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Die Geschichte vom weifen Njal


Mit einer Karte


Übertragen von Andreas Heusler

Verlegt bei Eugen Diedrichs in Jena 1914


Einleitung

Auch wer schon manche der Familiensagas kennt, wird von der Geschichte vom weisen Njal seltsam berührt werden. Das liegt einmal am Aufbau des Werkes.

Die Njala —diesen Kosenamen führt sie —besteht aus zwei Hauptteilen. einer Geschichte von Gunnar und einer Geschichte von der verbrennung Njals. Diese beiden Teile hängen durch Personen und Schauplatz zusammen, aber nach ihrer Handlung stehn sie auf eigenen Füßen.

Was von Gunnar erzählt wird, nähert sich einem Lebenslauf . von seinen Eltern und Ahnen erfahren wir nur die Namen men, und das Aufwachsen des Helden wird übergangen. Seine erste Tat ist die Unterstützung seiner Base Unn; hier finden wir auch schon Njal als seinen Freund und überlegenen Berater. Es folgt Gunnars Auslandsfahrt mit den wikingischen Großtaten . Diese beiden Stücke stehn mit dem folgenden nur in loser verbindung.

Nach seiner Rückkehr heiratet Gunnar die Hallgerd, und mit ihr tritt in sein Leben das Verhängnis, das alles weitere bis zu seinem Tode umrahmt; die Rolle Njals als des treuen Beraters zieht sich ebenfalls, verknüpfend, bis zum Schluß. Aber eine einheitliche, aus einem Anstoß entspringende Handlung bat auch dieser Abschnitt nicht; es sind vielmehr drei selbständige verwicklungen: A, Der Haß der beiden Frauen, Hallgerd und Bergthora, führt zu einer Kette von Totschlagen. Daß die Freundschaft der Männer diese Proben siegreich besteht, ist der beherrschende Gedanke dieses Stücks. B. Hallgerds Diebstahl stürzt Gunnar in schwere Konflikte mit Nachbarn. Hier begebt Gunnar in eigner Person seine ersten Fehdetaten. Reibungen mit Njals Hause gibt es hier, wie im folgenden, nicht mehr. L. Eine Pferdehatz verfehdet Gunnar mit einer neuen Gruppe von Nachbarn. Hallgerd hat diesmal keine Schuld. Auf zwei große Kämpfe folgt Gunnars Landesverweisung, deren Mißachtung durch Gunnar und sein Tod. Bei seinem Tode flackert noch einmal das Verhängnis, genannt Hallgerd, auf: ein Gelenk nach Abschnitt B hinüber. Den nötigen Abschluß



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der Lebensgeschichte bildet die Rache für Gunnar; es klingt aus mit einem Blick auf die weitern Schicksale des überlebenden Bruders.

Mit Kap. 8i könnte die Saga schließen, ohne daß man etwas vermißte (die zehn ersten seilen von Kap. 75 wären dann zu streichen): es wäre die "Geschichte von Gunnar und seiner Freundschaft mit Njal", eine Erzählung, die dem Grundriß nach etwa zu vergleichen wäre mit der Saga von Gisli oder von Björn.

Einen völlig neuen Faden spinnt Kap. 82 an; es beginnt der zweite Hauptteil des Werkes, die"Geschichte von der Verbrennung Njals".

Zwei Söhne Njals ziehen ins Ausland auf Wikingtaten. In Norwegen verfeinden sie sich mit Thraïn, einem Vetter Gunnars, der bisher nur als Nebenperson auftrat. Diese Fehde wird auf isländischem Boden ausgefochten. Thraïn und ein paar andere fallen durch die Njalssöhne; weitere Racheschläge schließen sich an (Kap. 98 f., 106). Um den Frieden zu befestigen , hat Njal den jungen Sohn des getöteten Thraïn, Höskuld , als Ziehkind angenommen und liebt ibn über alles. Er verschafft ihm ein Godentum und eine Heirat. Da greift der große Ränkeschmied der Saga ein, Mord Walgardssohn, der schon im ersten Hauptteil, unter Gunnars Feinden, seine Rolle gespielt hat: hier schlingt sich ein dünnes Band von der ersten Geschichte zur zweiten, von Kap. 79 f. zu Kap. 107. Mord hetzt die Njalssöhne gegen ihren Ziehbruder Höskuld auf; sie erschlagen ihn. Eine Mordverfolgung großen Stils wird eingeleitet; an der Spitze der Klagenden steht Flosi, der Oheim von Höskulds Witwe. Durch Njals Fürsprache scheint auf dem Allding ein schiedlicher vertrag zu glücken; aber ein böses Verhängnis stiftet neuen Haß.

Da beschließt Flosi mit seinen verschworenen den Rachezug gegen die Njalssöhne. Dieser führt zu dem Mordbrande, wenn man will, dem Hauptereignis der ganzen Saga. Alles folgende ist der Rache für den Mordbrand gewidmet. Der den Flammen entkommene Schwiegersohn Njals, Kari, wird das Haupt der Rächer; die Gegenspieler leitet Flosi. Nach weitausgreifender



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Vorbereitung kommt es zu dem Kiesenprozeß auf dem Allding. Die umständlichen Gerichtsklagen münden aus in einen Massenkampf , und diesem folgt ein Vergleich, der die Mordbrenner zu Bußen und Landesverweisung verurteilt.

Es wäre zu Ende, wenn nicht ein Neffe Njals und namentlich sein Schwiegersohn Kari den Racheweg weiter verfolgten. Nach drei siegreichen Gefechten auf Island fährt Kari den Landesverwiesenen nach: auf den Orkaden und in Wales ereilt er seine zwei letzten Opfer. Nach Island zurückgekehrt; versöhnen sich die zwei gegnerischen Häupter, Kari und Flosi.

Dieser zweite Hauptteil, die Njalsgeschichte im engern Sinne, hat die epische Einheitlichkeit einer Novelle und wäre insoweit zu vergleichen etwa mit der Saga Harvards oder der des Goden Hrafnkel.

