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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


46. Der Unscheinbare

Ein Kaid hatte vier Töchter, von denen drei erwachsen waren. Viele Männer der Stadt und von auswärts kamen und baten den Kaid um die Hand einer seiner Töchter. Der Kaid antwortete aber stets: "Ich verheirate meine Töchter erst, wenn alle vier erwachsen sind. Dann sollen sie aber selbst ihren Gatten wählen und sollen alle vier am gleichen Tage heiraten."

Es nahte die Zeit, da auch die jüngste Tochter erwachsen war, und somit der Tag, an dem der Kaid alle vier Töchter gleichzeitig verheiraten wollte. Der Kaid teilte dieses seinen vier Töchtern eines Tages mit, setzte den Tag der Gattenwahl und Hochzeit fest und sagte: "Überlegt euch wohl, meine Töchter, welchen Mann jede sich zum Gatten auswählen will. Ihr habt noch Zeit genug, die einzelnen jungen Männer der Stadt untereinander zu vergleichen und eure Entschlüsse ausreifen zu lassen, so daß ihr mir dann würdige Schwiegersöhne in das Haus führt und unsere Familie vor Schande bewahrt." Nachdem der Kaid das gesagt hatte, ließ er alle vier ihres Weges gehen und die Schicksalsentscheidung selbst erwägen.

Nun hatten die ältesten drei Töchter schon ihre Wahl getroffen. Eine jede hatte einen Liebhaber, mit dem sie sich schon hier und da ein Zeichen und ein Stelldichein gegeben hatte, und von denen jeder



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der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns der Stadt war. Die jüngste Tochter hatte bislang aber alle Winke der Männer übersehen, weil sie ihr alle gleichgültig waren. So war denn sie allein durch die Erklärung des Vaters vor eine schwierige Frage gestellt und ging deshalb, während ihre drei Schwestern von dannen eilten, um ihren Liebhabern die Mitteilung von dem nahe bevorstehenden Hochzeitsfeste zu machen, nachdenklich in den nahen Wald, in dem sich eine kühle Quelle befand.

Die jüngste Tochter des Kaid ging sinnend im Walde dahin. Sie hatte einen Hund bei sich, der lief nach der Quelle voraus, um zu saufen. Kaum war er fort, so begann der Hund jämmerlich zu schreien. Das Mädchen ging schnell weiter, um zu sehen, was dem Hund zugestoßen sei, da sah sie noch ein wenig entfernt, daß eine riesenhafte Schlange, die sicher imstande war, den stärksten Ochsen zu erwürgen, den Hund gepackt hatte und ihn eben verschlucken wollte. Sie wollte schon entsetzt fliehen, als von der andern Seite ein in Lumpen gehüllter und statt der Mütze mit einem Stück Kuhmagen bedeckter Mann herbeisprang, die Schlange packte, sie, trotzdem sie sich um ihn wand, mit den Händen erdrosselte und dann tot hinwarf, während der Hund bellend von dannen rannte.

Die jüngste Tochter des Kaids blickte aus ihrem Versteck fast berauscht vor Erstaunen auf den Bettler. Denn während des Kampfes hatte die Schlange ein Stück seines Lumpengewandes zerrissen, und dabei war ein herrlich, fein gestickter Silberstoff zum Vorschein gekommen. Dann hatte die Schlange mit dem letzten Schwanzschlage ihm die Kuhmagenhaut vom Haar gerissen, und nun sah man, daß darunter reines Gold war, das leuchtete so hell, daß der Wald ringsumher den Schein des Goldhauptes und der Schönheit des anscheinenden Bettlers widerspiegelte. Das dauerte aber nicht lange, denn sowie die Schlange tot am Boden lag, nahm der Mann den Kuhmagenlappen auf und bedeckte sein Goldhaupt. Dann schob er die Lumpen über das prächtige Unterkleid und ging, ohne die Schlange eines Blickes zu würdigen oder die Tochter des Kaids in ihrem Versteck zu gewahren, der Stadt zu.

Gänzlich verwirrt blieb die jüngste Tochter des Kaids an der Stelle hocken, von wo aus sie dieses Schauspiel gesehen hatte. Sie kam erst wieder zu sich, als sich von der andern Seite Schritte näherten. Schon wollte sie aufstehen und sich entfernen, da sah sie, daß es ihre älteste Schwester und deren Liebhaber waren, die auf die Quelle zuschritten. Die Jüngste blieb. Die älteste Schwester und ihr Liebhaber



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betraten die freie Stelle. Der Liebhaber erblickte die tote Schlange zuerst, schrie laut auf und floh, die Schwester gleich hinter ihm her. Die jüngste Schwester lachte vor sich hin und sagte: "Dies ist ja ein außerordentlicher Mann, den sich meine Schwester da er-Wählt hat."

Die Jüngste verfiel dann wieder in die Gedanken an den goldhäuptigen Bettler. Zum zweiten Male wurde sie durch Schritte aufgeschreckt. Es war ihre zweite Schwester und deren Liebhaber, die durch den Wald zur Quelle gingen. Die Jüngste sagte vor sich hin: "Ob dies wohl die gleiche Art ist, wie mein ältester Schwager ?" — Der Jüngling betrat den Queliplatz, schrie und lief, ohne sich um seine Geliebte zu kümmern, von dannen. Diese brachte sich aber auch ohne die Unterstützung des Geliebten in Sicherheit.

Die Jüngste lachte wieder. Nach einiger Zeit hörte sie aber auf zu lachen und sagte bei sich: "Jetzt kommt auch meine dritte Schwester mit ihrem Geliebten. Wenn der sich ebenso benimmt, dann habe ich heute gelernt, daß äußerer Wohlstand und innere Tapferkeit nichts miteinander zu tun haben." Der dritte Liebhaber kam und floh vor der toten Schlange ebenso eilig, wie die Erwählten dei älteren zwei Schwestern.

