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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


30. Die abgeschlagene Hand

Ein junger Mann aus einer angesehenen Familie war immer noch nicht verheiratet. Die Eltern drängten ihn, eine Frau zu wählen. Er aber ging immer seiner Arbeit nach und dachte nicht am Heiraten.

Der junge Mann führte alle Tage seinen Maulesel zu einer Quelle und ließ ihn da saufen. Eines Tages brachte er den Maulesel wieder dahin; als das Tier aber mit dem Kopfe am Wasserspiegel war, fuhr es zurück und wollte nicht saufen. Der Bursche nahm darauf einen Stock und strich damit durch das Wasser, um zu sehen, was sich darin befände und dem Tier die Lust am Saufen benehme. Mit dem Stock zog er zuletzt ein Haar heraus. Es war ein Frauenhaar, und zwar ein so langes, daß der junge Mann erstaunte und es lange betrachtete. Endlich sagte er: "Die Frau, die so lange Haare hat wie dieses hier, die will ich heiraten; diese und keine andere."

Der Bursche verwahrte das Haar und kehrte ins Dorf zurück. Er ließ nun alle Mädchen kommen und maß an dem mitgebrachten Haare, wie lang die ihren waren. Er fand aber kein einziges Mädchen, das so lange Haare gehabt hätte. Er kam betrübt nach Hause und schwor: "Ein anderes Mädchen als das, welches Haare hat, solang wie dieses hier, heirate ich nicht."

Der Bursche trat in das Haus. Hinter der Tür stand seine Schwester Sergma mit dem Rücken dem Bruder zu und kämmte sich die Haare. Der Bursche sah die Haare. Er zog das heraus, das er in der Quelle gefunden hatte und maß das Haar seiner Schwester Sergma. Er sah, daß seine Schwester das lange Haar hatte. Er sagte bei sich: "So werde ich also meine Schwester heiraten." Er ging zu seinen Eltern und sagte: "Rüstet das Fest. Ich werde heiraten. Aber wen ich heirate, das werde ich nicht sagen." Die Eltern rüsteten das Fest. Der Bursche rüstete sich zum Fest. Die Schwester Sergma rüstete sich zum Hochzeitsfest ihres Bruders. Niemand wußte, wen er heiraten wollte.

Die Schwester Sergma fütterte die Hühner und sagte bei sich: "Wen will mein Bruder nur heiraten?" Ein Huhn sagte: "Gib mir einige Körner Weizen, dann will ich dir sagen, wen dein Bruder heiraten



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will."Sergma gab dem Huhn Weizenkörner. Das Huhn sagte: "Dein Bruder will dich heiraten." Sergma sagte: "Das glaube ich nicht."

Die Schwester Sergma fütterte den Esel und sagte bei sich: "Wen will mein Bruder nur heiraten ?" Der Esel sagte: "Gib mir eine Handvoll Weizen, dann will ich dir sagen, wen dein Bruder heiraten will." Sergma gab dem Esel Weizenkörner. Der Esel sagte: "Dein Bruder will dich heiraten." Sergma erschrak.

Sergma floh. Sergma floh auf einen Felsen und versteckte sich auf einem Baume. Ein Hirt kam vorüber. Sie rief den Hirten an und sagte: "Gehe hinab und sage meinem Vater und meiner Mutter, daß ich mich hier versteckt habe. Sage diesen beiden, daß sie kommen möchten, weil ich ihnen Lebewohl sagen will." Der Hirt ging. Er sagte es den Eltern aber nicht, als sie allein waren, sondern als der ältere Bruder, der sie heiraten wollte, und der jüngere, der noch nicht erwachsen war, dabei waren.

Da gingen die beiden Eltern und die Brüder hinauf zu dem Felsen, dahin, wo Sergma sich auf der Pappel versteckt hatte. Die Eltern baten Sergma, wieder nach Hause zurückzukehren. Sergma sagte: "Nein, ich kann nicht." Der jüngere unerwachsene Bruder reichte ihr die Hand herauf und sagte: "Lebe wohl." Da packte den älteren Bruder die Wut, da er Sergma, seine eigene Schwester, die er heiraten wollte, sich nun entgehen sah. Er zog sein Messer und schlug Sergma die Hand, die sie dem jüngeren Bruder herabreichte, ab. Die abgeschlagene Hand fiel den Felsen hinab in den Abgrund und unten in das Nest eines Raben. Sergma aber schwor und sagte zu ihrem Bruder: "Du sollst elend werden! Deine Knie sollen werden wie abgeschlagen, so daß du nicht gehen und nicht kriechen kannst, bis meine Hand wieder am Arm ist."

Die Eltern flohen. Die beiden Brüder flohen. Als der ältere Bruder daheim ankam, fiel er zu Boden. Seine Knie waren wie abgeschnitten. Er konnte von da an nicht mehr gehen.

Sergma floh. Sergma lief über die Berge und über fremde Felder. Auf der anderen Seite der Berge traf sie auf dem Feldweg einen Mann. Der Mann sah, daß Sergma schön war und er sagte zu ihr: "Ich habe schon eine Frau. Ich frage dich, ob du meine zweite Frau werden willst." Sergma sagte: "Ich habe keine Eltern. Ich habe keinen Vater, bei dem du nach mir fragen kannst. Ich habe nur eine Hand, denn die andere ist abgeschlagen. Du triffst mich auf dem



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Felde und willst mich vom Felde weg heiraten! Soll das ein gutes Ende nehmen können?"