Die beiden großen Geschichten, aneinander gehängt, ergaben ein Doppelwerk, dessen Grundriß ari die Saga von Styr und dem Hochlandskampfe erinnert. Trotz der mangelnden Einheit wäre das Doppelwerk leicht überschaubar; da es seinen Schwerpunkt sehr entschieden in dem geschlossenen Umkreis der südlichen Stromebene hätte; stellte es sich als fortlaufende Bezirksgeschichte dar, die über einen Zeitraum von einigen vierzig Jahren spannte.

Nun haben sich aber vier Anbauten angesetzt, die der Klarheit des Umrisses schaden.

Zunächst das erste und zweite Stück. Gunnars Eintreten für die Base Unn bewog den Erzähler, nicht nur Unns Ehe mit Hrut, sondern auch Hruts vorangehende Auslandsfahrt umständlich zu berichten. Eine andere Isländersaga, die jenes Eingreifen Gunnars auf ihrem Pensum hatte, hätte die Ursache davon mit wenigen seilen abgetan. Sodann hatte Hallgerd ihre vorgeschichte: zwei Ehemänner waren an ihr schon verblutet. Wenn der Erzähler diese zwei ersten Ehen ausführlich aufnimmt, gibt er der Gestalt ein Relief, das knapper Andeutung nicht herauskommen konnte und das wir für die folgende Haupterzählung ungern entbehrten. Aber er bezahlt diesen Gewinn teuer: er erhält eine zweite vorgeschichte, die mit der ersten, der von Hrut und Unn, zeitlich gleich läuft.



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So kann denn die Saga nicht mehr mit der Hauptperson beginnen; sie hält uns achtzehn Kapitel bei andern Helden, andern Sippen auf; sie führt uns in mancherlei Gegenden des Westens herum und hat ihr Stammland, die Stromebene im Süden, noch nicht gewonnen. Und was die Unruhe vollendet: sie muß mit zweisträngiger Vorgeschichte der Gunnarssaga zustreben. Das kurze erste Kapitel verdeutlicht gleich schon diese Zickzacklinie: es legt den Grundstein zu "Hrut und Unn", führt aber zugleich die Hallgerd ein, und indem es schon den Zug mit den Diebsaugen bringt, läßt es in die Gunnarsgeschichte vorausschauen.

Nach ihrer sprachlichen Art gleichen diese zwei Stücke dem Stamm der Saga so sehr, daß wir nicht zweifeln: sie sind von unserm Njalaverfasser nicht bloß aufgenommen, sondern von ihm selbst gestaltet worden.

Der dritte Anbau ist Stück acht: die Bekehrung Islands. Da unsre Saga öfter als ihre Schwestern auf das Christentum des jüngeren Zeitraums (vom Jahr 1000 ab) anspielt, lag es ihr nahe, auch den Wendepunkt, die Bekehrung, nachdrücklicher zu bezeichnen. Aber von da ist noch ein großer Schritt zu diesen sechs Kapiteln (100-105), die den Personenkreis wie den Schauplatz geradezu gewaltsam überschreiten und auch durch ihren trockenen Aufzählungston (in Kap. 101 /2) und die dichtgesäten Strophen fühlbar abstechen. Dieser Anbau wirkt in der Tat als störender Fremdkörper.

In schwächerem Grade gilt dies von dem vierten. Er ist in das letzte Stück der Saga eingelegt, in mehreren Gliedern, die sich nicht haarscharf umgrenzen lassen. Ein Teil der landesverwiesenen Mordbrenner hatte in Irland die Brjansschlacht vom Jahre 1014 mitgemacht. Dies wurde der Anlaß, größere Abschnitte aus einer "Saga von Brjan" aufzunehmen, in denen die Schlacht mit ihrem Drum und Dran eingehender berichtet wird, als es dem Aufbau unsrer Njalsgeschichte zuträglich ist. Auch der wunderfrohe Legendenton und das lange Walkyrienlied wirken innerhalb der Niala fremdartig.

Damit ist nicht gesagt, daß diese zwei Einlagen einem Bearbeiter zur Last fallen. Denn das Abstechende an ihnen kann daher rühren,



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daß der Verfasser seinen Quellen, zwei schriftlichen Sagas, nahe gefolgt ist; auch stimmen derartige Ausweitungen nicht zu dem sonstigen isländischen Bearbeiterbrauch. Der Antrieb zu diesen entbehrlichen Zutaten kann nur gesucht werden in einer Stofffreude, die so denkwürdige Ereignisse wie die Bekehrung und die Brjansschlacht gern in den Rahmen aufnahm . Wir dürfen dieses Streben dem verfasser selbst zutrauen . Er wollte in der beliebtesten Gattung seiner Heimat, in der Familiengeschichte, ein Werk schaffen von großen, stolzen Wasen. Darüber hat er es mit der Einheit des Aufbaus nicht eben streng genommen und auch seinen persönlichen Stil nicht überall durchgeführt.

Durch die Gliederung in elf den Kapiteln übergeordnete Stücke suchen wir die Beherrschung der Massen zu erleichtern.

Auch darin liebt der verfasser den wetten Gesichtskreis, daß er berühmte Häuptlinge aus allen Vierteln auf seine Bühne bringt. Wir treffen sie hier an, diese guten Bekannten aus den andern Sagas: den Goden Snorri aus dem Westland, Gudmund den Mächtigen und seinen grimmen Gegner aus dem Norden, Bjarni und seinen feindlichen Vetter von der Ostküste, um nur diese zu nennen. Keine andere Erzählung der Sagazeit wächst in diesem Maße über die Bezirksgeschichte hinaus. Das Allding ist es, das ganz Island vereinigt, und durch die Njala geht es wie ein Kehrreim: Nun ritt man aufs Ding.

Damit verbindet sich eine Freude an ausländischen Kriegszügen, besonders Seeschlachten, an die nur wenige Sagas heranreichen. Hrut, dann Gunnar, dann Thraïn, zwei Njalssöhne und Kari dürfen sich ihre wikingischen Lorbeeren holen. Das ist die festliche Würze eines Heldenlebens; von dort strahlt Glanz auf die nicht minder tapferen, aber ernsteren, mehr ans Herz greifenden Taten in der Heimat. Was aber unsern verfasser gar nicht fesselt am Auslande, ist seine Historie, seine Politik. Man stelle seine norwegischen und britischen Stücke neben die der Egilssaga (Thule Bd. 3), um den Abstand zu fühlen! Zur Königsgeschichte gibt er keinen nennenswerten Beitrag. Die norwegischen Fürsten sind ihm die Patrone, oder



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auch die Gegner, seiner tatenlustigen Isländer, nicht mehr. Den Orkadenjarl hat er sies ein wenig klarer vorgestellt, und die Brjausgeschichte fällt anfangs in einen etwas politrischeren Ton. Aber unserm Autor liegi das Streben Snorris fern, die Taten seiner alten Großbauern in die Falten historischer Wichtigkeit und Überlegtheit zu drapieren. Er sieht die Dinge von der Seite der persönlichen Leidenschaften; er ist Seelenmaler, der manchmal genrehaft, nie politisch wird.

