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Felix Niedner Islands Kultur zur Wikingerzeit


Mit 24 Ansichten und 2 Karten

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1913


9. Eddadichtung und Sagazeit

Ein so tatkräftiges und praktisches Volk wie die alten

Isländer hatte im allgemeinen mehr zu tun, als seine Anschauungen über Götter und Menschen, über Anfang und Ende der Welt in systematischen Bekenntnissen niederzulegen. Und doch besitzen wir ein solches Denkmal. Es ist die Völuspa, das Hauptgedicht jener stattlichen Sammlung von Götter- und Heldenliedern aus alter seit, die man gemeinhin Edda nennt. Einer weissagenden Frau ist diese Dichtung nordischer Weltanschauung in den Mund gelegt.

Ihre Grundanschauung ist der Kampf der weltpreundlichen Götter mit den weltfeindlichen Riesen. Er setzt gleich nach Erschaffung der Welt ein und endet erst bei deren Zerstörung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Weltenschicksals wird in einer prophetischen, mythendurchtränkten Sprache vorgetragen. Eine Reihe glänzender Gemälde aus der Götterwelt zieht unter dem Gesichtspunkt des Werdens und Vergehens an unsern Blicken vorüber.

Die Grundstimmung des Gedichtes ist heidnisch. In dem ewigen rücksichtslosen Kampf der göttlichen und riesischen Mächte spiegelt sich das tatenfrohe Kämpentum, das, wie wir sahen, alle isländischen Verhältnisse durchdrang. Auch der Götterstaat, der nach dem Untergang der Welt zu einem neuen Leben emporsteigt, ist der verjüngte alte. Eine ewige Walhallfreude, wie sie bisher dem tüchtigen Kämpfer nach dem Tode zuteil wird, soll jetzt schon im Leben Götter und Menschen umfassen.

Das Gedicht trägt isländische Lokalfarbe. Es entspricht ganz der Natur der Insel, wenn die Welt durch Wasser und Feuer zerstört wird und wenn sie als Eiland wieder neuverjüngt aus dem Meere emporsteigt. Auch in den Göttern erkennt man jene rücksichtslosen Reckengestalten wieder, wie sie Skarphedin und Egil am glänzendsten verkörperten. Es sind Gewaltmenschen wie ihre Gegner, die Riesen. Nicht eine höhere Sittlichkeit oder Moral stellt die Götter über jene, sondern die weitausschauende Klugheit, wie sie äch im Göttervater Odin verkörpert. Selbst



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wo von Schuld und Sühne die Rede ist, hat man es mit heidnischen Begriffen zu tun. Sippenmörder und Eidbrüchige wünschte der Mann der Sagazeit ganz natürlich in die Wasserhölle.

Und doch hat das erste Menschenalter des Christentums schon die Darstellung beeinflußt. Gegen Ende des heidnischen Freistaates gab man dem Ganzen einen Schluß, der nur auf das Erscheinen des Christengottes gedeutet werden kann. Wer hier Gott als obersten Richter der neuen Welt auftreten ließ, dachte sich den Tod des guten Gottes Balder gewiß schon unter dem Bilde Christi. Er faßte die Zerstörung der Welt auch schon als eine nicht nur tatsächliche, sondern moralisch notwendige Folge der Greuel, die in der Welt eingerissen waren.

Der Prophet, der sich hinter der Weissagerin versteckt, ist in Wirklichkeit der Dichter selbst. Wie alle großen Künstler schuf er über seine Zeit hinaus. Selbst noch für die wilden wikingerhaften Verhältnisse vor dem Untergang des Freistaates behielt die Dichtung ihre Wahrheit.

Dieses großartige dichterische Gemälde eines genialen Mannes ist mitten in der Blütezeit der heidnischen Republik entstanden . Das Volk im ganzen stand der alten Götterwelt, die es darstellt, damals wohl schon erheblich kühler oder nüchterner gegenüber.

