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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

UBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 2

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM FROMMEN HIRTEN

Einst lebte auf einem Berge ein Hirte; der war ein frommer, verständiger und keuscher Mann. Er hatte Herden von Schafen und Ziegen, die er hütete und durch deren Milch und Wolle er seinen Unterhalt gewann. Jener Berg aber, auf dem der Hirte zu Hause war, hatte viele Bäume, Weideplätze und Raubtiere; doch jene wilden Tiere konnten weder dem Hirten noch seinen Herden etwas zuleide tun. So lebte er denn immerdar in Sicherheit auf seinem Berge, und die Dinge dieser Welt kümmerten ihn nicht, da er glückselig war und sich seinem Gebete und seinem Gottesdienste widmete. Nun fügte es Allah, daß er in eine heftige Krankheit verfiel; da zog der Gottesmann sich



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in die Höhle des Berges zurück, die Herden aber gingen bei Tage allein auf ihre Weide und kehrten am Abend zu der Höhle heim. Und weiter wollte Allah der Erhabene den Hirten prüfen und seinen Gehorsam und seine Standhaftigkeit auf die Probe stellen; darum schickte er einen Engel zu ihm. Der Engel trat in der Gestalt einer schönen Frau zu ihm ein und setzte sich vor ihm nieder. Als nun der Hirte diese Frau bei sich sitzen sah. erschauerte er vor ihr am ganzen Leibe und rief ihr zu: ,O du Weib, was ist's, das dich getrieben hat, hierher zu kommen? Ich habe doch kein Verlangen nach dir, und zwischen mir und dir ist nichts, das dich nötigt, bei mir einzutreten!' Da gab sie ihm zur Antwort: ,O du Mann, siehst du nicht meine Schönheit und Anmut, spürst du nicht meinen süßen Dufte Weißt du nicht, daß die Frauen der Männer bedürfen, gleichwie die Männer der Frauen? Was ist es denn, das dich von mir zurückhält? Ich habe es mir doch gewünscht, dir nahe zu sein; ich habe die Gemeinschaft mit dir ersehnt, und ich bin zu dir gekommen, dir zu gehorchen und mich dir nicht zu versagen! Es ist ja auch niemand bei uns, den wir zu fürchten brauchten; so will ich denn bei dir bleiben, solange du auf diesem Berge verweilst, und dir eine traute Gefährtin sein. Ich selbst biete mich dir an, weil du der weiblichen Dienste bedarfst; und wenn du mir beiwohnst, so wird deine Krankheit von dir weichen, deine Gesundheit wird wieder zu dir zurückkehren, und du wirst es bereuen, daß dir bisher in deinem Leben so viel vom Verkehr mit den Frauen entgangen ist. Fürwahr, ich gebe dir einen guten Rat; nimm ihn an und nahe dich mir!' ,Hebe dich hinweg von mir,' sprach der Hirte, ,o du tückisches, trügerisches Weib; ich traue dir nicht, und ich will dir nicht nahen. Ich trage kein Verlangen nach deiner Nähe und deinem Umgang; denn wer dich begehrt, entsagt dem Jenseits, doch wer das Jenseits



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begehrt, entsagt dir; ja, du hast die Männer zu allen Zeiten verführt. Allah der Erhabene ist gegenüber seinen Dienern auf der Wacht,' und wehe dem, der durch den Umgang mit dir sich hat betören lassen!' Doch sie fuhr fort: .O du. der du abseits vom Wahren stehst und fern vom rechten Wege in die Irre gehst, wende dein Antlitz mir zu, sieh meine Reize an und nutze die Gelegenheit, daß ich dir nahe bin, wie es die Weisen vor dir getan haben. Die hatten doch mehr Erfahrung und ein richtigeres Urteil als du, und trotzdem verschmähten sie es nicht, sich der Frauen zu erfreuen, sondern sie begehrten Liebesgenuß und Nähe der Frauen, anders als du, der du dem allem entsagt hast; dennoch schadete es ihnen weder in geistlichen noch in weltlichen Dingen. Also laß ab von deinem Bestreben, und du wirst einen schönen Ausgang erleben!' Aber der Hirte erwiderte: ,Alles, was du sagst, verdamme und verabscheue ich; alles, was du mir bietest, verschmähe ich; denn du bist tückisch und falsch, bei dir ist weder Treu noch Glauben. Wieviel Häßliches birgst du unter deiner Schönheit! Wie viele Fromme hast du schon verführt, so daß ihr Ende Reue und Elend war! Drum hebe dich weg von mir, du, die du dich schmückst, um andere zu verderben!' Damit warf er seinen Mantel über sein Gesicht, um ihr Antlitz nicht zu sehen, und begann den Namen des Herrn anzurufen. Als nun der Engel seinen trefflichen Gehorsam gegen Gott erkannte, ging er von ihm fort und stieg zum Himmel empor.