Und doch gehört seine Teilnahme nicht nur dem Reinmenschlichen: fast ebenso wichtig ist ihm eine abstrakt-kulturgeschichtliche Gegend, das Rechtswesen. Damit berühren wir die Seite, die mehr als alles andere die Njala kennzeichnet.

Die meisten Familiengeschichten befassen sich mit Rechtshändeln. Aber, um es kurz zu sagen sie bringen den Inhalt der Händel und von der Form nur das, was an dem besondern Falle auffiel. Unserer Geschichte ist die Form Selbstzweck. Nicht nur daß sie Fälle bringt — wir dürfen sagen: konstruiert —, deren Reiz in einer juristischen Absonderlichkeit liegt. Oft zerlegt sie die normale Dinghandlung in all die Akte, die zu einem altisländischen Prozeß gehörten; und oft entfaltet sie den ganzen schweren, pomphaften Wortlaut der vorgeschriebenen Formeln . Dabei ergänzen sich teilweise die vielen Prozeßkapitel, indem jetzt die eine Seite, das nächstemal eine andere planmäßig belichtet wird; bis endlich die Mordbrandsklage all diese Anläufe oder vorspiele zusammenfaßt zu einem erschöpfenden Musterbeispiel einer Dingaktion.

Da die Njala damit ganz allein steht, muß es die persönliche Liebhaberei eines einzelnen Erzählers sein; und zwar des schreibenden verfassers unsrer Saga, denn diese Liebhaberei geht fast durch das ganze Werk durch. Wir fragen: was wollte der Mann damit, daß er seinen Hörern solch breite Zustandsbilder vorlegte War er ein Zola des Mittelalters, der es für harte Veristenpflicht hielt, die jedem bekannte Umwelt abzuschildern: — Schwerlich Er war ein Romantiker, der eine entschwundene vorzeit malen wollte. Diese Rechtsformen setzt er als nicht mehr bekannt voraus; besonders deutlich zeigen dies verhöre wie in Kap. 66 oder eine gelegentliche Bemerkung wie "denn das



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ist Rechtens" (Kap. 65). Strecken wie Kap. 141 ff. nehmen wir dann im Sinne des Erzählers auf, wenn sie uns ergreifen als ein ehrwürdiges Stück Altertum, nach Inhalt und Sprache; wenn wir sie genießen ähnlich wie eine Opferhandlung von ehedem mit ihren wuchtigen Litaneien.

Und woher kennt der Verfasser dieses Recht der Vorzeit: Im wesentlichen aus den Rechtsbüchern des 13. Jahrhunderts, aus der Graugans. Deren Formulare hat er ein paarmal so hastig abgeschrieben, daß er vergaß, für den "Jon", das ist so viel wie "N. N.". einen individuellen Namen einzusetzen: da zeigt sich denn sonnenklar, daß nicht der Rechtsfall vom Jahr 1011 überliefert ist, sondern nach dem Rezept der Graugans eine Schilderung entworfen wird.

Oft aber stimmt es nicht zur Graugans. Da ist zuweilen ein älterer Zug bewahrt; anderemale hat der Erzähler das Rechtsbuch flüchtig benützt oder mißverstanden, auch jüngeres Recht eingemengt. Es liegt nicht so günstig, daß in diesen Njalaprozessen die Stimme des heidnischen und jungchristlichen Island zu uns herübertönte! Sie sind Entwürfe eines Epigonen; er war ein leidenschaftlicher Rechtsfreund — aber die Rechtsgeschichte war damals noch eine Klippe, " wo auch die gescheitern Schiffer gerne scheitern". Denkt man sich diese ganze Graugansvermummung weg, dann bleibt ein Strafwesen übrig, das zu dem der andern Sagas stimmt und nicht etwa aus den Gesetzen des 13. Jahrhunderts zurechtgemacht ist. Man beachte die merkwürdige Tatsache: die Njala, die lange Seiten mit Gerichtsklagen füllt, bringt nicht einen Handel zu gerichtlichem Abschluß; sie biegen alle zum schiedlichen vergleiche um!

In dem Gesagten liegt: der verfasser schrieb geraume Zeit nach dem Erlöschen des freistaatlichen Rechts. Was er der Graugans entnimmt, ist für ihn schon Vergangenheit — und eben deshalb der Darstellung würdig ! Dies führt uns in die letzten Jahre des 13. Jahrhunderts. Tiefer dürfen wir nicht herabgehen , weil man die ältesten Njalahandschriften schon um 1300 setzt.



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Auch anderes einigt sich gut damit, daß wir in der Geschichte vom weisen Njal ein Spätwerk vor uns haben. Zahl und Art der Lehnwörter — was in der Übertragung nicht zum ?Ausdruck kommt. Heraldische Schildzeichen Kap. 92; die Freude an kostbaren Kleidern; der zeremonielle Verkehr am norwegischen Hof Kap. 3, die "gemauerte Halle" ebenda. Die Einwirkung des Christentums in den ersten Jahren nach der Bekehrung wird überschätzt, in äußern wie in seelischen Dingen. Das Interesse am Geschlechtlichen ist geweckter — wenn man nämlich den isländischen Maßstab anlegt: von den erotischen Reizmitteln der südlichen Ritterkultur begegnet nichts, auch die delikate Geschichte der Unn ist frei von Lüsternheit. Ein kenntlich junger Zug ist der auf den Drachentöter Sigurd zurückgeführte Stammbaum Kap. 14. Im Geschmack der Wikingromane ist die Anspielung auf Meerwunder- und Flugdrachenkampf Kap. 119; überhaupt steht die Schilderung der Auslandstaten unter dem Einfluß der Wikingsagen: auch hier bildet die realistischere Art der Egilssaga einen lehrreichen Gegensatz.