Da erhob sich die Jüngste und ging nach Hause. Sie rief ihre Sklavin und sagte ihr: "Geh sogleich in die Stadt und sieh dich uni nach einem Bettler, der statt der Mütze ein Stück Kuhmagen auf dem Kopf hat. Berichte mir, wo er wohnt und wie er heißt." Die Sklavin ging. Sie kam am Abend wieder und sagte: "Ich habe nichts erfahren. Hat der Mann aber etwas verbrochen, so können die Leute deines Vaters ihn sicher schnell ausfindig machen und gefangen setzen." Die jüngste Tochter des Kaids sagte: "Ich will nicht, daß man ihn im geringsten kränkt, oder daß er erfährt, daß ich mich nach ihm erkundigt habe. Ich will aber bis morgen früh seinen Namen wissen."

Am andern Tage kam die Sklavin und sagte: "Ich habe den Namen des Bettlers in Erfahrung gebracht. Er heißt Hamed bul kerscha (der mit der Bauchhaut Bedeckte) und wohnt als ganz Armer in der Moschee (Djemaa)." Die Jüngste sagte: "Es ist gut." — Abends suchte die jüngste Tochter den Kaid auf und sagte: "Ich habe in meinem Inneren deine gütigen Worte wohl erwogen. Ich sehe aber in einem nicht klar und bitte dich, meinen Vater, dir einige Fragen vorlegen zu dürfen. Der Kaid sagte: "Sprich, meine Tochter."

Die Jüngste sagte: "Du hast gesagt, wir sollen uns unsern Gatten



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selbst wählen, sollten unsere Entschlüsse aber sorgfältig prüfen, damit wir dir einen würdigen Schwiegersohn zuführen und deine Familie vor Schande bewahren. Ist es so ?" Der Kaid sagte: "Du hast mich richtig verstanden." Die Jüngste sagte: "Erkläre mir bitte, ob du unter einem würdigen Mann, der deine Familie vor Schande bewahrt, einen Mann verstehst, der nach viel aussieht, hinter dem aber nichts steckt, oder einen Mann, der nach nichts aussieht und doch etwas Besonderes ist?" Der Kaid sagte: "Sieh, ich bin kein junger Mann, sondern ein alter. Als alter Mann sage ich dir, daß ich nur den für würdig erachte und ehren kann, der etwas ist nicht etwa den, der wie etwas scheint." Die Tochter sagte: "So habe ich dich also recht verstanden. Nun bitte ich dich um Beantwortung einer letzten Frage: Willst du deinen Schwiegersöhnen, wenn ich darum bitte, die Möglichkeit geben, sich als das zu erweisen, was sie sind?" Der Kaid sagte: "Mein Kind, das verspreche ich dir."Die Tochter ging.

Der Tag kam, an dem jede der vier Töchter des Kaid ihren Gatten wählen sollte. Alle jungen Männer der Stadt waren versammelt. Alle Reichen standen in der Mitte. Draußen aber standen auch die Armen und blickten dem Schauspiel der Hochzeit eines wohlhabenden Hauses zu. Der Vater trat mit seinen vier Töchtern heraus. Er gab jeder der Töchter einen Apfel und sagte: "Nun wählt." Die älteste Tochter nahm den Apfel und reichte ihn ihrem Liebhaber, der war der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns. Alle Leute lobten die Wahl. Die zweite Tochter nahm den Apfel und reichte ihn ihrem Liebhaber, der war auch der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns, und demnach lobten alle Leute auch diese Entscheidung. Die dritte Tochter nahm den Apfel und reichte ihn ihrem Liebhaber, und da der desgleichen der Sohn eines sehr vermögenden Kaufmanns war, so erntete auch diese Wahl Befriedigung.

Die vierte Tochter nahm den Apfel und blickte im Kreise umher. Sie blickte die ersten Reihen auf und ab. Sie blickte die hinteren Reihen auf und ab. Sie schaute auf die Gaffer, die draußen herumstanden. Sie schüttelte den Kopf und sagte: "Es sind nicht alle jungen Männer der Stadt anwesend." Der Vater sagte: "Kannst du jemand nennen, der fehlt?" Die Tochter sagte: "Es fehlen die Armen der Djemaa. Und deiner Bestimmung nach brauche ich erst dann zu wählen, wenn alle jungen Männer der Stadt versammelt sind." Darauf sandte der Vater zur Djemaa (Moschee) und ließ die rufen, die noch fehlten. Auch sie kamen und stellten sich zu allerhinterst, ganz draußen auf.



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Eine Thimhaschiszelt

(Hanfraucher)-Gesellschaft Originalzeichnung eines Kabylen



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Als sie angekommen waren, schritt die jüngste Tochter mitten durch die Massen der Reichen, Wohlhabenden, Bemittelten und irgendwie angesehenen Leute auf die Bettler zu und gab ihren Apfel einem sehr heruntergekommen aussehenden, in Lumpen gehüllten Burschen. Die Umstehenden traten erstaunt zurück und Sagten: "Hamed bul kerscha, der Hamed mit der Bauchhaut!" erstaunt sahen sich die ältesten drei Schwestern an. Ernst blickte der Kaid drein und sagte: "Meine Tochter, das ist eine ernste, wichtige Sache, auch solltest du deinen Scherz nicht mit einem armen bettler treiben." Die jüngste Tochter sagte: "Es ist mir kein Scherz, Sondern Ernst. Ich habe mir einen Gatten erwählt, und ich glaube ficht, daß irgendein Mensch heute schon, wo ihr ihn gar nicht kennt, Sich eine Antwort auf die Frage erlaubt, ob er weniger würdig ist, als deine andern Schwiegersöhne und ob er deiner Familie nicht Ehre bringt."

