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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


35. Die Tochter und die Negerin

Ein Vater hatten sieben Söhne. Eines Tages war die Mutter wieder guter Hoffnung. Die Söhne saßen miteinander an der Quelle. Sie schnitten sich da die Haare. Die Söhne sagten untereinander: "Wenn das Kind unserer Mutter ein Knabe wird, werden Wir die Töpfe auf unserem Kopf zerbrechen (ein Zeichen der Trauer) und werden fortgehen. Wenn das Kind aber ein Mädchen ist, werden Wir ein Fest feiern." Der Vater kam vorbei und sagte: "Meine Söhne, ich bin eurer Ansicht." Eine Setut (böse alte Frau) hörte die Söhne und den Vater.

Am gleichen Tage gebar die Mutter ein Mädchen. Die Setut lief aber zu den Söhnen und sagte: "Eure Mutter hat einen Knaben geboren." Die sieben Söhne fragten: "Ist es nicht ein Mädchen?" Die Setut sagte: "Nein, ich habe es mit meinen Augen gesehen." Da zerbrachen die sieben Burschen die Töpfe auf ihren Köpfen, bestiegen ihre Tiere und ritten von dannen in ein anderes Land. Dort bauten sie sich ein Haus, legten Felder an und züchteten Vieh.

Das Mädchen aber wuchs sehr schnell. Nach vier Jahren war sie schon erwachsen. Das Mädchen glaubte, es sei das einzige Kind seiner Eltern. Eines Tages spielte sie und war vergnügt. Die alte Setut kam vorbei. Sie sah die Freude des Kindes. Sie sagte: "Thimrarak nthivar wuethmetherith!* Du hast deine sieben Brüder verjagt." Das Mädchen ging heim und begann zu weinen. Das Mädchen legte sich ins Bett. Das Mädchen wollte nicht essen. Die Mutter kam und fragte das Mädchen: "Was hast du ?" Das Mädchen sagte: "Ich habe sieben Brüder, du hast nie mit mir über meine sieben Brüder gesprochen. Wo sind meine sieben Brüder?"

Die Mutter erzählte dem Mädchen alles. Das Mädchen sagte: "Ich will gehen und meine Brüder suchen." Das Mädchen bereitete sich



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Essen, nahm einen Maulesel, eine Negerin und das Korn A-a-ka ithauwellen (das beratende Korn, das Korn, das spricht) mit. Das Mädchen bestieg den Maulesel, ritt voran und ließ die Negerin hinterhergehen. Das Mädchen ritt mit der Negerin hinter sich weit fort.

Nach einiger Zeit wurde die Negerin müde. Sie bat das Mädchen: "Laß mich jetzt auf den Maulesel steigen; ich bin so müde." Das Mädchen sagte: "Avaven, avaven (Vater, Vater) die Negerin will aufsteigen!" Das Korn sprach: "Reite weiter! Reite weiter! Habe keine Furcht!" Das Mädchen ritt weiter und hörte nicht auf die Negerin.

Abends kam das Mädchen mit der Negerin an eine Quelle, die war für Weiße und eine Quelle, die war für Schwarze. Das Mädchen stieg vom Maulesel und legte das Korn auf einen Stein. Dann badete das Mädchen. Es badete aber nicht in der Quelle für Weiße, sondern in der Quelle für Schwarze. Sie wurde schwarz. Und die Negerin badete nicht in der Quelle für Schwarze, sondern in der Quelle für Weiße. Da wurde sie weiß.

Am andern Morgen brach das Mädchen auf. Das Mädchen ließ aber das Korn auf dem Stein am Brunnen liegen und vergaß es mitzunehmen. Das schwarze Mädchen bestieg seinen Maulesel und ritt weit fort. Die weiße Negerin lief hinterher. Nachdem sie weit geritten waren, wurde die weiße Negerin müde und bat: "Laß mich jetzt auf den Maulesel steigen; ich bin so müde." Das schwarze Mädchen sagte: "Avaven, Avaven, die Negerin will aufsteigen."Das Korn auf dem Stein an der Quelle sprach: "Reite weiter; reite weiter, habe keine Furcht!" Das Korn war nun aber auf dem Stein an der Quelle so weit entfernt, daß das Mädchen seine Stimme nicht hörte. Deshalb stieg das schwarze Mädchen vom Maulesel ab und die weiße Negerin bestieg den Maulesel. Das schwarze Mädchen ging hinter dem Maulesel her.