Von einer ausgeprägten Stellungnahme sum Göttertum kann man bei der seltsamen religiösen Gleichgültigkeit des Volkes, die schon in der Landnahmezeit hervortrat, kaum sprechen. Noch weniger aber von einer ausgebildeten Ethik, die für uns mit dem Begriff Weltanschauung in irgendeiner Form immer verbunden ist.

Als alles beherrschende Norm des Empfindungs- und Tatenlebens des heidnischen Freistaates trat bei Männern wie Frauen die rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Persönlichkeit hervor . "Selbst ist der Mann", dieser stets in die Tat umgesetzte Grundsatz schuf fast alle Konflikte im Staatswesen, im Familienverband , in der Kriegergilde. Er war wohl auch bestimmend für das Verhältnis des Isländers zur Gottheit. Schon in der ersten Zeit des Freistaates sind die Männer nicht selten, die offen erklärten, nur an ihre eigene Kraft zu glauben. Und



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in den letzten dreißig Jahren, wo das Christentum aus rein praktischen Gründen eingeführt war, war die Schar solcher Glaubenslosen gewiß viel größer.

All dies wäre kaum möglich gewesen bei einem innigen Verhältnis des ganzen Volkes zur Götterwelt. Von der Fülle interessanter Züge, mit denen die Fabulierkunst der Eddalieder die Götter ausstattet, ist in den Darstellungen der Sagas wenig zu spüren. Auch der Olymp, den die Dichtung der Edda kennt, schrumpft erheblich zusammen, sobald man den nüchternen isländischen Sagaboden betritt.

Wo wir hier Mythisches treffen, da hat es fast immer die Furcht oder der an die unwirtliche Natur Islands sich heftende Aberglaube hervorgebracht. Es wimmelt in den isländischen Sagas von unnatürlichen Himmelserscheinungen, wie Blutregen und gespenstischen Halbmonden, von bösartigen Geistern, von umgehenden Toten, von tückischen Kobolden und Heren, von unheimlichen Tiergestalten und Berserkern. Der Dämonenglaube ist im Volke stark entwickelt. Auch Weissagerinnen und Zauberinnen ziehen im Lande umher und verkünden vom hohen Seherthron aus den Abergläubischen die Zukunft. Und unendlich oft ist von Träumen die Rede, die ja in dieser ältesten Zeit auch als Offenbarungen der Götter gelten. In der Reichhaltigkeit der Träume zeigen die Sagas mit der Dichtung der Edda am meisten Berührung.

Das Verhältnis des vornehmen Isländers zu seiner Gottheit war denkbar nüchtern und praktisch. Daß die altin Hochsitzsäulen der Tempel und Wohnhäuser aus Norwegen mitgebracht und auf Island zu neuen Heiligtümern derselben Gottheit verwandt wurden, wird oft erzählt. Der Besitz eines Tempels aber war ja für den Isländer zugleich die Ouelle der Macht und des Reichtums. So stand die Zahl der Tempel wohl umgekehrt im Verhältnis zur Innigkeit des Glaubens .

Der praktische Isländer verehrte die Gottheiten am meisten, von denen er am sichersten Macht und Wohlstand erwarten durfte. Vor allem wird der alte norwegische Stammesgott Thor angerufen: der Wettergott, der für die Seefahrt seinen



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Lavaformen im Odádahraun (Missetatenwüste). Nordisland



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Schutz leihen sollte. Dann aber der Gott des Reichtums und der Fruchtbarkeit, Frey. Einen Eifrer in dessen Kult haben wir in einer der interessantesten Gestalten des Ostlandes, dem Goden Hrafnkel. Er hat dem Frey ein Roß geweiht, das nach seiner Bestimmung niemand reiten durfte, es brächte ibm denn den Tod. Die Tötung eines Mannes, der diesem Gebot widerstrebt, bringt dann dem rücksichtslosen Goden selbst Verderben. Aber auch in Fällen wie bier wirkt die Götterverehrung mehr wie ein eigenwilliger Trumpf, um die Godenmacht zu dokumentieren , denn als eine Komme Handlung.