Die ältesten Schwestern zürnten. Die Männer der ältesten Schwestern spotteten. Alle Anwesenden lachten. Der Kaid nahm seine Jüngste Tochter beiseite und sagte: "Du hast sonst gewußt, was du tust. Weißt du es heute auch ?" Die Tochter sagte: "Ich weiß es." Der Vater sagte: "Du hast mir neulich abends Fragen vorgelegt, die ich dir beantwortete. Hast du dich den Worten oder dem Sinne nach nach der Antwort gerichtet?"Die Tochter sagte: "Dem Sinne nach." Der Vater sagte: "Kannst du mir nun noch etwas sagen, was mich dieses verstehen läßt ?" Die Tochter sagte: "Wer ein Knäuel Faden kauft, soll nicht das außen umschlungene, schöngefärbte Stückchen betrachten, sondern er soll darauf achten, daß der lange Hauptteil haltbarer und fester ist, als der vielleicht schäbige Anfang." Der Vater seufzte und wollte gehen. Die Tochter sagte: "Mein Vater, vergiß nicht, daß du mir versprochen hast, mit deinem Endurteil zu warten, bis du die Proben erlebt hast." Der Vater sagte: "Es ist gut, ich werde abwarten."

Darauf feierten alle ein großes Fest. Die ältesten drei Schwestern saßen mit ihren Gatten bei dem Kaid auf dem Ehrenplatze. Die jüngste Tochter saß mit dem bauchhautbedeckten Hamed an der Tür. Die ältesten drei Schwestern zogen mit ihren Gatten in deren prächtige Häuser. Die Jüngste zog mit dem Bettler in einen Winkel der Moschee.

Eines Tages sagte Hamed bul kerscha zu seiner Gattin: "Geh zu deinem Vater und bitte ihn, daß er sich krank stellt, daß er dann seine vier Schwiegersöhne kommen läßt und ihnen sagt: ,Es gibt für mich



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nur ein Heilmittel, das sind einige jener Äpfel, die jenseits der sieben Meere wachsen und die ich euch, meine vier Schwiegersöhne, bitte, mir zu bringen." Die junge Frau ging hocherfreut und bat ihren Vater zu tun, wie es ihr Gatte gewünscht hatte. Der Vater legte sich also auf sein Lager und sandte zu seinen vier Schwiegersöhnen. Als sie alle um ihn herumstanden, sagte er: "Meine Söhne, ich bin sehr krank. Es gibt für mich nur ein Heilmittel, das sind einige jener Äpfel, die jenseits der sieben Meere wachsen und die ich euch, meine vier Schwiegersöhne, bitte, mir zu bringen."

Die drei reichen Schwiegersöhne und der arme gingen, die ersteren in ihre Häuser, um ihre Pferde zu satteln, der letztere, um sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Die reichen Schwiegersöhne ritten zusammen zum Tore hinaus und sagten untereinander: "Wie sollen wir es nur anstellen, in das Land jenseits der sieben Meere zu gelangen ?" Sie ritten bedrückt dahin.

Inzwischen war Hamed kaum draußen vor den Toren der Stadt angelangt, da sah er um sich, ob niemand ihn beobachtete, und dann drehte er einen Ring, den er am Finger hatte, und der der Tachasinsleberi(ng), der Wunschring, war. Der Ring sagte: "Was befiehlst du ?" Hamed sagte: "Nimm diese schmutzige Oberkleidung und gib mir ein reiches, rotes Obergewand. Dazu schaffe mir sogleich ein rotes Pferd, dessen vordere Beine wie der Wind und dessen hintere Beine wie Blitze sind." Sogleich war Hamed in ein herrliches rotes Gewand gekleidet und hatte vor sich ein prächtiges rotes Pferd. Damit jagte er hinter seinen reichen drei Schwägern her, die er auch bald erreichte.

Der Rote ritt an die reichen drei Schwiegersöhne heran, begrüßte sie und sagte: "Ihr seid traurig. Kann ich euch in irgendeiner Sache mit einem Ratschlag dienen ?" Die reichen drei Schwiegersöhne sagten: "Unser Schwiegervater ist krank und verlangt von uns, wir sollten ihm als Heilmittel einige jener Äpfel bringen, die jenseits der sieben Meere wachsen. Das können wir aber nicht. Denn wie sollen wir über die sieben Meere kommen." Der Rote sagte: "Darin kann ich euch allerdings keinen Rat geben, das kann ich höchstens selbst machen, denn es ist schwer." Die reichen drei Schwiegersöhne sagten: "Was sollen wir dir dafür bezahlen, wenn du uns die Äpfel beschaffst ?"Der Rote sagte: "Gebt mir jeder eines seiner zwei Ohren." Die reichen drei Schwiegersöhne waren einverstanden. Der Rote sagte: "So wartet hier, bis ich wiederkomme. Ich werde zu der Reise einige Zeit benötigen." Dann ritt er von dannen.



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Hamed ritt bis zum Ufer des Meeres. Unterwegs kaufte er zwei Schafe. Er ging zu einer entlegenen Stelle und schlachtete die Schafe. Er warf sie bis auf wenige Stücke den Adlern zum Fraß hin. Ein Adler kam mit seinen Jungen herunter. Der Adler und seine Jungen aßen sich satt. Der Adler sagte zu Hamed: "Ich danke dir, daß du meine Jungen gut gefüttert hast. Du kannst zum Danke dafür verlangen, was du willst." Hamed sagte: "Ich möchte, daß mich einer der jungen Adler über die sieben Meere trägt, dahin, wo ich von jenen Äpfeln pflücken kann, und daß er mich dann zurückbringe." Der Adler fragte einen seiner Söhne: "Wie lange brauchst du hierzu?" Der Adlersohn sagte: "Ich brauche einen Monat hin und einen zurück." Der Adler sagte: "Das ist zu viel. Wie lange brauchst du dazu ?" Der zweite Adler sagte: "Ich brauche zwanzig Tage hin und zurück." Der Adler sagte: "Das ist zu lange. Wie lange brauchst du?" Der dritte Adler sagte: "Ich brauche für Hin- und Rückweg zusammen sieben Tage." Der alte Adler sagte: "Das ist der Richtige."

