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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


37. Mahasuk, der Älteste der 100

Ein Mann, dessen Gehöft in der Stadt eines sehr mächtigen Fürsten (Sultan) gelegen war, hatte hundert Söhne von verschiedenem Alter. Mahasuk, der Älteste, war schon ein reifer Bursche. Die Jüngsten waren noch kleine Buben. Diese hundert Söhne hielten aber zusammen wie gleichaltrige, und überall, wo man einige sah, konnte man annehmen, daß auch die andern in der Nähe waren.

Eines Tages kamen die Hundert vom Acker. Sie hatten den Tag über gearbeitet und lachten und spotteten über die Burschen, die keine Brüder hätten. Sie trafen am Wege einen Burschen, der war der Sohn einer Witwe. Der hatte zehn Eicheln in seiner Tasche, mit denen spielte er. Als er an den hundert Söhnen vorbeikam, riefen die ihm zu: "Gib jedem von uns eine Eichel!" Der Witwensohn sagte: "Ich habe nur zehn Eicheln! Wie soll ich es nun machen, daß ich jedem von euch, die ihr hundert seid, eine Eichel gebe!" Die hundert Burschen lachten und sagten: "Warum hast du nicht noch neun Brüder, von denen jeder auch zehn Eicheln in der Tasche hat. Dann kämst du noch davon. So aber müssen wir dich bestrafen." Damit fielen die hundert Söhne über ihn her. Der eine zerrte den Waisensohn hier, der .andere dort. Der eine riß ihm die Kleider ab, der andere zog ihn an der Nase. Der dritte packte ihn am Bein, der vierte setzte sich ihm auf die Brust, —-jeder ließ seinen Übermut an dem Witwensohn aus. Dann ließen sie ihn laufen.



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Der Witwensohn kam klagend bei seiner Mutter an und erzählte ihr alles Unrecht und Gewalttätige, das ihm die hundert Burschen zugefügt hatten. Die Witwe lief sogleich zum Fürsten. Sie erzählte die Geschichte dem Fürsten und sagte: "Diese hundert Söhne schlimme Burschen. Sie sind jetzt schon eine arge Plage. Es ist immer schlimm, wenn aus einer Familie viele Kinder kommen, aber von vielen und so schlimmen hat man noch nicht gehört. Jetzt, wo meisten der hundert Söhne noch klein sind, machen sie schon solche Streiche. Wie wird es erst werden, wenn sie alle herangewachsen sind? Ich bin überzeugt, dann werden sie sich nicht scheuen, sogar an dich Hand anzulegen, um einen unter sich zum Fürsten zu machen." Der Fürst sagte: "Was würdest du mir raten? Was soll ich tun, um diese Gefahr beizeiten zu verhindern?" Die Witwe sagte: "Ich würde sie alle in Säcke binden und ins Meer werfen lassen." Am andern Tage ließ der Sultan hundert große Säcke suchen. Man fand aber nur fünfzig. Dann ließ er fünfzig Maulesel zusammentreiben. Dann ließ er die hundert Söhne gefangennehmen und je ZU zweien in einen Sack stecken. Dann ließ er die fünfzig Säcke auf die Maulesel laden und befahl, sie zum Meeresufer hinabzutreibefl und dort ihre Last versenken zu lassen.

Die Treiber führten die Maulesel am gleichen Tage noch hin an das Meer. Dort luden sie die fünfzig Säcke mit den hundert Söhnen ab und ließen die Tiere grasen. Da die Leute die schweren Säcke aber über die Steine des Ufers hinweg bis an den Rand des tieferen Wassers selbst tragen mußten und sie recht faul waren, wie alle Leute dieses Fürsten, so ließen sie die fünfzig Säcke mit den hundert Söhnen am Steinufer liegen und nahmen sich vor, die Arbeit am andern Tage zu verrichten.

