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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE ERZÄHLUNG VON DEM KAUFMANN UND DEM DÄMON

Es wird berichtet, o glücklicher König, daß einst ein Kaufmann lebte, der großen Reichtum besaß und in mancherlei Städten Handel trieb. Nun stieg er eines Tages zu Pferde und ritt fort, um in einigen Städten Gelder einzuziehen; da drückte ihn die Hitze gar sehr. Deshalb setzte er sich unter einen Baum, griff in seine Satteltasche und zog ein Stück Brot und eine Dattel heraus. Er aß das Stück Brot und die Dattel, und als er die Dattel aufgegessen hatte, warf er den Stein fort. Und siehe, da erschien ein Dämon von gewaltiger Größe; der hielt in seiner Hand ein gezücktes Schwert, ging auf den Kaufmann los und sprach: ,Her mit dir, daß ich dich töte, wie du meinen Sohn getötet hast!' Der Kaufmann fragte: ,Wie habe ich deinen Sohn getötet?' Jener antwortete: ,Als du die Dattel aßest und den Stein weg warfst, traf er meinen Sohn auf die Brust, wie er so dahinging; und er starb sofort.' Da rief der Kaufmann: ,Wahrlich, wir sind Allahs Geschöpfe, und zu ihm kehren wir zurück. Es gibt keine Majestät und es gibt keine Macht außer bei Allah, dem Erhabenen, Allmächtigen! Wenn ich deinen Sohn getötet habe, so habe ich ihn nur aus Versehen getötet.



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Ich bitte dich jetzt, vergib mir.' Doch der Dämon schrie: ,Es hilft nichts, ich muß dich töten. 'Darauf packte er ihn und warf ihn zu Boden und hob das Schwert, um ihn zu treffen. Da weinte der Kaufmann und sagte: ,Ich stelle meine Sache Gott anheim', und sprach die Verse:

Die Zeit hat zweierlei Tage: froh die einen, die andern voll Sorgen;
Und zwiegeteilt ist das Leben: das Heute hell, trübe das Morgen.
Wer uns ob der Zeiten Wechsel schmäht, den sollst du befragen:
,Ist's nicht der Edelmensch nur, den widrige Zeiten plagen?'
Siehst du nicht, wenn des Sturmes Winde mächtig erbrausen,
So sind es die hohen Bäume allein, um die sie sausen.
Und siehst du nicht, wie im Meere die Leichen nach oben treiben,
Die kostbaren Perlen aber tief unten im Grunde bleiben?
Und üben ihr grausames Spiel an uns die Hände der Zeiten,
Und will in ewigem Unglück die Trauer allein uns geleiten -,
So wisse: am Himmel stehen der Sterne unzählbare Scharen;
Doch Sonne und Mond allein sind bedroht durch finstre Gefahren.
Wie viel der Bäume, grüne und dürre, sind auf der Erden;
Doch nur die Fruchtbäume sind's, in die Steine geworfen werden.
An heiteren Tagen lebtest du nur in Gedanken der Freuden
Und fürchtetest nicht das böse Geschick der kommenden Leiden.

Als nun der Kaufmann diese Verse gesprochen hatte, sagte der Dämon zu ihm: ,Kürze deine Worte; bei Allah, ich muß dich töten.' Aber der Kaufmann sprach: ,Wisse, o Ifrît, ich habe noch eine Schuld abzutragen, und ich habe vielen Reichtum und Kinder und ein Weib und Unterpfänder; drum erlaube mir, nach Hause zu gehen und einem jeden, der ein Recht hat, sein Recht zukommen zu lassen; und ich will zu Beginn des neuen Jahres wieder zu dir kommen. Allah sei dir mein Zeugnis und meine Sicherheit, daß ich wieder zu dir komme; und dann kannst du mit mir tun, was du willst -Allah ist Bürge für das, was ich sage.' Der Dämon nahm ihm ein bindendes Versprechen ab und ließ ihn ziehen. So kehrte der Kaufmann