Hamed steckte sieben Stücke Fleisch ein. Jeden Tag nahm er ein Stück Fleisch heraus und gab es dem Adler. Als er am siebenten Tage in die Tasche griff, merkte er, daß er beim Pflücken der Äpfel im Vorüberfliegen ein Stück verloren habe. So zog er denn ein Messer heraus und schnitt sich ein Stück vom Bein ab, das gab er dem Adler. Der Adler ließ Hamed an der Meeresküste nieder. Hamed blutete und konnte das Hinken nicht verbergen. Der junge Adler sagte: "Was fehlt dir? Dir ist ja ein Stück des Beines abgeschnitten!" Hamed sagte: "Ich hatte das siebente Stück Fleisch verloren und hatte dir nichts anderes zu bieten als das, was ich mir selbst abschneiden konnte." Der junge Adler sagte: "Das soll wieder hergestellt werden." Er wendete sich ab und spie das verschlungene Stück von Hameds Bein wieder aus. Er setzte es Hamed an. Hamed war geheilt.

Hamed bestieg sein Pferd. Er ritt mit den Äpfeln in der Tasche dahin, wo er die reichen drei Schwiegersöhne zurückgelassen hatte. Er begrüßte sie und sagte: "Ich habe die Äpfel!" Darauf ließen sich die reichen drei Schwiegersöhne je ein Ohr abschneiden, zogen ihre Kappe tiefer auf den Kopf, nahmen die Äpfel und ritten vergnügt darüber, daß sie so billigen Kaufs aus der Affäre hervorgegangen waren, heimwärts. Hamed seinerseits legte vor den Toren der Stadt den roten Mantel auf das Pferd, ließ alles vom Wunschring zurücknehmen, sich die alten Lumpen wieder umhängen und kam als



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Bettler in die Stadt zurück, während seine reichen drei Schwäger ufl Hause des Kaid mit Ehren empfangen wurden. —

Einige Tage später ging Hamed mit seiner Frau in lumpigen Kleidern durch die Stadt. Die drei reichen Schwiegersöhne begegneten ihnen. Als sie ihres armen Schwagers ansichtig wurden, lachten sie und fragten höhnend: "Hast du nicht Lust, auch einige von den Äpfeln jenseits der sieben Meere zu holen?" Hamed antwortete: "Wie sollte ich armer Mann dazu kommen, die Geheimnisse eurer Taten zu kennen?" Die drei reichen Schwiegersöhne sagten: "Zu solcher Arbeit gehört mehr Mut und Klugheit, als Kenntnis Von Geheimnissen." Hamed antwortete: "Darin bin ich eurer Ansicht, und ich weiß auch, was ich tun würde, wenn ich euren Mut und eure Klugheit hätte." Die drei höhnten und sagten: "Sprich doch, was du tun würdest." Hamed sagte: "Nicht heute, aber ein anderes Mal!" Dann ging er mit seiner Frau weiter.

Wenige Tage darauf sagte Hamed zu seiner Frau: "Geh wieder zu deinem Vater und bitte ihn, daß er sich wieder krank stellen, diesmal von seinen Schwiegersöhnen als das Heilmittel einen Trunk von der hinter den auf- und zuschlagenden Felsen aufspringenden Quelle ausbitten soll." Die junge Frau ging und sagte es ihrem Vater. Der Vater legte sich nieder, ließ seine vier Schwiegersöhne zusammenrufen und sagte: "Meine Söhne, ich bin zum zweiten Male sehr krank. Dieses Mal kann mir nur ein Trunk von der Quelle, die hinter den auf- und zuschlagenden Felsen entspringt, nützen. Ich bitte euch also, diesen Trunk für mich zu holen." Die vier Schwiegersöhne gingen.

Die drei reichen Schwiegersöhne verließen zu Pferde auf der einen Seite, der arme auf der andern Seite zu Fuß die Stadt. Die drei Reichen ritten bedrückt dahin, als ihnen nach einiger Zeit wieder der rote Reiter begegnete, der sie freundlich begrüßte und sie fragte: "Was stimmt euch so traurig?" Die drei reichen Schwiegersöhne sagten: "Unser Schwiegervater, der Kaid, ist krank und als Heilmittel benötigt er einen Trunk aus der Quelle, die hinter den auf. und zuklappenden Felsen entspringt. Diesen Trunk sollen wir ihn] besorgen. Nun ist es aber sicher, daß wir, wenn wir es wagen würden, hindurchzugehen, zwischen den zusammenschlagenden Felsen zermalmt werden würden. Wir sind also zur Ausführung der Aufgabe nicht imstande." Der rote Reiter sagte: "Diese Sache ist allerdings sehr schwierig und verlangt ebenso viel Mut als Klugheit. Immerhin glaube ich, daß ich dazu imstande sein würde." Die reiehen



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drei Schwiegersöhne sagten: "Was verlangst du für die Ausführung dieser Aufgabe? Was sollen wir dir für einen Trunk von diesem Wasser geben ?" Der rote Reiter sagte: "Ich würde ihn euch geben, wenn ein jeder von euch seinen kleinen Finger gibt." Die reichen drei Schwiegersöhne erklärten sich damit einverstanden, Und der rote Reiter sagte zu ihnen: "So bleibt hier lagern, bis ich mit dem Trunk zurückkehre." Dann ritt er von dannen.

