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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


42. Der mißachtete Kabylensohn

Ein Achim (=Häuptling; Fürst) hatte drei Frauen. Seine erste und zweite Frau waren Araberinnen. Seine dritte Frau war eine Kabylin. Jede der drei Frauen hatte ein Kind. Die drei Kinder waren Knaben und gleich alt. Als die Knaben klein waren, lebten sie in Freundschaft und Liebe. Als sie aber große Burschen geworden waren, begannen die Söhne der Araberinnen den Sohn der Kabylin zu mißhandeln. Der Sohn der Kabylin wurde mißachtet. Er litt sehr. Der mißachtete Sohn war sehr unglücklich.

Eines Tages kam der mißachtete Sohn zu seinem Vater und bat ihn: "Mein Vater, laß mich von hier weg eine Wanderung unternehmen." Der Achnim sagte: "Mein Sohn, du bist noch zu jung; bleibe noch bei mir." Der mißachtete Sohn sagte: "Wenn ich hier bleiben muß, werde ich eines Tages sterben." Er bat den Vater so lange, bis dieser ihm die Erlaubnis gab. Als die beiden Söhne der Araberinnen hörten, daß der Vater dem mißachteten Sohne die Erlaubnis, von dannen auf die Wanderung zu gehen, gegeben hatte, baten sie auch darum. Der Vater wollte zunächst nicht einwilligen, dann aber stimmte er zu.

Die drei Söhne bereiteten ihre Wanderung vor. Die Mütter kochten ihnen Essen. Sie nahmen von ihren Müttern Abschied. Sie gingen zu ihrem Vater. Der Vater sagte zu ihnen: "Hier nehmt dies Gold mit euch. Wandert nun, wohin ihr wollt. Nur in dem Goldwald (atherar-d'd€b) und dem Silberwald (atherar alfed'ha) verbiete ich euch, zu übernachten. Dies Geheimnis ist nicht unseres und muß bewahrt werden. Ich glaube nicht, daß ihr stark genug seid, uni aus dem Goldwald und dem Silberwald lebend wieder herauszukommen. Versprecht mir (schwört mir), daß ihr dieses Verbot halten wollt." Die drei Söhne versprachen es, und der Vater ließ sie gehen.



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Die drei Burschen wanderten weit fort. Sie kamen aber eines Tages in den Goldwald. Ehe sie ihn aber durchzogen hatten, wurde es Nacht. Die beiden Söhne der Araberinnen fürchteten sich, in der Nacht noch weiterzuwandern. Sie sagten: "Kommt, laßt uns hier niederlegen und schlafen." Der mißachtete Sohn der Kabylin sagte aber: "Wir haben unserem Vater versprochen, im Goldwald nicht zu übernachten. Kommt, wir wollen weitergehen!" Die Söhne der beiden Araberinnen aber zwangen den mißachteten Bruder, auch im Wald zu bleiben und zu übernachten.

Die Söhne der Araberinnen schlugen ein Zelt für sich, der Sohn der Kabylin auch eines für sich auf. Sie legten sich zum Schlafen nieder. Als es Mitternacht war, kam Lephsa (der Drache) durch den Wald. Er brüllte und schrie. Die beiden Söhne der Araberinnen fürchteten sich und versteckten sich in ihrem Zelte hinter dem Gepäck. Der mißachtete Bruder nahm seinen Säbel und trat aus dem Zelte. Lephsa kam. Lephsa kam auf den mißachteten Sohn zu. Der mißachtete Sohn ergriff seinen Säbel und schlug Lephsa den Kopf ab. Lephsa starb. Der mißachtete Sohn ging wieder in sein Zelt und schlief.

Am andern Morgen traten die Söhne der Araberinnen aus ihrem Zelt. Sie sahen den toten Drachen. Sie gingen zum Zelt des mißachteten Bruders und sagten: "Komm heraus und sieh, was wir diese Nacht getötet haben." Der mißachtete Bruder trat heraus. Er sah den Drachen, den er getötet hatte und sagte: "Ja, ihr seid meine starken Brüder. Ich stehe unter eurem Schutze. Ihr habt mir das Leben gerettet." Die Brüder packten ihre Sachen auf die Tiere und zogen weiter.