Aber noch tiefer greifende Dinge sind hier zu nennen. Ereignisse und Menschen sind über die irdischen Maße hinausgehoben, mehr als in den altertümlicheren Isländersagas. Die Heldentaten Gunnars in den drei Krummachgefechten, die Karis in seinen drei Rachekämpfen, gemahnen schon sehr an Heldendichtung, und auf einer Linie damit steht der Gewaltritt durchs pfadlose Hochland, den Flosi in dreißig Stunden ausfahrt (Kap. 124, 126). Der Wurf mit dem Backenzahn Kap. 130, das rauschende Blut in Höskulds Mantel Kap. 116, der Blutstrom, das einemal aus den Ohren. das andremal aus der Fußwunde Kap. 132, 145: dies und vieles andere ist heroische Steigerung. Über die Bescheidenheit der Natur geht besonders der zweite Hauptteil oft und mit Bewußtsein hinaus . (von den Zügen volkstümlichen Aberglaubens sehen wir ab; darin hält die Njala Maß.) Unter den Gestalten nähern sich mehrere dem Idealtypus, nach der guten oder bösen Seite; zumal Kari hat die Grenze schon überschritten: das ist kein Charakter mehr, sondern ein transparenter Ritter ohne Furcht und Tadel. Der Kontrast zwischen den geliebten Helden und



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den ungünstig beleuchteten Gegenspielern ist stärker. rechtwinkliger, als wirs sonst auf Island gewohnt sind; die gerühmte "gemischte Zeichnung" der Sagas würde ihre Beispiele nicht vorzugsweise aus der Njala holen.

All dies hinterläßt den Eindruck — bei dem Leser, der nicht etwa vom Ritterroman oder Heldenepos herkommt, sondern von den nüchternen Sagas —: unser Denkmal ist vor allem als Dichtung, als dichterische Menschenbildnerei zu würdigen. Die isländische Familiengeschichte, hat man gesagt, ist halb Chronik; halb Roman; als Chronik hat sie begonnen und hat sich, hier mehr, dort weniger, zum Roman hinüber entwickelt. Diesem Endpunkt ist keine der bedeutsamen Sagas so nabe gekommen wie unsre Njala. Aber vergessen wir nicht: für den Erzähler war dies kein Gegensatz, geschweige ein Widerstreit. Er glaubte immer noch "Geschichte" zu geben; und seine Landsleute glaubens ihm bis auf den heutigen Tag. Wie ernst er es mit seinem Thronistenamte nahm, zeigt am besten sein Eifer für die Stammbäume: merkwürdig, daß diese Saga, die sich am wärmsten um das Seelenleben bemüht, zugleich ihre Gestalten am freigebigsten mit den sachlichen, seelenlosen Namenreihen behängt!

Die Glaubwürdigkeit im einzelnen können wir hier, wie bei den andern Isländergeschichten, nur sehr selten einmal kontrollieren . Nennen wir aus dem Besiedelungsbuch die zwei vielsagenden Abweichungen In dem Gefecht von Kap. 63 fällt nach dieser ältern Ouelle Egil mit einem Knecht und zwei Norwegern: in unsrer Saga fallen vierzehn Gegner! Unter den Angreifern von Haldenende (Kap. 76 f.) nennt das Besiedelungsbuch den Häuptling Asgrim Ellidi-Grimssohn und gibt an, Gunnar sei mit einem erwachsenen Mann im Hofe gewesen: die Njala zeigt uns Asgrim als Gunnars guten Freund (Kap. 60 f.), und für ihr berühmtes Kap. 77 ist es wesentlich, daß Gunnar als einziger Mann den Angriff besteht . Dies gibt einen Wink, wie tief die dichtende Umbildung gegriffen haben mag; es beleuchtet an zwei zufälligen Stellen jenen Übergang von der Chronik zum Roman!

Das Stück aus der Brjansgeschichte (s. o.) können wir ausnahmsweise



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messen an einer fremden Ouelle, einer irischen Chronik des 11. Jahrhunderts, wobei sich starke Verschiebungen gen, aber auch nahe Anklänge ergeben.

Auf einige Zeitwidrigkeiten im Zuständlichen weisen die Fußnoten hin. Eine Besonderheit unsrer Saga ist dies, daß sie keine klare Anschauung von ihrem Hauptschauplatz hat. Sobald die Krummach auftaucht, will es irgendwie nicht stimmen. Die Verschweigung der Zwerchach (Thvera) erklärt man daraus, daß dieser breite Wasserlauf, eine Abzweigung vom Waldstrom, erst im 18. Jahrhundert entstanden ist: die alte Thvera war ein kleinerer Fluß westlich von Haldenende. Ein paarmal wäre man versucht, diese Thvera der Krummach unterzuschieben; aber dem stehn andre Angaben entgegen. Weniger zu bedeuten hat es, daß der Erzähler bei dem fast flach gelegenen Hof Bergthorsbübl einen Hügel und eine Talsenkung annimmt (Kap. 44, 128). Da von den nicht-südländischen Gegenden die im Ostland weitaus am genauesten behandelt werden (Kap. 130), mag der Verfasser dort zu Haus gewesen sein. Mit dem Alldingfelde ist er bis ins einzelne vertraut .

Dass wir die Niala nicht als Chronik oder aktenmäßiges Geschichtswerk nehmen, hindert uns nicht, eine sittengeschichtliche Urkunde ersten Ranges in ihr zu verehren. Nur darf man nicht an einen bestimmten Zeitraum denken: weder das Island um (die Zeit der Ereignisse) noch das Island um 1300 (die Zeit der Abfassung) zeigt uns hier seine Sitten und seine Denkweise. Es ist eine Mischung; den Grundbestand gibt das Volk des ausgehenden Heidentums und der beginnenden Christenzeit; die menschliche Durchleuchtung, die äußern Rechtsformen und manche Einzelheit hat ein späteres Zeitalter beigesteuert.