Der rote Reiter begab sich nun in die Gegend der auf- und zu-Schlagenden Felsen. Diese Felsen standen bei sonnigem Wetter fest, So lange nicht irgendein Wesen, sei es ein Hase, ein Vogel oder eine Fliege zwischen beiden hindurchsetzen wollte. So wie dies aber geschah, schlugen sie mit riesiger Geschwindigkeit und so großer Gewalt gegeneinander, daß jedes Geschöpf zwischen ihnen zu Staub zermalmt wurde. Sowie Sie aber ein Wesen zwischen sich zermalmt hatten, gingen sie wieder langsam auseinander. Nun hatte der rote Reiter unter seinem Mantel verborgen zwei Tauben mitgebracht. Als er am Eingange der Felsentore angekommen war, nahm er die eine der Tauben heraus und sagte: "Fliege zur Quelle." Die Taube flog. Die Felsen schlugen blitzschnell zusammen. Sie zermalmten die Taube zwischen sich zu Staub. Dann gingen die Felsen wieder langsam auseinander. Diesen Augenblick benutzte der rote Reiter. Er drückte seinem Pferde die Sporen in die Seite, so daß es mit den Füßen, die wie Wind und Blitz waren, hindurchsauste. Kaum war er aber in der Mitte des Felsendurchganges, da waren die Riesenblöcke auch an der äußersten Grenze ihrer Rückbewegung angelangt und schlugen sofort wieder zusammen. Der rote Reiter hatte mit seinem Pferde gerade die andere Seite des Durchganges erreicht, als die Felsen wieder zusammenprallten. Sie trafen gerade noch das äußerste Ende des Pferdeschwanzes und schnitten dies glatt ab.

Der rote Reiter ruhte sich und sein Pferd an der Quelle aus. Dann schöpfte er den Trunk, den er seinen reichen drei Schwägern versprochen hatte und bereitete sich zur Rückkehr vor. Er ritt bis an den Ausgang des Felsenpasses, nahm die zweite Taube, ließ sie frei und sagte: "Fliege nach Hause!" Die Taube flog. Die Felsen schlugen mit großer Gewalt gegeneinander und zermalmten die Taube zwischen sich zu Staub. Dann begannen die Felsen wieder langsam auseinander zu gehen. In diesem Augenblick gab der rote Reiter wieder seinem Pferde die Sporen, und dieses raste schnell wie Blitz und Wind zwischen den Felsblöcken hin. Kaum war der Reiter aber in der Mitte des Felsdurchganges angelangt, da waren die Blöcke



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auch an der äußersten Grenze ihrer Rückbewegung und schlugen nun mit furchtbarem Krachen zusammen, — so schnell, daß die Hinterhufe des rasenden Pferdes gerade dem Felszusammenschlag entgingen, die Hälfte des Schweifes aber noch glatt abgeschnitten wurde.

Der rote Reiter ruhte sein Pferd noch einige Zeit von dem gewaltsamen Ritt aus und machte sich dann auf den Weg, um seinen Schwägern den versprochenen Trunk zu überbringen. Er traf sie noch an der gleichen Stelle, an der sie ungeduldig auf ihn gewartet hatten. Er bändigte ihnen den Trunk aus, schnitt jedem einzelnen von ihnen seinen kleinen Finger ab und ritt von dannen. Einige Zeit später ritten die drei reichen Schwiegersöhne stolz und hoch zu Roß durch das eine Tor der Stadt, während der arme Hamed zu Fuß durch das andere auf die Moschee zuging, in der seine Gattin seiner harrte. Alle Leute aber rühmten die Tapferkeit der reichen drei Schwiegersöhne, welche eine so schwierige Aufgabe gelöst hatten und spotteten des Bettlers, der nur eine Fußwanderung vor den Toren der Stadt gemacht hatte.

Einige Tage darauf begegnete Hamed mit seiner Frau abermals seinen reichen drei Schwägern. Sie spotteten wieder seiner. Hamed sagte wieder: "Ich weiß, was ich tun würde, wenn ich euren Mut und eure Klugheit hätte." Die drei reichen Schwäger entgegneten abermals: "Sprich doch, was du tun würdest." Hamed entgegnete wie das erstemal: "Heute noch nicht, aber ein anderes Mal." Dann ging er mit seiner Frau weiter.

Kurze Zeit darauf sagte Hamed zu seiner Frau: "Geh noch ein drittes Mal zu deinem Vater und bitte ihn, sich krank zu stellen. Sage ihm, er solle als Heilmittel die Milch einer säugenden Löwin, gefüllt in den Balg eines ihrer eigenen Kinder von seinen Schwiegersöhnen verlangen." Der Kaid war damit einverstanden. Er rief seine vier Schwiegersöhne zusammen und sagte: "Leider bin ich noch ein drittes Mal erkrankt und kann nur durch ein sehr schwierig zu erlangendes Heilmittel gerettet werden. Ich brauche nämlich die Milch einer säugenden Löwin, gefüllt in den Balg eines ihrer eigenen Kinder. Würde einer von euch, meine vier Schwiegersöhne, imstande sein, diese Milch in solchem Behälter zu beschaffen, um mir meine Genesung zu ermöglichen ?" Die vier Schwiegersöhne gingen auseinander.

Der Bettler verließ zu Fuß durch das eine Tor die Stadt, die drei reichen Schwiegersöhne hoch zu Roß durch das andere. Bald begegneten



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die drei reichen Schwiegersöhne dem roten Reiter und sagten sogleich: "Du kannst uns heute wieder einen vorzüglichen Dienst erweisen." Der rote Reiter sagte: "Worin besteht dieser?" Die drei reichen Schwiegersöhne entgegneten: "Unser Schwieger-Vater, der Kaid, verlangt als Heilmittel zur Genesung von seiner neuen Krankheit, in die er verfallen ist, die Milch einer Löwin, gefüllt in den Baig eines ihrer eigenen Kinder. Was verlangst du dafür, wenn du uns die verschaffst ?" Der rote Reiter sagte: "Von jedem von euch die kleine Zehe von einem seiner Füße." Die reichen drei Schwiegersöhne sagten: "Du sollst sie haben. Bringe sie nur schnell hierher. Wir bleiben hier lagern und warten auf dich." Der rote Reiter ritt von dannen.