Am andern Tage kamen sie in den Silberwald. Ehe sie ihn aber durchwandert hatten, wurde es Nacht. Die beiden Söhne der Araberinnen fürchteten sich wieder, in der Nacht noch weiterzuwandern. Sie sagten: "Kommt, laßt uns hier niederlegen und schlafen." Der mißachtete Sohn der Kabylin sagte aber wieder: "Wir haben unserem Vater versprochen, im Silberwald nicht zu übernachten. Kommt, wir wollen weitergehen!" Die Söhne der beiden Araberinnen aber zwangen den mißachteten Bruder, auch im Silberwald zu bleiben und zu übernachten.

Die Söhne der Araberinnen schlugen ein Zelt für sich, der Sohn der Kabylin auch eines für sich auf. Sie legten sich zum Schlafen nieder. Als es Mitternacht war, kam wieder ein Drache durch den Wald. Er brüllte und schrie. Die beiden Söhne der Araberinnen



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fürchteten sich noch mehr als das erstemal und versteckten sich hinter dem Gepäck. Der mißachtete Bruder nahm aber seinen Säbel und trat aus dem Zelte. Lephsa kam. Lephsa kam auf den mißachteten Sohn zu. Der mißachtete Sohn ergriff seinen Säbel und schlug Lephsa den Kopf ab. Lephsa starb. Der mißachtete Sohn sah um sich.

Als er sich umwandte, sah der Mißachtete in der Entfernung ein Licht. Er ging auf das Licht zu. Je näher er kam, desto mehr erstrahlte das Licht. Er kam näher und sah, daß das Licht von einem Mädchen ausging. Das Mädchen war gekleidet in seine lang herabhängenden Haare. Es war so schön, daß es ein großes Licht um sich verbreitete. Das Mädchen sah den Mißachteten, winkte ihm und sagte: "Komm, du sollst mein Mann werden. Denn ich soll den heiraten, der den Drachen tötet. Du hast mich befreit." Der mißachtete Sohn der Kabylin sagte: "Ja, ich werde dich heiraten. Bleib aber noch hier. Ich hole dich. Behalte meinen Schuh (als Pfand)." Der mißachtete Bursche zog seinen Schuh aus und gab ihn dem schönen Mädchen. Der Schuh des Burschen war aber so klein, daß ihn kein anderer Mann über den Fuß bringen konnte. — Dann kehrte der mißachtete Sohn der Kabylin wieder in sein Zelt zurück, legte sich nieder und schlief bald darauf ein.

Am andern Morgen traten die zwei Söhne der Araberinnen wieder aus ihrem Zelt. Sie sahen den toten Drachen. Sie gingen zum Zelt des mißachteten Bruders und sagten: "Komm heraus und sieh, was wir diese Nacht getötet haben." Der mißachtete Bruder trat heraus. Er sah den Drachen, den er getötet hatte und sagte: "Ja, ihr seid meine starken Brüder. Ich stehe unter eurem Schutz. Ihr habt mir das Leben gerettet." — Die drei Brüder packten ihre Sachen auf die Tiere und zogen weiter.

Sie kamen aus dem Silberwald. Sie waren noch ein Stück weitergekommen, da sagte der mißachtete Sohn der Kabylin: "A-zurr! (Ausruf wie hallo!) Ich habe meinen einen Schuh vergessen, wir müssen zurückkehren." Die zwei Brüder sagten: "Du wirst doch wegen eines Schuhes nicht in den Wald des Drachen zurückkehren wollen! Komm mit bis zum nächsten Markt, da werden wir dir einen neuen Schuh kaufen!" Der mißachtete Sohn sagte: "Nachher werdet ihr zu unserem Vater sagen: ,Unser Bruder hat seinen Schuh vergessen; wir mußten ihm neue Schuhe auf dem Markt kaufen!' So werdet ihr sagen und spotten. Das will ich nicht. Lieber kehre ich zurück. Wandert ihr nur weiter." Damit machte der mißachtete Sohn kehrt und ritt in den Silberwald zurück.