Die heidnischen Ideale der Tapferkeit, des Ehrgefühls, der Hochherzigkeit und Treue gegen die Freunde kommen zu so beredtem und mannigfaltigem Ausdruck wie in keinem andern Werke der germanischen Literaturen. Die zwei alten Urmotive der Heldendichtung, Rache und Todesmut, werden hier noch



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einmal aus dem vollen abgewandelt auf dem Boden einer erdenfesten Bauerngemeinde. Das sind die beiden Oberstimmen in dem vielstimmigen Chor. Und diese außerchristlichen Ideale formt unser Erzähler mit einer Andacht, einer hingebenden Innigkeit, deren erst ein rückblickender Christ fähig war. Wieder muß man andere Sagas (etwa die von Thule Band 3, 5, 7) daneben halten, um die rechten Maßstäbe zu gewinnen. Der ethische Idealismus des Christentums hat die Schwingungen der nordischen Seele bereichert — und der so bereicherte Klang preist in unserm Denkmal den heidnischen Lebens inhalt! Ein Geistlicher — unter diesen werden wir den Autor zu suchen haben —erhebt diesen sehnsüchtigen Abschiedsgruß an die heroische vorzeit

Aber auch bewußt christliche Gesinnung hat er eingelassen. Der Gode Höskuld will von den Ziehbrüdern lieber den Tod leiden, als ihnen Böses antun, und er stirbt mit den Worten des gekreuzigten Jesus (Kap. 109, III); der alte Hall bekennt sich vor dem Ding zu "kleiner Leute Art" und verzichtet auf Buße für den erschlagenen Sohn um des Friedens willen (Kap. 145). Das sind die zwei weithin sichtbaren christlichen Handlungen in unsrer Saga. Daneben gibt es Mischungen — mit überwältigender Treuherzigkeit vorgetragen: christliche Ranken legen gieb lose über das heidnische Gestein. Man lese die schlimmheilige Legende in Kap. 106 oder das Gespräch von Kap. 107 oder Flosis Bedenken gegen den Mordbrand (Kap. 128 Ende) oder Njals Jenseitstrost (Kap. 129) — dem das wundervolle, schlichte Heidenbekenntnis folgt, eh' er in die Flammen zurücktritt.

Der christliche Höskuld aber bleibt eine blasse, unbelebte Gestalt neben dem unheimlichen Heiden Skarphedin, und der Mann, an dem unser Erzähler in unverhohlener Bewunderung emporschaut, Kari, erwidert Haus Friedensgesuch mit den Worten: "mögen alle andern sich vertragen, so will doch ich mich nicht vertragen" und hält mit seinem unlöschbaren Rachedurst die Spannung der Saga bis zum vorletzten Kapitel fest. In den blutigen Kämpfen wird unserm Geistlichen wohl; er beschreibt sie verweilend und kennerhaft, für die



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Hiebe und Stiche und Schüsse findet er immer neue Spielarten . Seine Geduld in der Gefechtsschilderung dauert die Kampflust seines Lieblings Kari aus. Möge auch dem Leser diese Geduld zur Seite stehn! Es fließt viel, sehr viel Blut in - der Njala... Es ist noch ganz jene Welt des Faustrechts, wo der Mann seinen Wert mit der Waffe bestimmt. Und doch, zwei Gipfelgestalten des Werkes ragen darüber weg. Der Mann, nach welchem die Saga nicht mit Unrecht benannt ist, Njal, nimmt keine Waffe in die Hand; nicht einmal auf Kriegstaten aus seiner Jugend wird angespielt. Sein geistiges Gewicht verdankt er seiner ahnungsvollen Weisheit, seiner Rechtskunde ; seiner Hilfsbereitschaft und Friedensliebe. Freilich, was wäre Njal, wenn seinem gutheidnischen Sinn für Ehre nicht die Vollstrecker zur Seite ständen, die kühnen, kampftüchtigen Söhne: (vgl. Kap. 40, 44 Ende; 45, 78 Anfang, und besonders Kap. 91, 99 Ende). Der zweite ist Gunnar, dieser waffengewaltigste, unwiderstehliche Held in unsrer Geschichte, der Sigfrid in isländischer Großbauerntracht. Auch er zwar muß seine Wikingtaufe nehmen, aber zu Haus möchte er Frieden balten mit jedermann, und aus seinem Munde kommt der persönlichste, empfundenste Ausspruch der ganzen Saga: man lese ihn am Schluß von Kap. 54 nach.

Wir müssen es dem Leser überlassen, die vielen Menschenbilder zu betrachten und sich die Frage zu stellen, wie weit sie als schattierte Charaktere anmuten, wieweit als einfarbige Typen. Die Nebenpersonen der isländischen Saga sind ja meistens gattungs- haftvereinfacht; eine leuchtende Ausnahme unsrer Erzählung ist der Björn aus Wald, Kap. 148 ff., der nach dem vielen herben Spott endlich noch die gutmütige Schalkhaftigkeit hereinbringt . Daß auch die Hauptpersonen der Njala, verglichen mit denen der älteren Sagas, so oft wie auf Goldgrund dastehn, beruht auf der sittlichen Reizbarkeit dieses Verfassers: man muß es ihm nacherleben können, wie er sich ein Fest macht an dem Edelmut seiner Helden. Man käme unserm Künstler nicht entgegen, wenn man nur seine realistischen Profile gelten ließe. Im Grund seiner Seele ist er Idealist und will erhebende Gesinnungen verkörpern. Aber daß er Isländer ist



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und sich an der Saga geschult hat, sehr viel weniger an Bibel und Ritterpoesie, das rettet ihn vor jener traktätchenhaften Schwarzweißmanier. Zum Zeugnis nehme man die vier gefährlichsten Subjekte der Geschichte: Thjoitolf, Hrapp, Mord, Skamkel. Nur der letzte ist Bösewicht ohne Klausel, und er steht überhaupt nicht lange auf der Bühne; den anderen fehlt es nicht an menschlicher Rundung. zumal die beiden ersten vertreten jene Raubtierspielart, die ein starker Zusatz von Frankheit und Noblesse vom "Schurken" abrückt.