Der rote Reiter ritt dahin, wo ein tapferer Schäfer mit sehr guten Hunden seine Schafe weidete. Es war ein Schäfer, der es verstand, stets die Löwen von seinen Schützlingen fernzuhalten, so daß diese hier schwer und selten ihre Nahrung fanden. Von diesem Schäfer kaufte er zwei fette Schafe und ging damit gegen Abend in den Wald. Das eine der Schafe band er unter einem Baume an, das andere zog er an einem Strick am Baume hinauf und stieg dann selbst hinauf. Als es nacht war, kam eine Löwin mit ihren Jungen, fiel über das unten angebundene Schaf her und verschlang es mit ihren Kindern.

Danach hatten die Löwin und ihre Jungen aber noch großer Hunger und sie witterten den Menschen und das Schaf auf den Baum. Die Löwin sagte: "Wer du auch seiest da oben, du hast meine Jungen und mich gespeist, so daß ich dir danke. Nun hast du dort oben aber noch ein fettes Schaf, während wir hier unten noch nicht gesättigt sind. Laß uns also das Schaf herunter und schenke es meinen Jungen und mir. Tust du es, so schwöre ich dir bei Gott, daß ich dir jeden Wunsch, dessen Erfüllung meine Fähigkeit nicht übersteigt, erfüllen werde." Der rote Reiter sagte: "Ich bin mit deinem Vorschlage einverstanden, und bin bereit, dir das zweite Schaf sogleich herunter zu bringen. Ich werde aber von dir etwas seht Schweres und unbedingt die Einhaltung deines Schwures verlangen.' Die Löwin sagte: "Ich wiederhole meinen Schwur."

Darauf stieg der rote Reiter mit dem zweiten Schafe vom Baume herunter und gab es der Löwin, die es sogleich mit ihren Junger zerriß und verzehrte, während er daneben stand. Als die Löwin sich und ihre Kinder gesättigt hatte, sagte sie: "Du hast meine Junger und mich gesättigt. Ich danke dir. Du hast einen Wunsch und ich



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habe geschworen, ihn dir zu erfüllen. Sprich ihn also aus." Der rote Reiter sagte: "Ich brauche deine Milch, gefüllt in den Balg eines deiner Kinder." Als die Löwin das hörte, brüllte sie in gewaltigem Zorn auf und wollte sich auf den roten Reiter stürzen. Dieser blieb stehen und sagte: "Ich fürchte dich nicht. Vergiß du aber nicht, daß du geschworen hast." Die Löwin legte sich nieder und zwang ihren Zorn hinunter. Sie sagte: "Du hast recht. Ich werde meinen Schwur halten; ich bitte dich jedoch, es mir möglich zu machen. Nimm eines meiner Jungen und erwürge es, aber nicht hier, sondern so weit von hier abseits, daß ich es nicht sehe, sonst würde der große Zorn wieder in mir aufsteigen. Dann komm mit dem Balg und melke meine Milch hinein. Du mußt dabei aber mit deiner einen Hand meinen Kopf niederdrücken, damit ich nicht um mich beißen kann. Tust du es so, dann kann und will ich meinen Schwur einhalten." Der rote Reiter sagte: "So soll es geschehen."

Der rote Reiter nahm ein Kind der Löwin und trug es seitwärts weg in den Busch. Er erdrosselte es und streifte die Haut ab. Mit dem Balg kehrte er zurück und drückte dann mit einer Hand und großer Kraft den Kopf der Löwin nieder, während er mit der andern rnolk. Als er mit der Arbeit fertig war, wollte die Löwin wieder zornig werden, er aber schleuderte sie weit weg in den Busch und sagte: "Denke an deinen Schwur!" Mit dem gefüllten Balg kehrte er dann dahin zurück, wo er sein Pferd angebunden hatte und bestieg es.

Der rote Reiter kehrte zu den drei reichen Schwägern zurück. Er schnitt jedem von ihnen eine Zehe ab, gab ihnen den Baig mit der Milch der Löwin und ritt von dannen. Die drei reichen Schwäger kehrten hoch zu Roß durch das eine Tor, der Bettler zu Fuß durch das andere in die Stadt zurück. Die reichen drei Schwäger wurden mit vielen Lobpreisungen und Ehren, der Bettler aber mit Spottreden und Höhnen empfangen.

Eines Tages begegnete Hamed, der mit seiner Frau ging, den reichen drei Schwägern. Die drei Schwäger spotteten wieder seiner. Er sagte abermals: "Ich weiß, was ich tun würde, wenn ich euren Mut und eure Klugheit hätte." Die reichen drei Schwäger entgegneten: "So sprich doch endlich, was du tun würdest!" Hamed entgegnete: "Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich vor unseren Schwiegervater treten und sagen: ,Du hast deinen Töchtern anbefohlen, dir würdige Schwiegersöhne zu wählen und hast ihnen gesagt, sie sollten deine Familie vor Schande bewahren. Du hast seitdem



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verschiedentlich die Dienste deiner Schwiegersöhne in Anspruch genommen und kennst sie. So bitten wir dich denn, an einem Tage den, der sich als der würdigste erwiesen hat, als Lusir (Wesir, Stellvertreter) zu erwählen, die Unwürdigen aber, die deiner Familie Schande bereitet, zu verstoßen.' Ich weiß, daß ich mich damit in euren Augen selbst verurteile, ich ziehe es aber vor, aus der Stadt vertrieben, als meiner Armut wegen ständig verhöhnt zu werden." Damit ging Hamed von dannen. Seine Frau folgte ihm. Die reichen drei Schwiegersöhne blieben aber stehen und sagten untereinander: "Der schmutzige Hamed hat recht." Und dann verabredeten sie untereinander das Nähere.