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Er ritt in den Silberwald. Er ritt im Silberwald hin, bis er zu dem Schönen Mädchen kam. Er nahm das schöne Mädchen mit auf das Pferd und ritt mit ihm wieder aus dem Silberwald heraus. Sie ritten Weit fort. Als es Mittag war, wurde es sehr heiß. Sie kamen an einen Baum. Sie stiegen an dem Baume ab. Sie legten ihre Oberkleider ab Und setzten sich in den Schatten. Das schöne Mädchen hatte einen herrlichen Schmuck. Sie zeigte ihn dem Burschen. Der Bursche betrachtete den Schmuck. Das Mädchen war vom Reiten und von der Sonne müde und schlief ein. Der Bursche betrachtete den Schmuck. Auf dem Baume saß ein Rabe (tajarpha). Der Rabe sah den Schmuck. Als der Bursche den Schmuck auf der flachen Hand in die Sonne hielt, flog der Rabe herab und riß dem Burschen den Schmuck aus der Hand. Der Rabe flog mit dem Schmuck davon.

Der Bursche erschrak darüber, daß der Schmuck des schönen Mädchens so abhanden kommen könne. Der Bursche sprang auf und rannte dem Raben nach. Der Rabe flog auf einen entfernten Baum. Der Bursche folgte. Als der Bursche an den Baum kam, flog der Rabe auf und weiter und der Bursche immer hinterher, so daß er nicht mehr wußte, wo er war. Er rannte immer weiter dem Raben nach. Er lief Tag und Nacht dem Raben und dem gestohlenen Schmuck nach.

Das schöne Mädchen wachte inzwischen auf. Sie sah sich nach dem Burschen um. Der Bursche war weggelaufen. Sie sah nach dem Schmuck. Der Schmuck war nicht mehr da. Das schöne Mädchen sagte: "Hier ist ein Unglück geschehen. Der Bursche wird eines Tages aber wiederkommen. So lange will ich die Reise fortsetzen." Das schöne Mädchen zog die Oberkleider, die der Bursche bei seinem Weglaufen liegen gelassen hatte, an. Sie verkleidete sich als Mann. Sie bestieg das Pferd und ritt weiter.

Nachdem sie ein weites Stück geritten war, kam das verkleidete Mädchen in einen Ort, in dem waren die Menschen von allen Seiten zusammengekommen und liefen aufgeregt umher. Das verkleidete Mädchen fragte ein Kind: "Was gibt es hier?" Das Kind sagte: "Hier ist ein Mann, der ein Verbrechen beging und nun vom Chranim (Richter) abgeurteilt werden soll." Das verkleidete Mädchen sagte zu dem Kind: "Willst du mir nicht den Weg zum Chranim zeigen?" Das Kind sagte: "Das will ich sehr gerne tun." Das Kind brachte das verkleidete Mädchen zu dem Richter.

Der Richter war erstaunt über die Schönheit des jungen Mannes. Der Richter stand auf, ging auf das verkleidete junge Mädchen zu



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und sagte: "Sei gegrüßt! Sei gegrüßt! Fremder, was kann ich für dich tun? Das verkleidete Mädchen sagte: "Erzähle mir, was hier geschehen ist." Der Richter sagte: "Ein Mann hat einen anderen getötet. Nun soll er wieder getötet werden." Das verkleidete Mädchen sagte: "Schenke mir sein Leben!" Der Richter sagte: "Ich kann es dir nicht abschlagen. Du sollst sein Leben haben." Die Leute hörten es auf der Straße. Die Leute jubelten. Sie schrien vor Freude. Andere Leute kamen dazu. Die anderen Leute fragten: "Was ist?" Die jubelnden Leute sagten: "Das Recht ändert sich. Ein Töter wird nicht wieder getötet. Die Güte waltet." Die Hinzugekommenen fragten: "Wer hat das erreicht?" Die jubelnden Leute sagten: "Der schöne Jüngling, der soeben angekommen ist, hat das erreicht." Am andern Tage kam das Volk zu dem Chranim und bat ihn: "Mache den schönen Jüngling, der gestern angekommen ist, zu deinem Nachfolger!" Der Richter tat es.

So wurde das schöne verkleidete Mädchen zum Nachfolger des Richters.

Eines Tages ging das verkleidete Mädchen hin und badete. Die Tochter des Richters sah zum Fenster hinaus. Als das verkleidete Mädchen sein Oberkleid abgelegt hatte, strahlte es vor Schönheit. Die Tochter des Richters sah es. Die Tochter des Richters ging zu ihrer Mutter und sagte: "Meine Mutter; ich habe etwas so Schönes gesehen, daß ich erschrocken bin. Ich habe den jungen Mann gesehen, den mein Vater zu seinem Nachfolger gemacht hat. Er ist schön wie ein Stern (itheri). Ihn muß ich zum Mann haben." Die Mutter sagte: "Beruhige dich!" Das Mädchen legte sich aber nieder und bekam das Fieber (thaula). Sie stöhnte: "Meine Mutter, ich muß den Mann heiraten!" Die Mutter sagte: "Das ist so nicht angängig! Wer kennt diesen Mann? Er ist erst seit wenigen Tagen bei uns." Die Tochter sagte: "Ich will diesen Mann heiraten! Ich muß diesen Mann heiraten! Ich werde diesen Mann heiraten!"