Mahasuk, der älteste der hundert Söhne, hatte aber in seinem. Kleide bei der Gefangennahme ein kleines Messer und eine Debus (Holzkeule) versteckt. Als es nun Nacht war und die Maultiertreiber schliefen, begann er mit dem Messer den Sack, in dem er mit einem seiner Brüder eingeschlossen war, aufzuschneiden. Er schlüpfte heraus und eilte von einem Sack zum andern und hatte die Arbeit der Befreiung nach kurzer Zeit vorgenommen. Als die Maultiertreiber am andern Morgen erwachten, lagen die fünfzig Säcke leer da. Sie erschraken. Einer von ihnen sagte aber: "Was schadet es. Die hundert Brüder werden sich schwer hüten, in die Stadt zurückzukehren. Sie sind in den großen Wald dort gelaufen, und von da aus werden sie schon in ein anderes Land entwischen.



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Wir aber wollen die Säcke am Ufer unten mit Steinen füllen und ins Wasser werfen. Ich denke, wir können sehr froh sein, daß wir der Schlepperei überhoben sind. Dem Fürsten aber brauchen wir ja nicht gerade zu sagen, daß die Burschen uns entwischt sind." Die andern Maultiertreiber waren mit diesem Vorschlage sehr zufrieden und verfuhren danach. Sie kehrten in die Stadt zurück und berichteten, Sie hätten die fünfzig Säcke mit den hundert Burschen ins Meer geworfen, und es sei eine schwere Arbeit gewesen, für die sie ein besonderes Geschenk erhoffen dürften. Der Fürst und alle Bewohner der Stadt waren darüber froh, und die Maultiertreiber erhielten von vielen Leuten Dankesgaben. Nur der Vater und die Mütter der hundert Söhne waren über alle Beschreibung darüber traurig, daß sie ihre Kinder so alle auf einmal an einem Tage auf diese Weise verloren hatten.

Inzwischen waren die hundert Brüder in der Nacht in den Wald, der der Küste des Meeres benachbart war, entwichen. Sie flohen Unter Führung Mahasuks, des ältesten Bruders, eilig dahin, so Schnell, daß die jüngsten Buben nur gerade noch mitkommen konnten. Einen Tag nach dem andern liefen sie so im Walde fort, bis eines Tages der Älteste im fernen Gebüsch einen Rauch aufsteigen Sah. Da ließ er seine Brüder sich lagern und sagte: "Dort drüben müssen irgendwelche Geschöpfe sein, denn ich sehe einen Rauch aufsteigen. Bleibt ihr nun unter Leitung eures zweitältesten Bruders hier und wartet auf mich, denn ich will hingehen und sehen, ob ich irgendein gutes Essen für uns gewinnen kann. Bleibt ihr alle aber hier und wartet auf mich, denn wenn es etwa Luhjusch (Menschenfresser, Ungeheuer) sind, die da wohnen, so genügt es, wenn ich allein zugrunde gehe. Wenn ich also in vier Tagen nicht zurückkehre, so wandert in einer andern Richtung des Waldes fort." Damit nahm der älteste Bruder Abschied.

Mahasuk ging auf den Rauch zu. Er fand eine kleine Hütte, in der eine alte Frau Brot buk. Mahasuk trat aus dem Walde, begrüßte die Alte und sagte: "Was machst du da Gutes ?" Die Alte erschrak erst beim Anblick des fremden Mannes, dann aber sagte sie: "Ich backe mir jeden vierten Tag vier Brote, so daß ich jeden Tag Brot habe, heute ist mein Backtag." Mahasuk fragte: "Wohnst du denn ganz allein im Walde?" Die Alte sagte: "Früher wohnte ich in einer schönen Stadt, dann floh ich hierher, denn ich bin der einzige Mensch, der von den Bewohnern der Stadt übriggeblieben ist."

Mahasuk fragte: "Was hat sich denn in dieser Stadt ereignet?"