Am Abend kamen sie bei den sieben Brüdern an. Die weiße Negerin stieg ab und sagte: "Ich bin eure Schwester. Ich bin gekommen, euch zu besuchen. Die Negerin kann inzwischen eure Kamele hüten." Die sieben Brüder waren darüber sehr froh. Die sieben Brüder ließen ein gutes Essen bereiten und plauderten mit der weißen Negerin Das schwarze Mädchen aber wurde in den Stall geschickt.

Am andern Morgen erhielt das schwarze Mädchen ein schwarzes Stück Brot und mußte die Kamele zur Weide treiben. Unter den Kamelen war ein taubes. Das schwarze Mädchen trieb die Kamele auf die Weide, legte ihr schwarzes Brot auf einen Felsen, stieg auf



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ihn, weinte und sang: "Nimm mein Brot und steige, steige, steige, Fels, damit ich das Land meiner Eltern sehen kann! Die schwarze negerin ist zur weißen Schwester geworden und die weiße Schwester Zur schwarzen Negerin und muß die Kamele hüten." Da stieg der Fels sehr hoch, so daß das Mädchen über das Land hinsehen konnte. Die Kamele aber vergaßen zu grasen und weinten mit ihr, bis auf das taube, das nichts hören konnte. Die andern aber weinten, vom Morgen bis zum Abend.

Das ging so dreißig Tage. Da waren die Kamele, die immer nur mit dem schwarzen Mädchen klagten, ganz mager, bis auf das taube, das nichts verstand. Die sieben Brüder sagten unter sich: "Was ist das, unsere Kamele werden immer magerer?" Der Jüngste aber sagte bei sich: "Ich werde heimlich einmal sehen, was die Negerin mit den Kamelen macht."

Als das schwarze Mädchen am andern Morgen das schwarze Stück Brot erhalten hatte und die Kamele auf die Weide trieb, folgte der jüngste der sieben Brüder insgeheim. Er folgte auf den Weideplatz. Er sah, wie das schwarze Mädchen das schwarze Stück Brot auf den Felsen legte, auf dem schon dreißig Stück schwarze Brote lagen, auf den Felsen stieg, weinte und sang: "Nimm mein Brot und steige, steige, steige, Fels, damit ich das Land meiner Eltern sehen kann! Die schwarze Negerin ist zur weißen Schwester geworden und die weiße Schwester zur schwarzen Negerin und muß die Kamele hüten." Der jüngste der sieben Brüder sah, wie der Fels sehr hoch stieg, so daß das Mädchen weit über das Land sehen konnte und wie die Kamele zu grasen vergaßen und mit dem schwarzen Mädchen weinten. Nur das taube Kamel hörte nichts und fraß weiter.

Als der Jüngste das sah, warf er sich auf das schwarze Mädchen und sagte: "Sprich alles zu mir! Bist du unsere Schwester oder bist du die Negerin? Das schwarze Mädchen nahm das Kopftuch ab, so daß die Haare bis auf den Boden fielen und sagte: "Hat eine Negerin solche Haare ?" Dann erzählte sie dem Jüngsten alles, wie es sich zugetragen hatte. Der Jüngste sagte: "So komm mit nach Hause; ich will es den Brüdern erzählen."