viel Blick für die Frauennatur hat der verfasser nicht. Gewiß, einige der prächtigen Momente werden von Frauen getragen (Kap. 44 zweite Hälfte, 98, 116, 124); aber das bleibt "Rolle" ist der herkömmliche Zug des racheheischenden Weibes, und die Erfindungskraft wirft sich auf die äußern Umstände. Am meisten Eigenwärme erreichen Bergthora und die Nebenfigur Walgerd (Kap. 148 ff.). Aber mit dem altisländischen Frauenschilderer — in der Lachsachtalgeschichte —darf man nicht vergleichen, auch die Saga von Gisli gebietet über weiblichere Töne, und der packende Frauenzank von Kap. 35 steht an Feinheit und Frauenhaftigkeit zurück hinter dem Gegenstück in der Lauterseegeschichte (Thule Bd. 11). Recht starr bleibt Hallgerd. Stück 2 bringt gute Ansätze; man wäre auf die weibliche Hauptrolle in Gunnars Leben vorbereitet. Aber da ist es, als ob Gunnar und Njal allen Anteil des Erzählers an sich rissen: Hallgerd ist ibm nur noch die berufsmäßige Unheilstifterin. Ihren Diebstahl, eine nach dieser Kriegerethik schlechthin ehrlose Tat, aus dem Menschen hervorwachsen zu lassen: das war für dieses Zeitalter eine kaum lösbare Aufgabe; unser Autor hilft äch mit der fatalen Naturanlage (Kap. 1). Aber auch die Schadenfreude bei Gunnars Tod wirkt wie ein Gewaltstreich des Erzählers, und wenn er schließlich noch das Gerücht bucht, die großmütterliche Matrone habe sich an Hrapp hingegeben (Kap. 88), nimmt sich das beinah aus wie Rache an einer mißliebigen Gegenspielerin ! Irrig wäre es, in den Bosheiten der Hallgerd das Ausschlagen der unbefriedigten Gattin, einer Hedda Gabler, zu sehen. Der Gedanke ist offenbar, daß die Ehe mit Gunnar ihr genugtut (die einzelne Schelte Kap. 38



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Ende bildet keinen Einwand); aber ihr Starrfinn scheut nicht davor zurück, die Freunde des Gatten zu befehden, und ihre Diebsanlage bringt ihn in ernste Ungelegenheit. In der Gunnar-Njalsgeschichte ist überhaupt das Gattenverhältnis Nebensache. Die menschliche Beziehung, die die stärksten Akzente trägt, ist die Freundschaft, daran angrenzend die Parteigenossenschaft, Kriegskameradschaft. Die Njala ist eines der gewichtigen Zeugnisse dafür, welche Macht die Freundschaft —auch die nicht auf verschwägerung oder Ziehbruderschaft ruhende —im altnordischen Leben darstellte.

An der Erzählweise der Njala wollen wir hervorheben, was nicht auf die weltliche Saga im ganzen zutrifft. (von den Rechtsformeln ist jetzt nicht mehr die Rede; die sind ein Gewächs für sich.)

Daß wir eine vorgerückte Stufe, keine simple Volksprosa, vor uns haben, zeigt sich u. a. daran, wie oft die Handlung mehrsträngig geführt wird, ohne daß Verwirrung entsteht (gute Beispiele Kap. 12, 53f., 131 —37).

Mit bewußter Kunst handhabt der Erzähler die spannungweckende Vorbereitung eines Ereignisses, das dann ungeahnt durchkreuzt wird. Die beiden Hauptfälle sind Kap. 75 und 123, beides Höhepunkte altisländischer Erzählungskunst.

Weniger glücklich ist der verfasser, wo er spitzfindige Intriguen baut. Er hat eine verhängnisvolle Neigung dazu, aber mit der Überzeugungskraft hapert es meist; Snorri versteht diese Dinge besser! Man sehe sich daraufhin an Kap. 69f., 92, 107 —10, III f. (Mord als Kläger), besonders aber Kap. 22 f., diese Maskerade, die jedem andern besser säße als einem Gunnar!

So vielseitig die Njala ihre Gestalten mittelbar, durch Rede, Handlung, Urteile Dritter, zu beleben weiß, macht sie doch von der unmittelbaren, unepischen Charakteristik verhältnismäßig breiten Gebrauch: Kap. 1, 19, 20, 25 u, ö,

Die Ausführlichkeit der Njala ist außergewöhnlich, an den andern Sagas gemessen. Sie kennt im allgemeinen keine Sprünge sie pflegt nicht zu sagen: "aber als sich A und B auf dem nächsten Ding trafen, besprachen sie dies", sondern "setzt ver



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strich dieses Jahr, und es kam die seit, wo man aufs Ding ritt. A ritt aufs Ding.. Auch B ritt aufs Ding. Auf dem Ding war es eines Tages, daß A zum Zelte des B ging. . . . ." Da dieses verfahren leidlich durchgeführt wird, gibt es der Saga eine epische Stetigkeit, einen ruhigen, zuweilen etwas seichten Fluß. Sehr weit gebi dieses Eintragen der unbedeutenden Zwischenglieder gleich in Kap. 2f. man merkt dem Verfasser ordentlich an, daß er auf Breite ausgeht und das Maß noch nicht gefunden bar in dieser Technik hätte der Njalastoff Bände verschlungen Auch später kommt noch ein paarmal ein Rückfall in diese geruhlich strichelnde Manier (in Kap. 6, 21, 26f: da ist vielleicht eine Pause im Schreiben vorangegangen. Die Stellen in ungewöhnlich raschem Tempo sind meist die; die auf Rede und geschauie Szenen überhaupt verzichten, nur summarisch referieren (z. B. Kap. 12 Schluß, 18, 45 Schluß, 47 Anfang, 65 Schluß, 7i zweite Hälfte u. ö. ): diese Stellen dünnen Berichts nehmen sehr wenig Raum ein; unter den größern Isläudergeschichten hat wohl keine den Stoff so gleichmäßig in erlebte, geschaute Auftritte umgesetzt.

Aber auch die ausführlichen Strecken wirken nie schwer und stockend. Die Njala hat einen eigenartig leichten, elastischen Schritt. Das liegt zum guten Teil an ihrem Dialog und ihrem Satzbau.

Dem Dialog der Njala fehlen nicht ganz die längern Ansprachen: sie enthalten meist nachdenkliche Belehrung, entwickeln irgendeine schwierige Sachlage (Beispiele in Kap. 64, 67, 91, das Monstrum Kap. 22). Aber das ist Ausnahme. Kennzeichnend für die Njala ist das leichtgegliederte Gespräch, die Repliken kurz, oft nur ein paar Wörtchen —"so ist es", "das ist schlimm" —, wo andre Sagas zur redelosen Umschreibung greifen. Das wirkt lebendig, naturtreu; mitunter auch dramatisch. Und es gibt den kurzen und langen Gesprächen der Njala jene schlanke, bewegliche Haltung.