Die Mutter des Mädchens ging zum Richter und sagte: "Deine Tochter hat deinen Nachfolger (luorth) gesehen. Sie sagt, er wäre ein Mann, so schön, daß Licht von ihm ausgehe. Deine Tochter wünscht diesen Mann zu heiraten." Der Richter sagte: "Ich werde mit dem jungen Mann sprechen. Der Richter rief den jungen schönen Mann und fragte ihn: "Willst du meine Tochter heiraten?" Das verkleidete Mädchen sagte: "Ich bin soeben erst angekommen! Wie wäre es möglich, daß ich deine Tochter heirate, wo mich niemand hier kennt!" Der Richter sagte: "Du hast unrecht! Ich habe



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großes Vertrauen zu dir! Ich gebe dir meine Tochter zur Frau, Wenn du sie annimmst." Das verkleidete Mädchen mußte zustimmen. Der Richter sagte der Mutter, daß seine Tochter den jungen Schönen Mann heiraten könne. Die Mutter sagte es der Tochter. Die Tochter sprach: "Wir wollen das Fest bald veranstalten." Die Tochter drängte zur Hochzeit.

Die Hochzeit wurde gefeiert. Als die verkleidete Jungfrau in der Nacht in die Kammer kam, in der die Tochter des Richters auf ihn Wartete, begann sie zu beten. Sie hörte mit Beten nicht auf bis zum nächsten Morgen. Die Tochter des Richters lag auf ihrem Lager und Wartete, daß der junge schöne Mann zu ihr kommen würde. Das verkleidete Mädchen betete aber bis zum anderen Morgen. Die Tochter des Richters fieberte vor Erregung. Das verkleidete Mädchen betete. Am andern Morgen war die Tochter des Richters tief betrübt. Sie ging zu ihrer Mutter und sagte: "Mein Mann hat die ganze Nacht gebetet und sich nicht nach mir umgesehen." Die Mutter sagte: "Warte die nächste Nacht ab."

Als die zweite Nacht heranbrach, trat das verkleidete Mädchen wieder in die Kammer der Tochter des Richters und begann zu beten. Die Tochter des Richters lag auf ihrem Lager und harrte des Gatten. Das verkleidete Mädchen betete. Da sagte die Tochter des Richters: "Höre, mein Gatte! Bete nicht bis zum nächsten Morgen. Ich bedarf deiner." Da begann das verkleidete Mädchen zu weinen und sagte: "Lekoin! (Ausruf.) Ich bin ja ein Mädchen (zachschisch) wie du. Aber ich bitte dich, wahre mein Geheimnis!" Das verkleidete Mädchen erzählte der Tochter des Richters alles, wie es sich begeben hatte. Das verkleidete Mädchen sagte: "Wenn mein Mann heimkehrt, wird er uns alle beide heiraten." Die Tochter des Richters sagte: "Es ist mir recht so! Die Tochter des Richters sagte am andern Tage nichts von dem, was sie gehört hatte. Sie sagte zur Mutter nur: "Jetzt ist alles in Ordnung!"

Inzwischen lief der Bursche immer weiter hinter dem Raben mit dem gestohlenen Schmuckstück her. Zuletzt verlor er den Raben aus den Augen. Er kam nun in eine Stadt (thanedint) , in der er niemand kannte. Er fragte nach Arbeit. Er fand einen Juden (uthä[i]), der gab ihm Arbeit. Er bearbeitete die Felder des Juden. Eines Tages bearbeitete er den Acker des Juden mit einer Hacke (ageithim) und warf die Erde um. Da entdeckte er einen Topf mit Gold. Er brachte den Topf mit dem Golde zu dem Inhaber des Ackers, dem Juden, und sagte: "Hier diesen Topf voll Gold habe



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ich auf deinem Acker gefunden." Der Jude sagte: "Ich will diesen Topf mit Gold nicht haben. Gott hat ihn dir gegeben. Ich habe im vorigen Jahre den Acker an derselben Stelle umgeworfen und den Topf mit Gold nicht gefunden. Also kann er erst kürzlich hingestellt sein. Nimm das Gold (d'eheb) und werde damit glücklich." Da nahm der Bursche das Gold und verließ damit die Stadt.