Der Jüngste erzählte den Brüdern alles. Die Brüder gingen auf den Markt und kauften einen Kamm, einen Spiegel und Bohnen. Sie legten den Kamm, den Spiegel und die Bohnen dem schwarzen Mädchen und der weißen Negerin hin. Die weiße Negerin ging sogleich auf die Bohnen zu und begann sie zu essen (Erklärung des Erzählers: Bohnen lieben die Neger über alles), das schwarze Mädchen



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aber nahm ihr Kopftuch ab, so daß die Haare bis auf den Boden herabfielen und begann sich zu strählen. Als die weiße Negerin die Bohnen gegessen hatte, sagten die Brüder: "Nun kämme du dich auch!"Die weiße Negerin nahm das Kopftuch ab. Alle Brüder sahen, wie ihre kurzen Haare zum Himmel standen.

Die sieben Brüder sagten: "Wir wollen dieses schwarze Mädchen mit den langen Haaren und die weiße Frau mit den kurzen Haaren zurückführen zu der Stelle, an der das sprechende Korn liegen blieb und wo sie beide auf dem Herwege badeten." Sie brachen auf. Sie kamen an die Stelle. Die weiße Frau mußte in der Quelle für Schwarze baden und das schwarze Mädchen in der Quelle für die weißen. Als sie aus dem Wasser stiegen, war das Mädchen mit den langen Haaren wieder weiß, und die Frau mit den schwarzen Haaren war wieder eine schwarze Negerin. Die Schwester der sieben Brüder eilte auf den Stein zu, auf dem das Korn lag. Sie ergriff das Korn und rief: "Avaven, avaven! Die Negerin will aufsteigen!" Das Korn antwortete: "Reite weiter, reite weiter, hab' keine Furcht!" Die sieben Brüder hörten es. Sie umfingen das schöne Mädchen und sagten: "Wir hören und sehen es, daß du unsere Schwester bist." —

Die sieben Brüder kehrten mit der Schwester und der Negerin heim. Die sieben Brüder wollten die Negerin töten. Die Schwester aber sagte: "Tut das nicht! Wenn sie gestraft werden soll, überlaßt das andern." Die Brüder sagten: "Dann wollen wir sie im Walde anbinden und abwarten, ob die Tiere ihr etwas tun." Sie brachten die Negerin in den Wald und banden sie an einem Baume an. Sie ließen sie tagsüber und die Nacht im Walde angebunden.

Am andern Morgen ging der Jüngste in den Wald, um zu sehen, was aus der Negerin geworden war. Er fand sie am Baume angebunden. Die Löwen waren um sie versammelt und brüllten. Sie hatten aber der Negerin nichts getan. Als der jüngste Bruder in die Nähe kam, fielen die Löwen über ihn her und schleppten ihn in ihr Haus. Der Jüngste hatte aber keine Angst und so taten die Löwen ihm nichts. Als der jüngste Bruder nicht zurückkam, gingen am nächsten Tag die älteren sechs Brüder in den Wald und suchten nach ihm. Sie kamen an die Stelle, an der die Negerin angebunden war. Die Negerin war noch am Leben. Die Negerin zeigte den Brüdern den Weg, auf dem die Löwen den Jüngsten weggeschleppt hatten. Die Brüder gingen den Löwen nach. Die Löwen packten aber die sechs Brüder und schleppten auch sie in ihre Behausung, und zwei von ihnen, die sich fürchteten, bissen sie tot.



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Als auch die andern Brüder nicht wiederkamen, ging die Schwester in den Wald. Sie fand die Negerin und band sie los. Von der Negerin hörte sie alles. Die Negerin kehrte mit ihr heim. Die Schwester ließ nun einen Ochsen töten und schlachten. Das Fleisch vergiftete sie. Das vergiftete Fleisch trugen sie in den Wald. Die Löwen fielen über das Fleisch her. Die Löwen fraßen es und starben alle. Am nächsten Tage ging die Schwester wieder mit der Negerin in den Wald. Sie fanden den Jüngsten und vier der andern Brüder noch am Leben und kehrten mit ihnen heim.

In der Farm ließen sie die Negerin zurück. Die Schwester wanderte mit den fünf Brüdern wieder in das Haus der Eltern. Hier trauerten sie zwei Jahre um die zwei toten Brüder


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