Die reichen drei Schwiegersöhne suchten ihren Schwiegervater auf und sagten dem Kaid die Worte, die ihnen Hamed in den Mund gelegt hatte. Der Kaid war damit einverstanden und bezeichnete einen bestimmten Tag, an dem er wiederum ein Fest veranstalten wolle, das ihm Gelegenheit gebe, den würdigsten seiner Schwiegersöhne zu seinem Lusir zu ernennen, die aber, die seiner Familie Schande brächten, zu verstoßen. Die ganze Stadt sprach von dem großen Ereignis. Einige höhnten den Bettler Hamed, den morgen die Verbannung treffen würde, andere bemitleideten ihn. Alle aber lobten die reichen drei Schwiegersöhne und stritten sich nur darüber, welcher von diesen wohl vom Kaid als Würdigster zum Lusir ernannt werden würde. — Als sie abends schlafen gingen, fragte jede der drei ältesten Schwestern ihren Gatten, ob er auch sicher sei, morgen zum Lusir ernannt zu werden, und jeder versicherte, daß er dessen sicher sei.

Die jüngste Tochter des Kaid sprach mit ihrem Gatten nicht über die Angelegenheit. Sie legten sich nachts wie stets in der Djemaa nieder und schliefen ein. Nach zwei Stunden wachte die junge Frau aber auf und blickte in den Winkel, in dem ihr Gatte schlief. Nach einiger Zeit erhob sie sich vorsichtig und schlich hinüber. Sie hob das Lumpenkleid auf und sah, ob er noch das feingestickte Silbergewand darunter trug. Sie sah es. Sie nahm die häßliche Kuhmagenhaut und sah, ob das Haupt noch wie vordem in Gold strahle. Es war so. Nachdem sie das gesehen hatte, schlich sie sich wieder auf ihr Lager, legte sich nieder und schlief sogleich ein.

Am andern Tage versammelten sich alle angesehenen Leute beim Kaid, der die Ehrenplätze seinen drei reichen Schwiegersöhnen angewiesen hatte, während der Bettler, wie am Hochzeitstage, an der Tür saß. Die besten Gerichte wurden an der Tafel den Herren herumgereicht.



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Die reichen Schwiegersöhne aber verhöhnten den Schwager, indem sie untereinander sagten: "Wenn ihr irgendeinen Abfall im Essen findet, so sammelt ihn und laßt ihn dem Bettler an der Tür dort reichen. Er wird seit langem nichts so Gutes gegessen haben."

Nach dem Essen sprach der Kaid: "Ihr drei Schwiegersöhne, Männer meiner ältesten drei Töchter, habt mich gebeten, dies Fest zu veranstalten und heute den Würdigsten meiner Schwiegersöhne zu meinem Lusir zu erwählen, die aber, die meiner Familie Schande bereiten, zu verstoßen. Ist es so, oder ist es nicht so ?" Die reichen drei Schwiegersöhne sagten: "Es ist so." Der Kaid sagte: "Nun habt ihr drei Gatten meiner ältesten Töchter mir während der Zeit, seit ihr meine Schwiegersöhne seid, drei Geschenke als Heilmittel überbracht. Ich war krank und hatte zur Genesung einige der Apfel nötig, die jenseits der sieben Meere wachsen. Ihr zogt zu dreien aus. Wenn ich nicht irre, so warst du es, der Gatte der ältesten meiner vier Töchter, der mir die Äpfel überreichte." Der Gatte der ältesten Tochter des Kaids sagte: "So war es, ich habe die Äpfel geholt und sie dir gereicht."

Der Kaid sagte: "Ich ward wiederum krank und hatte zur Genesung einen Trunk des Wassers nötig, das jenseits der auf- und zuschlagenden Felsen entspringt. Ihr zogt zu dreien aus. Wenn ich nicht irre, so warst du es, der Gatte meiner zweiten unter meinen vier Töchtern, der mir den Trunk Wasser überreichte." Der Gatte der zweiten Tochter des Kaids sagte: "So war es, ich habe den Wassertrunk geholt und dir gereicht."

Der Kaid sagte: "Ich ward zum dritten Male krank und hatte zur Genesung die Milch einer Löwin, aufbewahrt im Balg eines ihrer Jungen, nötig. Ihr zogt zu dreien aus. Wenn ich nicht irre, so warst du es, der Gatte der dritten unter meinen vier Töchtern, der mir die Milch im Löwenbalg reichte." Der Gatte der dritten Tochter des Kaids sagte: "So war es, ich habe die Milch der Löwin im Balg ihres Jungen geholt und dir gereicht."

Der Kaid sagte: "Und nun habt ihr mit der Bitte um das heutige Fest wahrscheinlich gemeint, ich sollte als Würdigsten unter euch den auserwählen, der mir das Wertvollste unter diesen drei Sachen gereicht hat. Habe ich euch richtig verstanden ?" Die reichen drei Schwiegersöhne sagten: "Darum bitten wir dich." Der Kaid sagte: "Nach welchem Maßstab soll ich denn nun aber den verschiedenen Wert der drei Heilmittel, die ihr mir gereicht habt, abmessen?" Die reichen drei Schwiegersöhne schwiegen. Der Kaid wartete einige



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Zeit und sagte dann: "Ihr müßt euch in dieser Hinsicht doch einen Gedanken gemacht haben!" Die drei Schwiegersöhne schwiegen. Der Kaid wartete einige Zeit, dann wandte er sich an den ersten seiner reichen drei Schwiegersöhne und sagte: "Kannst du mir nichts hierauf sagen ?" Der erste schwieg. Der Kaid fragte den zweiten, der zweite schwieg. Der Kaid fragte den dritten, der dritte schwieg.

Der Kaid sagte: "Dies ist recht merkwürdig. Ihr bittet mich um ein Abmessen, wißt aber selber nicht, nach welchem Maße es geschehen soll. Ich meine doch, ihr alle seid Kaufleute und solltet doch wissen, daß es für jede Ware einen Wert wie ein Maß gibt. Es muß doch einer von meinen Schwiegersöhnen auf den Gedanken gekommen sein, mir die Bitte nach diesem Fest und solcher Preisverteilung zu unterbreiten, und dieser muß doch wenigstens einen Gedanken über Wert- und Maßabschätzung gehabt haben. Wer von euch dreien kam auf den Gedanken?" Wiederum schwiegen die drei reichen Schwiegersöhne. Alle aber, die zugegen waren, wechselten untereinander erstaunte Blicke.