Der Bursche zog mit dem Golde weiter. Er kam an einen Ort am Meere. Er ging auf ein Schiff und stellte seinen Topf mit Gold darauf. Er schrieb seinen Namen auf den Topf und sagte zu dem Schiffseigentümer: "Bewahre ihn. Ich gehe noch einmal an das Land und komme sogleich wieder." Dann ging er noch einmal an das Land. Das Schiff fuhr aber ab und war in zwei Monaten nicht zurück zu erwarten. Als der Bursche wieder an das Ufer kam, war das Schiff abgefahren und er mußte zu Fuß gehen. Der Bursche wanderte also zu Fuß weiter.

Das Schiff mit dem Goldtopf des Burschen kam inzwischen zu dem Hafen und der Stadt, in der das verkleidete Mädchen als Nachfolger des Richters lebte. Das verkleidete Mädchen aber ging jedesmal, wenn ein Schiff ankam, an das Ufer und untersuchte das Schiff. Als das verkleidete Mädchen das Schiff, auf dem der Goldtopf des Burschen stand, betrat, sah es diesen und die darauf gezeichneten Schriftzeichen (lah(e)-thaib). Das verkleidete Mädchen erkannte den Namen ihres Gatten. Sie fragte den Schiffsführer: "Wo ist der Mann, dem dieser Topf gehört?" Der Schiffsführer sagte: "Der Mann, der den Topf in mein Schiff stellte, ging vor der Abreise nochmals an Land und wir fuhren ab, ehe er zurückkam." Da befahl das verkleidete Mädchen im Namen des Richters dem Schiffsführer, sogleich noch einmal zurückzufahren. Der Schiffsführer tat es. Er kam zu der Stadt zurück, von der er ausgefahren war. Der Bursche war aber inzwischen zu Fuß weitergewandert und nicht mehr zu erreichen.

Inzwischen wanderte der Bursche zu Fuß weiter. Er kam zu einer Stadt, in der regierte ein Chranem, der eine Tochter besaß. Der Chranem hatte einen großen Garten, in dem stand ein großer Baum. Jeder, der sich um die Tochter des Chranem bewarb, erhielt von dem Chranem eine Axt (aschakör oder aschachor) und den Befehl, diesen Baum umzuschlagen. Der Chranem sagte dazu: "Entweder es gelingt dir, den Baum umzuschlagen und dann erhältst du meine Tochter zur Frau, oder es gelingt dir nicht und ich töte dich."Bis jetzt war es noch keinem Bewerber um die Tochter des Chranem



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gelungen, den Baum zu fällen, und sie waren noch alle getötet Worden. Denn der Baum richtete sich nach jedem vierten Schlage Wieder auf.

Der Bursche kam in den Garten des Chranem und sah den Baum. Er sah auf dem Baum das Nest eines Raben. Der Rabe saß daneben. Der Bursche erkannte den Raben. Es war der Rabe, der ihm den Schmuck des schönen Mädchens gestohlen hatte. Der Bursche sprach zu den Leuten: "Kann man den Baum umschlagen?" Die Leute sagten: "Wenn du den Baum umschlägst, gibt dir der Chranem seine Tochter zur Frau. Bewirb dich also um sie. Wir warnen dich aber, denn nach jedem vierten Schlage richtet der Baum sich wieder auf. Und wenn es dir nicht gelingt den Baum umzuschlagen, wird der Chranem dich töten." Der Bursche ging darauf zum Chranem und sagte: "Ich will den Baum umschlagen." Der Chranem gab ihm die Axt und sagte: "Nimm die Axt. Wenn es dir gelingt, erhältst du meine Tochter zur Frau, gelingt es dir nicht, werde ich dich töten."