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in seine Stadt zurück, erledigte alle seine Geschäfte, gab einem jeden, was ihm gebührte; und er weihte seine Frau und seine Kinder ein, ernannte einen Verwalter und blieb bis zum Ende des Jahres bei ihnen. Dann aber ging er hin, vollzog die religiöse Waschung, nahm sein Leichentuch unter den Arm, sagte seiner Familie und seinen Nachbarn und allen seinen Anverwandten Lebewohl und zog widerstrebend davon. Da begannen sie über ihn zu weinen und zu klagen; er aber wanderte, bis er bei jenem Garten ankam, und jener Tag war der Beginn des neuen Jahres. Und als er dasaß und über sein Schicksal weinte, siehe, da kam ein sehr alter Scheich zu ihm, der eine gefesselte Gazelle führte; und er grüßte den Kaufmann dort und wünschte ihm langes Leben und fragte ihn: ,Weshalb sitzest du ganz allein an diesem Orte, der doch die Stätte böser Geister ist?' Der Kaufmann aber erzählte ihm, was ihm mit jenem Dämon begegnet war; und der Scheich, der Mann mit der Gazelle, staunte und sprach: ,Bei Allah, o Bruder, deine Treue ist wirklich eine überschwengliche Treue, und deine Geschichte eine gar seltsame Geschichte; würde sie mit Sticheln in die Augenwinkel gestichelt, sie wäre eine Warnung für jeden, der sich warnen ließe.' Darauf setzte er sich neben ihn und sagte: ,Bei Allah, o Bruder, ich will dich nicht mehr verlassen, bis ich sehe, was aus dir und jenem Dämon wird.' Als er sich nun zu ihm gesetzt hatte und beide miteinander sprachen, da befielen den Kaufmann Furcht und Schrecken und tiefer Gram und immer wachsende Sorge. Und wie so der Mann mit der Gazelle dicht neben ihm saß, siehe, da kam zu ihnen ein zweiter Scheich, der zwei Hunde bei sich hatte, die beide schwarze Windhunde waren. Nachdem er sie begrüßt hatte, fragte und erkundigte er sich nach ihnen und sagte: ,Weshalb sitzet ihr an diesem Orte, der doch die Stätte böser Geister ist?' Und sie erzählten



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ihm die Geschichte von Anfang bis zu Ende. Und noch saßen sie nicht lange beisammen, als ein dritter Scheich zu ihnen kam, der eine hellbraune Mauleselin bei sich hatte; und er grüßte sie und fragte, weshalb sie an jenem Orte säßen. Also erzählten sie ihm die Geschichte von Anfang bis zu Ende doch doppelt erklärt, das ist nichts wert, ihr Herren, die ihr dies hört! Da setzte er sich zu ihnen, und siehe, eine gewaltige Staubwolke kam heran, mitten in der Wüste dort. Und die Wolke tat sich auf, und siehe, da war der Dämon; er hielt ein gezücktes Schwert in der Hand, und seine Augen sprühten Funken. Und er trat zu ihnen und riß den Kaufmann aus ihrer Mitte und schrie: ,Her mit dir, daß ich dich töte, wie du meinen Sohn, mein Herzblut, getötet hast!' Da klagte und weinte der Kaufmann, und die drei Scheiche begannen zu weinen und zu schreien und zu klagen; und der erste Scheich, der Mann mit der Gazelle, trat vor, küßte dem Dämonen die Hand und sagte: ,O Dämon, du Krone der Könige der Dämonen! Wenn ich dir meine Erlebnisse mit dieser Gazelle erzähle und du findest sie wunderbar, gibst du mir dann ein Drittel vom Blute dieses Kaufmanns?' Da sprach der Dämon: ,Ja, o Scheich, wenn du mir die Geschichte erzählst und ich finde sie wunderbar, so will ich dir ein Drittel seines Blutes geben. 'Da begann der Alte


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