Als besondere Würze kommt oft dazu eine geistreiche Zuspitzung des Ausspruchs, ein spöttischer Doppelsinn, eine drohende Verschleierung, ein außeralltägliches, anspielungsreiches Wort. Beispiele bietet besonders die Gunnarsgeschichte (Stück 4



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bis 6) in Menge —soweit es der verdeutschung gelungen ist, diese geschliffenen Edelsteinchen einigermaßen nachzubilden (gehäuft stehn sie z. B. in Kap. 38). Diese boshaften Stachelreden gehören zum Werkzeug des isländischen Sagamanns ; vortrefflich gebraucht sie die Grettissaga. Aber die Njala ist darin die Meisterin. Sucht man sich klar zu machen, worin eigentlich der besondere, nicht gattungsmäßige Reiz dieses Werkes liegt, so kommt man auf die Antwort: in dem ethischen Enthusiasmus (der "schönen Seele") dieses Schriftstellers - und in seinen spitzen Redepfeilen.

Als drittes aber muß man nennen die naturfrische Sprache mit ihrem gewichtlosen Satzbau. Der reine Sagastil im ganzen unterscheidet sich von der Erzählprosa andrer Literaturen durch seine feiluftige Unbuchmäßigkeit. Aber es gibt da auch Stufen; und die Njala bezeichnet einen Endpunkt. Nirgends ist der Satzbau so einfach, so arm an vielgliedrigen Perioden Das entspringt der Nachbildung des mündlichen Erzählens-Es mag planmäßige Nachbildung sein: der verfasser hat den Reis davon empfunden und die vielstöckigen Sätze, die ja auch dem Naiven ab und zu auf die Lippen kommen, ausgesiebt — fieilich nicht ganz folgerecht und im spätern Teil seines Werkes weniger als zu Anfang (es ist, als hätten die bleiernen Rechtsformeln allmählich auch den Erzählschritt ein wenig beschwert). Außerdem spart er ganz erstaunlich mit vorangestellten und namentlich mit eingeschobenen Nebensätzen 1.

Darin liegt ein stilvoller Naturalismus. Diese Prosa ist ja in gewissem Sinne kindlich. kulturlos: sie hat gar kein Ohr dafür, daß man im Wortschatz wechseln könnte; und die Aufreihung der Sätze, bald mit endlosen "und's", bald ohne Bindeglied, die Beiordnung statt Unterordnung, die bloße Abdachung statt des Auf- und Absteigens: das sind unleugbare Kunstlosigkeiten. Aber — es atmet die Sprache des Lebens; darin liegt



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sein Rechtstitel. Und das Denkwürdige ist nun: die Njala, die in manchem Betracht über den Vortrag des schreibeunkundigen Sagamanns am weitesten hinausgeschritten ist, die Njala, dieses Werk aus der Schreibstube eines Geistlichen, sie hat sich von dem geistlichen Periodenbau am wenigsten anstecken lassen, hat die simple Sprache des Sagamanns am zähesten festgehalten ! Daß dies nicht bloßes Ungeschick war, verbürgt uns die mit Recht bewunderte Wortstellung unsres Autors: ausdrucksvoll, rhythmisch fallend. Wer so schreiben kann, hätte sich auch Schachtelsätze angewöhnen können, wenn er wollte Leider können wir diese schmiegsame Wortstellung im Deutschen oft nur auf Umwegen, oft gar nicht nachbilden.

Dagegen das Satzgefüge mit seinen eben erwähnten Eigentümlichkeiten, sowie den abwechslungsarmen Wortschatz, dies hat unsere Übertragung zu bewahren gesucht bis an die Grenze des Erträglichen, —vielleicht findet mancher Leser: über diese Grenze hinaus. Aber er spreche die Sätze, er verwandle sich im Geist in einen erzählenden Bauer: dann nimmt sich manches anders aus. Die Rhetorik Roms beherrscht schier alle europäische Prosa: man freue sich doch, wenn einmal ein ernsthaftes Denkmal so unrömisch ist!

Wir haben hier immer von dem einen "verfasser" gesprochen . von zwei größeren Stücken nahmen wir an, daß er sie nicht selbst verfaßt, aber aufgenommen hat. Für alles übrige gilt uns dieser Mann gegen 1300 als Urheber.

Allein, keine Isländersaga ist so das Werk eines Einzelnen wie ein Scottscher Roman. Unser Autor hat eine Saga von Gunnar und eine Saga von der Verbrennung Njals vorgefunden, wahrscheinlich als zwei getrennte Werke und in schriftlicher Gestalt. Wie diese älteren Werke geartet waren, ahnen wir nicht. Daß der Geistliche gegen 1300 nicht nur verbunden und bearbeitet hat; daß er ein schöpferischer Schriftsteller wau und auf den Namen eines verfassers Anrecht hat wie nur einer im Umkreis der Familiengeschichten: dies folgern wir daraus, daß so viele eigenartige Züge durch die beiden Hauptteile mitsamt den zwei Einleitungsstücken durchgehen. Die wichtigeren haben



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wir angeführt. Mehreres davon durchdringt den Körper der Saga, gibt ihr das Gepräge.

Also der Ungenannte gegen 1300 hat den Njalastoff nach seinem Geschmack und Formgefühl gestaltet. Man empfand seine Schöpfung als überlegen; denn sie ist in einer für Island unerhörten Abschriftenzahl erhalten, wogegen jene Vorgänger der Vergessenheit verfielen. Ja, man ließ, wie es scheint, dem verfasser nicht einmal Zeit, sein dickes Pergamentbuch, an dem er gewiß Jahre gesessen hatte, noch einmal glättend zu durchlaufen: eine ziemliche Zahl von Unebenheiten ist stehn geblieben . Menschen werden doppelt und dreifach eingeführt, was sehr gegen die Art der Sagas ist; oder einer wird verabschiedet, obwohl er dann noch dreimal auftaucht (Kap. 80), u. ä. m. Das sind die sprechenden Zeugen der Kladde —den beliebten Sündenbock, genannt Interpolator, darf man hier ruhen lassen! Allem Anschein nach haben wir die Njala ziemlich so, wie sie aus der Feder des Meisters floß.