Der Mann drang in Sergma, seine Frau zu werden. Sergma hatte keine Angehörigen, zu denen sie fliehen konnte. Sie hatte kein Haus, in dem sie hätte Aufnahme erbitten können. Der Mann war freundlich zu ihr. Sie willigte ein. Sie wurde die zweite Frau des Mannes.

Die erste Frau des Mannes war unfreundlich. Die erste Frau war mit dem, was Sergma tat, nie einverstanden. Die erste Frau und Sergma stritten sich stets. (N. B. wie das in allen polygamischen Kabylenehen ist. Die Weiber keifen gegeneinander vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein.) Die beiden Frauen waren stets uneinig und machten so viel Geräusch, daß der Mann es nicht mehr mit anhören konnte. Die erste Frau kam einmal zu ihrem Mann und sagte: "Du kannst das Gezänk nicht mehr hören. Jage eine von uns beiden fort. Gib uns morgen Wolle zum Waschen und sage, daß die, die mit der gewaschenen Wolle zuerst zu dir zurückkommen werde, bei dir bleiben dürfe, daß du aber die andere verjagen wollest." Der Mann sagte: "So will ich es einrichten." Die erste Frau sagte bei sich: "Die Sergma wird mit der einen Hand nicht so schnell fertig werden!" Der Mann dachte nicht an die abgeschlagene Hand.

Am anderen Tage gab der Mann beiden Frauen den gleichen Pack Wolle und sagte: "Geht hin zu dem Flusse und wascht das. Wer damit zuerst fertig wird, der kann bei mir bleiben, die andere muß mein Haus verlassen." Die beiden Frauen nahmen die Wolle und stiegen auf verschiedenen Wegen zum Flusse herab. Sergma weinte. Sie dachte an ihre Hand. Da kam ein Rabe geflogen. Der Rabe sagte: "Gib mir doch einige Flocken Wolle, damit ich mein Nest bauen kann." Sergma sagte: "Da nimm." Sie gab dem Raben. Der Rabe sagte: "Warte, ich komme gleich wieder." Der Rabe flog fort. Er kam wieder. Er brachte Sergmas Hand. Er setzte Sergma die Hand an. Sergma lachte. Sergma sprang zum Flusse herab. Sie war mit dem Waschen der Wolle bald fertig. Sie kam zurück. Der Mann empfing sie. Als die erste Frau sehr viel später kam, sagte der Mann zu ihr: "Du hast es selbst so gewollt." Die erste Frau mußte gehen.

Sergma blieb bei dem Manne. Sie hatte bald zwei Kinder, zwei Knaben, die heranwuchsen. Einmal war der ältere Knabe ungezogen. Er beschimpfte seine Mutter und sagte: "Du hast keine Verwandten. Mein Vater hat dich auf dem Felde aufgelesen!" Sergma ging zu ihrem Manne und sagte: "Gestatte mir, daß ich mit unseren



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Knaben einmal eine Wanderung zu Verwandten unternehme?" Der Gatte sagte: "Ich habe nichts dagegen."

Sergma machte sich auf den Weg. Sie ging mit ihren Knaben in las Dorf ihrer Eltern. Sie sagte unterwegs zu ihrem jüngsten Kinde: ,Heute abend bitte mich, dir eine Geschichte zu erzählen." Das Kind sagte: "Ich will es nicht vergessen." Sergma kam an das Haus ihrer Eltern. Sie klopfte. Niemand erkannte sie. Sergma sagte: "Ich bin eine Frau, die auf dem Wege in das Haus ihrer Eltern ist, darf ich mit meinen beiden Kindern für eine Nacht hier bleiben?" Die Mutter Sergmas sagte: "Bleibe du nur hier. Schlafe auf dieser Seite. Dort drüben liegt mein kranker Sohn. Ihm sind seit Jahren die Knie wie abgeschnitten."

Sergma setzte sich an das Feuer. Der Vater kam. Der jüngere Bruder kam. Der kleine Knabe Sergmas sagte: "Mutter, erzähl mir eine Geschichte". Sergma sagte: "So höre. Es war einmal ein Mädchen, das hatte lange Haare und es hatte einen Bruder, der wollte sie wegen der langen Haare heiraten. Das Mädchen floh. Die Eltern und die Brüder kamen dem Mädchen nach und der Bruder schlug ihr zum Abschied die Hand ab. Da schwor das Mädchen, daß der Bruder an den Knien krank sein würde, bis sie selbst ihre Hand zurückerhielte. Das Mädchen heiratete. Ihr Mann hatte eine erste Frau, die plagte und quälte die junge Frau und wollte sie dadurch verjagen, daß sie Arbeit verlangte, die die junge Frau mit der einen Hand nicht verrichten konnte. Es kam aber ein freundlicher Rabe, der brachte der jungen Frau die Hand zurück. Da mußte die erste Frau fliehen und die junge Frau hatte zwei Knaben. Das ist die Geschichte."

Die Mutter Sergmas fiel vor der jungen Frau auf die Erde und weinte. Der Vater Sergmas sank hin und glaubte, vor Scham in die Erde kriechen zu müssen. Der Bruder Sergmas erhob sich von seinem Lager und war gesund. Der jüngere Bruder Sergmas wandte seinen Kopf dem Feuer zu und betrachtete sie.

Der älteste Knabe Sergmas sagte: "Mutter, du hast ja auch Verwandte ?"


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