Der Kaid schüttelte den Kopf und sagte: "Ist unter den Anwesenden jemand, welcher weiß, von wem der Gedanke zu diesem Feste und zu dieser Ehrenauszeichnung ausgegangen ist?" Alles schwieg und schaute umher.

Da erhob sich der Bettler, Hamed bul kerscha, der vierte Schwiegersohn des Kaids, und sagte: "Den Rat gab ich." Der Kaid blickte erstaunt auf den Bettler und sagte: "Was? Du gabst den Rat, daß ich heute den Würdigsten unter meinen Schwiegersöhnen zu meinem Lusir erwählen und die, die meiner Familie Schande bringen, verstoßen soll?" Hamed sagte: "So ist es." Der Kaid fragte die reichen drei Schwiegersöhne: "Bestreitet ihr das ?" Die reichen drei Schwiegersöhne schwiegen.

Der Kaid wandte sich wieder an Hamed und sagte: "Wenn der Gedanke von dir ausging, so mußt du auch einen Vorschlag machen können, nach welchem Wertmaßstab ich die mir von meinen ersten drei Schwiegersöhnen gereichten Gaben abmessen kann!" Hamed sagte: "Einen solchen Vorschlag kann ich machen, und ich bin erstaunt, daß meine drei Schwäger nicht das gleiche können, denn mein Vorschlag entspricht ihrem, nicht aber meinem Berufe." Der Kaid sagte: "So sage deine Meinung." Hamed sagte: "Meine drei Schwäger sind Kaufleute. Sie haben als solche klug und mutig gehandelt, — so klug und mutig, wie das bei Söhnen reicher Kaufleute Sitte ist. Sie haben die Äpfel, das Wasser und die Löwin nicht gekauft.



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Sie haben für die Äpfel drei ihrer Ohren, für das Wasser drei ihrer Finger und für die Löwenmilch drei ihrer Zehen bezahlt. Wenn man feststellen will, welches der drei Heilmittel an Wert das erste, an Wert das zweite und an Wert das dritte ist, braucht man nur zu entscheiden, ob drei Ohren, drei Finger oder drei Zehen wertvoller sind."

Wütend sprangen die drei reichen Schwäger auf und riefen: "Er lügt! Wir haben die Heilmittel im Kampf gewonnen! Er soll uns doch den Mann nennen oder zeigen, von dem wir die Heilmittel gekauft haben!"Hamed wandte sich an den Kaid und fragte: "Wünscht du auch den Mann kennenzulernen, von dem deine reichen drei Schwiegersöhne ihre Heilmittel für Ohren, Finger und Zehen gekauft haben?" Der Kaid sagte: "Ja, das wünsche ich."

Hamed bul kerscha warf die Lumpen zur Seite und stand da in rotem Kleide, das mit Silber gestickt war. Er warf die Haut aus Kuhmagen vom Kopfe, und sein goldenes Haupt leuchtete über alle Anwesenden hin. Er zog aus seiner Tasche drei Ohren und sagte: "Das ist die Bezahlung, die sie mir für Beschaffung der Äpfel aus dem Lande der sieben Meere gegeben haben. Ich aber habe mich von einem Adler zu jenem Lande hin und von dort wieder zurücktragen lassen. Seht, ob die drei Ohren passen." Die Anwesenden rissen den reichen drei Schwiegersöhnen die Mützen vom Kopfe, und alle Welt sah deren Schande.

Hamed zog aus der Tasche die drei Finger, warf sie hin und sagte: "Das ist die Bezahlung, die sie mir für die Beschaffung des Trunkes aus der Quelle jenseits der auf- und zuschlagenden Felsen gegeben haben. Ich aber bin zwischen diesen Felsen hin- und zurückgeritten. Seht, ob die drei Finger passen." Die Anwesenden preßten den reichen drei Schwiegersöhnen die geballten Fäuste auseinander, und alle Anwesenden sahen deren Schande.

Hamed zog aus der Tasche die drei Zehen, warf sie hin und sagte: "Das ist die Bezahlung, die sie mir für die Beschaffung der Milch der Löwin im Balg eines ihrer Jungen gegeben haben. Ich aber habe das Kind der Löwin abgebalgt, habe den Kopf der zornigen Löwin mit der einen Hand niedergedrückt und die Milch gemolken. Seht, ob die drei Zehen passen." Die Anwesenden rissen den reichen drei Schwiegersöhnen die Schuhe von den Füßen, und alle Anwesenden sahen deren Schande.

Der Kaid fragte die Anwesenden: "Glaubt jemand, daß es schwer ist, hier zu entscheiden?" Alle Anwesenden riefen: "Hamed ist ein



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lsoar-urgess (Held, mutiger, starker Mann; Plur. so[e]renirgesen), ein Held. Er ist dein würdigster Schwiegersohn. Die andern drei aber haben deiner Familie Schande bereitet."

Der Kaid rief seine jüngste Tochter, führte sie in seine Kammer, küßte sie und sprach: "Du, meine Tochter, hast meinen Wunsch am besten verstanden."Inzwischen drehte Hamed seinen Ring, wünschte sich ein prächtiges Haus, und in dem lebte er dann mit seiner Gattin als Lusir (Wesir) des Kaids. — Die drei reichen Schwiegersöhne verloren alle Achtung in den Augen der Leute, weil sie sich nicht als echte Kaufleute, die sie waren, sondern als Helden ausgegeben hatten. Ihre Frauen gingen nach einiger Zeit von ihnen und wurden die Gattinnen anderer ordentlicher Leute.


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