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Die Alte sagte: "In der Stadt lebt eine Stute, die wird von Zeit zu Zeit von sieben Würmern geplagt, die sie in der Nase hat. Wenn sie dadurch sehr erregt ist, beginnt sie wild umherzurasen und jedes Menschen zu verschlingen, der ihr in den Weg kommt. Ich bin der Stute entflohen. Alle andern Menschen hat sie vernichtet." Nachdem die Alte dieses erzählt hatte, war sie mit dem Brotbacken fertig und sagte: "Du wirst weit gegangen sein und also Hunger haben. Nimm eines von meinen vier Broten."

Mahasuk sagte: "Ich nehme dies Brot sehr dankbar an und werde es in hundert Brocken teilen." Die Alte fragte: "Weshalb willst du dies kleine Brot in hundert Brocken teilen?" Mahasuk sagte: "Ich habe im Walde noch neunundneunzig Brüder, wir sind insgesamt hundert Söhne eines Vaters. Ich will nun nicht mehr essen als sie, zumal ich noch der älteste und stärkste, die andern aber zum Teil kleine Buben sind." Die alte Frau sagte: "Wenn es sich so verhält, so kann eurer Not leicht Abhilfe geschaffen werden. Ich werde dir zeigen, wo hier das Mehl aufgespeichert liegt. Es ist viel vorhanden, und du kannst mir dann so viel bringen, daß ich euch hundert Brote backe. Die bringe dann zu deinen Brüdern hinüber." Der älteste Bruder war darüber sehr glücklich. Die hundert Brote wurden gebacken, und Mahasuk packte sie auf und trug sie zu seinen Brüdern hinüber.

Als Mahasuk kam, fand er die neunundneunzig Brüder in großer Aufregung. Er fragte: "Was ist denn geschehen ?" Der älteste unter den neunundneunzig sagte: "Einer der kleinen Buben ist trotz aller Warnung seitwärts weggelaufen und wurde im Walde drüben von einem Schakal angefallen. Der Schakal hält unsern Bruder an den Haaren fest, und wir wissen nun nicht, wie wir ihn wieder befreien können." Da ging Mahasuk zu der Stelle, wo der Schakal den Bruder an den Haaren festhielt. Er schlug ihn tot und befreite so seinen Bruder. Als wieder alle hundert Brüder beisammen waren, verteilte er die hundert Brote und sagte: "Nun hat jeder ein Brot. Jeder verzehrt sein Brot heute oder bewahre sich seinen Teil auf. Ich werde euch wieder allein lassen, denn ich will Ausschau halten, ob ich nicht für uns alle eine gute und nahrhafte Unterkunft in der Gegend aus findig zu machen imstande bin. Bleibt so lange stets zusammen Und gehorcht dem Ältesten unter euch, bis ich zurückkehre."Damit nahm Mahasuk wieder Abschied und kehrte zu der Alten zurück.

Er dankte der Alten nochmals für die hundert Brote und sagte: "Nun bitte ich dich, sage mir, wo ich die wilde Stute und die verlassene



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Stadt finde." Die Alte sagte: "Ich sehe, du willst versuchen, die Stadt von der wilden Stute zu befreien. Die Stadt liegt in jener Richtung, nicht weit von hier entfernt. Ich rate dir aber nicht, dorthin zu gehen. Die Stute kommt jeden Morgen an der Spitze eines ganzen Rudels von Pferden zu einer Quelle gelaufen, die du nicht verfehlen wirst, wenn du in jener Richtung gehst. Dort allein ist es vielleicht möglich, ihrer Herr zu werden." Der Bursche fragte: "Wie erkenne ich die wilde Stute unter den anderen Pferden?" Die Alte sagte: "Sie ist immer an der Spitze der andern." Mahasuk bedankte sich.

Der Älteste der Burschen machte sich sogleich auf den Weg in der angegebenen Richtung. Er fand die Quelle. Er machte sich im Gebüsch der Quelle ein Lager und legte sich mit seiner Debus in der Hand zum Schlafe nieder. Am andern Morgen wurde er ganz früh durch Wiehern und Pferdegetrappel geweckt, das noch fern war, das aber jeden Augenblick näher kam. Da versteckte er sich in der Quelle so, daß er nicht zu sehen war, aber freie Bewegung für den rechten Arm behielt.