Der Bursche sagte: "Ich werde den Baum mit drei Hieben fällen." Der Bursche nahm die Axt und ging in den Garten. Der Chranem und seine Leute folgten ihm. Der Chranem wußte, daß der Baum mit drei Schlägen zu fällen war, nicht aber mit zehn. —Der Bursche setzte die Axt an. Der Bursche führte drei starke Hiebe. Der Baum wankte. Da packte der Bursche den Baum mit den Händen und brach das Letzte mit einem Griff durch. Der Baum stürzte. Der Rabe flog auf und davon. Der Bursche sprang auf das Nest zu. Er fand darin den Schmuck. Er nahm den Schmuck an sich. Der Chranem sagte zu dem Burschen: "Ich will dir meine Tochter zur Frau geben, denn du hast den Baum gefällt." Der Bursche sagte: "Ich will deine Tochter nicht; ich habe nur des Rabennestes wegen den Baum gefällt. Ich suchte mein Schmuckstück, das der Rabe mir gestohlen hatte. Ich habe es in dem Nest gefunden. Deine Tochter ist mir gleichgültig." Der Bursche nahm Abschied und ging weiter.

Der Bursche ging sehr weit. Er war bestaubt und schmutzig und seine Kleider waren zerrissen. Der Bursche kam in die Stadt, in der seine schöne, junge Frau in Verkleidung lebte und der Nachfolger des Richters war. Der Bursche ging auf den Tajemait (Männerplatz). Der Bursche saß da. Das verkleidete Mädchen war auch da. Der Bursche fragte: "Wo kann ich hier baden ?" Das verkleidete Mädchen erkannte seine Stimme und sagte zu dem Inhaber eines Bades: "Führe den Mann in dein Bad. Wenn er gebadet hat,



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bringe ihn zu mir." Der Inhaber des Bades nahm den Burschen mit sich. Er führte den Burschen in sein Bad. Der Bursche legte seine Kleider ab und badete. Während er badete, untersuchte der Inhaber des Bades die Kleider des Burschen und fand den Schmuck. Er nahm den Schmuck heraus und versteckte ihn.

Nachdem der Bursche gebadet hatte, kleidete er sich wieder an. Er griff in die Tasche seiner Kleider, um nach dem Schmuck zu suchen. Der Schmuck war nicht mehr in dem Kleide. Der Bursche sagte zu dem Inhaber des Bades: "Du hast mir meinen Schmuck genommen, gib mir meinen Schmuck wieder." Der Inhaber des Bades sagte: "Wie kannst du mir solches vorwerfen? Ein Bettler wie du, stiehlt, aber wird nicht bestohlen. Wer von uns beiden ist es, der bestohlen werden kann, ich, der reiche Inhaber des Bades, oder du, der nichts hat?" Der Bursche sagte: "Gib mir meinen Schmuck, oder ich gehe zum Richter." Der Inhaber des Bades sagte: "So geh doch zum Richter! Sieh, ob man dir glaubt. Wenn du aber vernünftig sein willst, so schenke ich dir ein neues Kleid. Das ist für dich besser als ein Schmuck, an dem du kein Recht hast." Der Bursche sagte: "Ich will meinen Schmuck." Der Inhaber des Bades sagte: "Sei kein Narr und nimm das Kleid."

Der Bursche sagte: "So werde ich zum Richter gehen." Der Inhaber des Bades sagte: "Du wirst nicht zum Richter gehen. Der Nachfolger hat befohlen, daß ich dich nach dem Bade zu ihm bringe, und was der Nachfolger sagt, muß geschehen." Der Bursche sagte: "Gut, so führe mich zum Nachfolger." Der Inhaber sagte: "Zieh aber das neue Kleid an. In dem alten Fetzen kannst du nicht zu dem Nachfolger gehen." Der Bursche sagte: "Ich will dein neues Kleid nicht; ich will meinen Schmuck. Nun bringe mich in meinem alten Kleid zum Nachfolger." Der Inhaber des Bades sagte: "So komm!"

Der Inhaber des Bades brachte den Burschen zu dem Nachfolger. Das verkleidete Mädchen sah den Burschen und wußte nun, daß es ihr Mann war. Der Bursche sagte: "Der Inhaber des Bades hat mir, während ich badete, aus meinem Kleid einen Schmuck genommen und will mir dafür ein Kleid geben. Ich aber will meinen Schmuck wiederhaben und kein neues Kleid, denn der Schmuck gehört nicht mir. Wenn der Inhaber des Bades nicht sogleich meinen Schmuck hierher bringt, so werde ich das machen, was mein Vater einmal tat, als man ihm seinen Esel unterwegs stahl." Der Inhaber des Bades wurde von Angst befallen. Er sagte: "Ich habe einen Schmuck



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und werde ihn bringen, er gehört aber nicht dem Burschen." Das verkleidete Mädchen sagte: "So bringe den Schmuck her." Der Inhaber des Bades ging, holte den Schmuck und gab ihn dem Nachfolger.