Wieviel nun aber dieser Schöpfer unsrer Njala im einzelnen schon vorgefunden hat an Charakteren, Auftritten, Reden, das bleibt uns dunkel —soweit nicht jene"eigenartigen Züge" ins Spiel kommen. Wo wir auf Ungleichheiten stoßen. können sie daher rühren, daß zwei verschiedene Quellenwerke und als Drittes unser abschließender Schriftsteller zusammentrafen.

Für Stück 1-3 und für die Auslandskapitel 82 —90 dürfte die Überlieferung am dünnsten geflossen sein. Da wird unser Verfasser am freiesten aus eigner Eingebung geschaffen haben. Die Sprache ist da am leichtesten, plansten. So geistreich manches erzählt ist (wie die Geschichte von Hrapp): auf seine volle Höhe kommt der Autor da, wo ihm seine Quellen — eine zweihundertjährige Erzählerwirksamkeit —ausgiebig vorgeschafft haben wo er gemünztes Gold neu prägt. Dergleichen ist öfter an den Schriftstellern des Mittelalters zu beobachten.

Die eigentliche Njalsgeschichte (Kap. 91 —152) ist etwas lastender, zähflüssiger als die Gunnarsgeschichte; sie strebt mehr nach dem Schaurigen und nach der effektvollen Szene; sie hat manches, was man —ohne Lob noch Tadel —barock nennen kann Der erste Hauptteil wirkt lichter, müheloser, frühlingshafter.



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Den Wert der beiden Teile kann man kaum gegen einander verrechnen. Der zweite ist der stofflich gewichtigere; er hat seine tiefe Tragik, die ergreifenden Schicksalsschläge. Sollte man einer größeren zusammenhängenden Strecke nach der Darstellungskunst den Preis reichen, so würde der Übersetzer Stück 4 wählen. Hier istein mäßig bedeutsamer Stoff — eine Reibe von Totschlagen an Personen, die uns nicht sonderlich nahe gebracht sind —allein durch die Art der Behandlung interessant gemacht: durch die quellende Erfindung in den äußeren Kleinigkeiten , die feine Kontrastierung der flüchtigen Rollen, die mitreißende Steigerung von dem Sklaven bis zu dem stolzen Vetter Sigmund —daneben die wiederkehrenden Versöhnungsszenen auf dem Allding, wo die Spannung ins Geistige verlegt ist, auch sie variiert und gesteigert; dazu die federnde Leichtigkeit der Diktion, namentlich der Reden: —ein gutes Musterblatt für das Eigene an unsrer Njala.

Die Anlage der Sammlung Thule gebot es, eine treue Übersetzung , keine Bearbeitung, zu geben. Sonst hätte es nahe gelegen , den Bekehrungsabschnitt und die Brjansschlacht durch ein paar kurze Wendungen zu ersetzen, die beiden vorgeschichten zu beschränken, auch die Wikingfahrten, die Prozeßschilderungen und die Stammbäume kühnlich zu beschneiden. Kein Zweifel, daß die so gekürzte Saga die Gunst des heutigen Lesers leichter errungen hätte. Aber es wäre ein Werk geworden, das niemals so bestanden hat. Zu einer vorstufe der überlieferten Njala würden wir damit nicht zurückdringen, und wir können das auch nicht wollen, weil wir in dem letzten Verfasser nicht nur einen Erweiterer, sondern den geistigen Neuschöpfer des großen Werkes sehen.

Die vorliegende Übertragung gründet sich auf den Urtext in der Ausgabe von Finnur Jónsson, Brennu-Njálssaga (Njála), Halle 1908. Selten wurden Lesarten verwendet aus der Kopenhagener Ausgabe von 1875.

Die verdeutschung der Strophen verdankt der Leser der Kunst Felix Niedners. Das Walkyrjenlied in Kap. 157 ist dem zweiten Teile von Felix Genzmers Edda (Thule Bd. 2) entnommen.



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Der Schauplatz der Hauptgeschichte ist das isländische Südland im engern Sinne, d. h. das Hinterland der Südküste, da wo sie in der Richtung Südost-Nordwest läuft. Größere und kleinere Ströme durchziehen dieses flache, von Hügelgruppen und mächtigen Gebirgsstöcken umgebene Schwemmland: genannt werden der Waldstrom (Markarfljot) im Osten, dann die (östliche) Krummach (Eystri Ranga), die Stierach (Thjorsa) und als westlichster die Weißach (Hvita). Gunnars Hof Haldenende (Hlidarendi) liegt an der Stromhalde (Fljotsblid), dem Abhang, der nördlich vom Waldstrom in ostwestlicher Richtung streicht. 22 Kilometer westsüdwestlich von Haldenende, ganz nah dem Meere, liegi der Hof Njals, Bergthorsbühl (Bergthorshvoll). Am meisten nach Nordwesten, 60 —75 Kilometer nördlich von Bergthorsbühl, liegen die Wohnsitze der Häuptlinge Asgrim, Gizur und Geir. Für die übrigen Örtlichkeiten des Südlandes verweisen wir auf die Kartenskizze und die Fußnoten.

Das Feld des Alldings (Thingvellir), das so viele und bedeutsame Auftritte unsrer Saga trägt, liegt in nordwestlicher Richtung von der großen Stromebene. Sein Abstand von Haldenende mißt in der Luftlinie 90 Kilometer, von Bergthorsbühl 80 Kilometer.

Ins Westland führen Stück 1 ,2 und 8. Es sind Gegenden, die der Thuleleser besonders aus Band 3 6 und 7 kennt.

Im Ostland, d. h. im östlichen Teil der Südküste und an den Föhrden der Ostküste, wohnen Flosi, Hall und die in Kap. 123 besuchten Männer. Auch Stück 8 setzt im Osten ein, und die Kämpfe von Kap. 146, 150, 141 spielen im Hinterland von Islands südlichster Ausbuchtung.

Das eigentliche Nordland, dessen Häuptlinge auch auf den Dingszenen erscheinen, betreten wir nicht.


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