Nun befand sich nicht weit von dem Hirten ein Dorf. darin ein Gottesmann lebte, der die Stätte des Hirten nicht kannte; der vernahm einmal im Traum, wie eine Stimme zu ihm sagte: ,In deiner Nähe, an der und der Stätte lebt ein frommer Mann; geh zu ihm und gehorche seinem Befehle!' Als es Morgen



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ward, machte er sich auf den Weg zu ihm; wie dann die Hitze des Tages ihn bedrückte, kam er zu einem Baume, bei dem sich ein Quell sprudelnden Wassers befand. Dort machte er Rast und setzte sich in den Schatten jenes Baumes; da erblickte er, wie die wilden Tiere und die Vögel zu dem Quell kamen, um aus ihm zu trinken. Doch als sie den Gottesmann dort sitzen sahen, erschraken sie vor ihm, kehrten um und liefen davon. Der Fromme aber sprach: ,Es gibt keine Macht und es gibt keine Majestät außer bei Allah! Ich ruhe hier nur zum Schaden für diese Tiere und Vögel.' Dann erhob er sich, indem er sich selbst Vorwürfe machte, und sprach: ,Fürwahr, es war ein Schaden für diese Lebewesen, daß ich heute an dieser Stätte saß. Wie kann ich dereinst bestehen vor meinem Schöpfer, der auch diese Vögel und Tiere geschaffen hatt Denn ich war doch die Ursache, weshalb sie von ihrer Tränke und von ihrem täglichen Brote und ihrer Weide fortliefen. Wehe, wie werde ich beschämt dastehen vor meinem Herrn am Tage, an dem er die ungehörnten Schafe an den gehörnten rächen wird!" Dann weinte er und sprach diese Verse:

Fürwahr, so ist es, bei Allah, wenn die Menschen wußten,
Warum sie geschaffen, sie würden nicht sorglos sein und schlafen!
Erst kommt der Tod, und dann die Erweckung, dann der Gerichtstag
Mit seinem Tadel und mit den furchtbaren Schrecken der Strafen.
Wir sind, wenn wir Verbote oder Gebote machen,
Gleichwie die Höhlengeföhrten' wir schlafen und wir wachen.

Darauf weinte er wieder, weil er unter dem Baume bei dem Quell gesessen und die Tiere und Vögel von ihrer Tränke vertrieben hatte; und er wandte sich ab und ging eilends davon, bis er zu dem Hirten kam. Zu ihm trat er ein und begrüßte ihn;



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der gab ihm den Gruß zurück, umarmte ilm und sprach unter Tränen: ,Was hat dich zu dieser Stätte geführt, an der noch kein Mensch bei mir eingetreten ist?' Der Gottesmann erwiderte: ,Ich schaute im Traume jemanden, der mir deine Stätte beschrieb und mir gebot, zu dir zu gehen und dich zu begrüßen; so bin ich denn zu dir gekommen, gehorsam dem Befehle, der mir zuteil ward.' Da küßte der Hirte ihn, und seine Seele freute sich über die Vereinigung mit ihm, und beide blieben auf dem Berge zusammen, indem sie Allah in jener Höhle dienten. Schön war ihrer beider Gottesdienst, und sie widmeten sich dort immerdar dem Dienste ihres Herrn, indem sie sich von dem Fleische und der Milch ihrer Herden nährten und weder Reichtum noch Kinder begehrten, bis die letzte Gewißheit zu ihnen kam. Und dies ist das Ende ihrer Geschichte. « * * *

Da sprach der König: »O Schehrezâd, du hast mich nun schon gelehrt, meine Königsherrschaft für eitlen Tand zu erachten und die Hinrichtung so vieler Frauen und Mädchen zu bereuen! Sag, weißt du noch eine Geschichte von den Vögeln? « »Jawohl! <(erwiderte sie und begann


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