Das verkleidete Mädchen betrachtete den Schmuck. Es sah, daß es ihr Schmuck war. Das verkleidete Mädchen sagte zu dem Inhaber des Bades: "Wenn der Schmuck nicht dem Burschen hier gehört, So sage mir, wo du ihn her hast." Der Inhaber des Bades sagte:: ',Ich habe ihn von meinem Vater geerbt." Das verkleidete Mädchen Sagte zu dem Burschen: "Wenn der Schmuck nicht dem Inhaber des Bades gehört, so sage mir, wo du ihn her hast." Der Bursche Sagte: "Das ist eine lange Geschichte." Das verkleidete Mädchen Sagte: "So erzähle die Geschichte." Der Bursche erzählte die ganze Geschichte. Als der Bursche die Geschichte zu Ende erzählt hatte, fragte das verkleidete Mädchen den Inhaber des Bades: "Was sagst du hierzu?" Der Inhaber des Bades sagte: "Der Bursche lügt." Das verkleidete Mädchen sagte: "Was soll ich nun dem tun, der hier lügt?" Der Inhaber des Bades sagte: "Weise ihn aus dem Lande." Das verkleidete Mädchen sagte: "Den Schmuck nehme ich zunächst an mich. Morgen wird der Nachfolger zu Gericht sitzen. Der Inhaber des Bades mag nach Hause gehen. Den Burschen hier will ich eingeschlossen halten, daß er uns nicht entrinne." — Der Bursche wurde gefangen gesetzt.

Als der Bursche eingeschlossen war, kam das verkleidete Mädchen zu ihm und sagte: "Wenn dir der Schmuck gehört, will ich ihn dir abkaufen, was willst du dafür haben ?" Der Bursche sagte: "Der Schmuck gehört nicht mir, er gehört meiner Frau. Ich kann ihn dir nicht verkaufen." Das verkleidete Mädchen drang in ihn. Der Bursche gab das Recht am Schmuck nicht fort. Das verkleidete Mädchen sagte: "Heute abend wirst du die Folgen deiner Starrheit sehen." Das verkleidete Mädchen ging. Das verkleidete Mädchen ging zu der Tochter des Chranem und sagte: "Freue dich, unser Gatte ist angekommen."

Als es Abend war, wurde dem Burschen ein neues Kleid gebracht. Er zog es an. Der Bursche wurde in das Haus des Nachfolgers geführt. Er kam in das Schlafgemach, in dem viele Öllampen (meswah) brannten. Es war ein starker Glanz. ,Der Bursche sagte: "Wo bringt ihr mich hin? Das ist die Wohnung einer Frau."Das verkleidete Mädchen hatte die Kleider angelegt, die der Bursche damals zurückließ, als er dem Raben nachlief. Das verkleidete Mädchen hatte den



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Schmuck angelegt, den der Rabe gestohlen hatte. Das verkleidete Mädchen sagte: "Kennst du diese Kleider nicht?" Der Bursche erkannte die Kleider. Der Bursche erkannte das Mädchen. Der Bursche umfaßte das Mädchen. Das schöne Mädchen sagte: "Du hast noch eine zweite Frau." Sie führte ihm die Tochter des Richters zu.

Am andern Tage saß der Bursche als Nachfolger zu Gericht. Er ließ den Inhaber des Bades vorführen. Er sagte zu ihm: "Hast du einen Zeugen dafür, daß der Schmuck dir gehört?" Der Inhaber des Bades sagte: "Ich habe keinen Zeugen." Der Bursche sagte: "Hier aber ist ein Zeuge dafür, daß die Geschichte mit dem Raben wahr ist und der Schmuck der Frau des Burschen gehört." Der Bursche ließ seine schöne Frau sprechen. Der Bursche sagte dann: "Du hast selbst gesagt, was mit dem geschehen soll, der in der Sache gelogen hat. Er soll aus dem Lande gewiesen werden."

Am Abend sagte die junge schöne Frau zu ihrem Mann, dem Burschen: "Sage mir doch, was dein Vater tat, als ihm unterwegs einmal der Esel gestohlen wurde!" Der Bursche sagte: "Er ging zu Fuß weiter."


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