Die wilde Stute kam heran. Die wilde Stute beugte den Kopf vor, um zu saufen. Da versetzte Mahasuk ihr einen Schlag mit der Debus auf die Nase, daß sie entsetzt auffuhr. Dabei fiel aber aus der Nase ein Wurm. Die Stute bat: "Laß mich saufen." Die Stute neigte wieder den Kopf zum Wasser. Der Bursche versetzte ihr wieder einen Schlag mit der Debus, so daß sie wiederum emporfuhr, einen Wurm fallen ließ und dann bat, saufen zu dürfen. Das wiederholte sich siebenmal, dann waren alle Würmer aus der Nase gefallen und die Stute von der Ursache ihrer Qualen und Wildheit befreit. Die Stute sagte: "Du, der du versteckt bist, komm hervor. Du hast mich befreit und bist nun mein Herr. Besteige und reite mich. Laß mich aber erst saufen."

Mahasuk trat hervor. Die Stute soff das Wasser. Dann ließ sie sich besteigen. Mahasuk ritt zu der Alten. Als die Alte die Stute herankommen sah, wollte sie erst fliehen, dann aber erkannte sie den ältesten der hundert Brüder und beruhigte sich sogleich. Sie hatte gerade aufs neue hundert Brote für die hundert Söhne des Vaters gebacken. Die lud Mahasuk auf sein Pferd und ritt dann zu den neunundneunzig Brüdern.

Nachdem die Brüder ihr Mahl beendet hatten, führte er sie, auf der Stute voranreitend, zu der Alten, und die zeigte ihnen den Weg in die ausgestorbene Stadt. Sie bot den Brüdern mehr, als sie benötigten.



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Die hundert Söhne des Vaters machten es sich in der Stadt bequem und führten ein angenehmes Leben. Sie blieben ein Jahr nach dem andern dort wohnen, so lange, bis die jüngsten auch herangewachsen waren. Dann rief Mahasuk eines Tages seine Brüder zusammen und sagte: "Wir sind nun alle erwachsen und besitzen alles, was zum Leben nötig ist. Ich sehne mich aber zurück zu Vater und Mutter, und euch wird es ebenso gehen. Ich schlage also vor, daß wir alle Schätze, die diese Stadt birgt, sammeln, daß jeder ein Pferd besteigt, auflädt, was er noch tragen kann und daß wir dann in die Stadt unseres Vaters zurückkehren. Sagt mir, ob ihr hiermit einverstanden seid." Die Brüder stimmten dem Vorschlage Mahasuks allgemein zu. Alle rüsteten sich zum Aufbruch und ritten wenige Tage später auf gepackten Pferden hinter Mahasuk her, der die Stute bestiegen hatte.

Sie kamen in die Stadt und im Gehöft ihres Vaters an. Der Vater und die Mütter der hundert Söhne waren über die unerwartete Ankunft aller ihrer tot geglaubten Söhne so erfreut, daß sie sich erst nicht zu fassen vermochten. Die Ankunft der hundert berittenen Männer verursachte aber ein solches Geräusch, daß man den Ruf zum Gebete nicht vernahm. Die Weiber schrien, die Pferde wieherten und stampften, die Männer sprachen laut durcheinander.

Der Fürst hörte den Lärm. Er fragte seine Leute: "Was gibt es?" Die Leute sagten: "Die hundert Söhne des Vaters, die du vor Jahren in Säcken hast ins Meer werfen lassen, sind mit Pferden und Waffen zurückgekehrt." Der Fürst erschrak. Er rief seine Leute zusammen und zog gegen das Gehöft des Vaters. Mahasuk ließ sogleich alle seine Brüder ihre Pferde besteigen und ritt mit ihnen dem Fürsten entgegen. Der Kampf begann. Der erschrockene Fürst wurde im Kampf von Mahasuk getötet. Seine Leute flohen zum Teil.

Die andern erhoben Mahasuk zum Fürsten der Stadt und der Lande.


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