Bruder, bedenke, was du tun willst! Meine Mutter wird wieder, wie vordem, uns zu trennen suchen. Sie ist seit damals noch älter geworden, und du weißt, daß der böse Wille bei den Frauen mit dem Alter wächst. Ich beschwöre dich, laß von dem Gedanken ab. Ich werde noch einige Zeit bei dir bleiben und dein Glück teilen und dann zu meiner Mutter zurückkehren. Wenn später aber meine Mutter gestorben sein wird, komme ich ganz zu euch."

Der Jäger sagte: "Es ist mir nicht recht, daß du wieder heimkehren willst. Lieber hole ich deine Mutter hierher und will sie ertragen. In dieser Welt wird der Tüchtige (ischtar; Plur. ischtran; auch [i]härrasch; plur. harrschen) daheim nichts. Dem Tüchtigen gehört die Welt (=iharrasch dikulisch; oder auch adifai del'hadja). Deshalb bleibe hier draußen bei mir. Ich will deine Mutter hierherbringen."

Der Jäger machte sich mit seinen vier Hunden auf den Weg, uni die Mutter seines Bruders zu holen. Der rechte Sohn der Mutter betete aber ununterbrochen währenddessen, daß seine Mutter lieber sterben möge, als daß sie ihn wieder von seinem Bruder trenne. — Als der Jäger im Hause der Mutter seines Bruders ankam, war die Mutter gerade gestorben und begraben.

Der Jäger sagte: "Ich muß meinem Bruder die Treue wahren. Ich habe ihm geschworen, ihm seine Mutter zuzuführen und muß es tun. Nun sie nicht mehr lebendig ist, muß ich ihm die Gestorbene zuführen." Der Jäger grub die Leiche der Mutter seines Bruders aus, nahm sie mit sich auf das Pferd und wollte an seinen Ort zurückreiten.

Der Jäger kam mit der Leiche in den Wald. Im Walde sammelte sich um ihn das Unglück. Alle wilden Tiere und Teriel kamen um ihn zusammen und begannen über ihn herzufallen. Alle Toten kamen aus den Gräbern und stürzten auf ihn zu, um ihm die Leiche



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zu entreißen. Der Jäger mußte nach allen Seiten kämpfen und die Leiche verteidigen. Er kämpfte zwei Monate lang Tag und Nacht, Und er kam nicht vom Fleck.

Der rechte Sohn vertrat inzwischen als Agelith seinen Bruder. Er wartete mehrere Tage auf seine Rückkehr. Er wartete einen Monat. Er wartete zwei Monate. Als sein Bruder immer noch nicht kam, sagte er: "Es muß etwas geschehen sein!" Er bestieg sein Pferd. Er ritt in den Wald. Auf dem Wege fand der den Bruder nicht. Er ritt zu dem falschen Olivenbaum. Er fand dessen Blätter dürr. Er lied seine Hunde die Spur des Bruders suchen. Die Hunde fanden die Spur. Der rechte Sohn ritt schnell hinterher. Er traf den Bruder mit der Leiche seiner Mutter, umgeben von allen wilden Tieren, Teriel und Toten. Er zog sein Schwert und kam dem Bruder zu Hilfe. Ei kämpfte und tötete viele. Je mehr er aber tötete, desto mehr kamen hervor. Da fielen ihm die Federn ein, die er im Walde der Ahasphoai zu sich gesteckt hatte. Er zog sie hervor und verbrannte einige. So-. gleich verschwanden alle Toten und Teriel, und nur einige wilde Tiere blieben übrig, die die beiden Brüder bald getötet hatten.

Der rechte Sohn sagte: "Aber mein Bruder, wie konntest du die Leiche meiner Mutter mit dir nehmen ?" Der Jäger sagte: "Ich hatte dir zugeschworen, deine Mutter zu bringen. Da ich die Lebende nicht mehr fand, grub ich die Tote aus und brachte sie. Ich habe sie du hierher mitgenommen." Der rechte Sohn sagte: "Wir wollen meine Mutter auch im Tode nicht mit an deinen Ort nehmen, denn auch die Tote wird dir nur Unglück bringen. Laß sie uns hier begraben und dann gemeinsam an deinen Ort zurückkehren. Wir wollen uns nicht wieder trennen."

So taten sie es.


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