Charakteristisch ist es, daß der Wikingergott Odin aus der Verehrung des Volkes fast völlig ausschied. Die große Rolle, die er in der Eddadichtung spielt, wurde ihm wohl nur von besonders dichterisch interessierten Helden zuerkannt. Sie feierten ihn als Gott der Runen, des Symbols aller höheren Weisheit, als den Gott der Dichtung und vor allem als den Gott des Krieges. Aber seine Gestalt ist fast ganz vermenschlicht. Junkerhaft prahlend betört er die Mädchen und tritt dem starken aber plumpen Bauerngott Thor gegenüber. Solche Wikingerlaunen überkamen, besonders im Ausland, zuweilen auch den isländischen Bauer. Dieselbe Vermenschlichung zeigen die beiden andern großen Götter Frey und Thor in der Edda. Jener wird als schmachtender Liebhaber, dieser als Kraftbramarbas gegenüber den Riesen dargestellt.

Neben jenen in Balladenform vorgetragenen Götterfabeln stehen dichterische Wettkämpfe mythologischen Inhalts oder lange Zankgespräche, aus dem isländischen Alltagsleben in die Götterwelt übertragen.

Diese Göttermärchen und mythischen Gedichte sind fast alle in der Zeit entstanden, in der die Ereignisse der Saga sich abspielten.

Sprichwörtliche Ausdrücke und gnomische Weisheit, die in der Edda so gern mit dem tiefsinnigen Denken des Göttervaters Odin in Verbindung gebracht werden, durchziehen auch die Sagas in großer Fülle. Sie zeigen, daß Eddadichtung und Saga aus demselben Boden wuchsen. Aber jene Dichtungen von einer zum Teil schon raffinierten Technik standen



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zu hoch, als daß sie Eigentum des ganzen Volkes in der Sagazeit gewesen wären.

Manches, das Urwüchsigste, wie Thors Fahrt zu den Riesen nach seinem Hammer, entstand schon in der norwegischen Heimat. Dies und jenes mag im Auslande dazu gekommen sein. Auf den englischen Inseln wohnten ja überall Nordländer. Da vor allem sind aus einer höheren Kultur jene Züge in die Darstellung der Götterwelt gekommen, die sich schon weit vom naiven Volksglauben entfernen und uns fast modern anmuten.

Skalden sangen in der mit mythologischen Bildern gezierten Prunkhalle des reichen Häuptlings Olaf Pfau im Westlande. Sie deuteten dichterisch jene kunstvollen Gemälde. die Balders Leichenverbrennung und den Fang der Midgardschlange durch Thor darstellten. In solcher Umgebung mögen vielleicht auch die farbenprächtigen Göiterballaden der Edda schon damals voll gewertet sein. In mündlicher Überlieferung auf Island bekamen jene Götterlieder schließlich im wesentlichen die Form, in der sie später dort aufgeseichnet wurden.

Einen unmittelbaren Einfluß auf die isländische Saga hat die Götterdichtung der Edda weder in der Zeit des heidnischen Freistaates noch später geübt. So wenig phantastisch jene Lieder auch sind, sie blieben doch immer dichterisches Ideal gegenüber der nüchternen Wirklichkeit der Saga.

Anders steht es mit dem Teil der Eddalieder, der ein jener Zeit vorausliegendes Heroentum aus mannigfachen Sagenkreisen verherrlicht. Die Dichtung der Edda, die doch auch von gewaltigen Menschen, freilich aus der Vorzeit, handelte, steht den heldenhaften Gestalten der Sagas näher. Hier ergaben sich schon in deren ältester Fassung zu den Heroen der Eddadichtung natürliche und ungewollte Parallelen. Und in ihrer letzten Gestaltung sind hier auch sichtbare Einflüsse der Eddadichtung vorhanden.

Eine Gestalt wie der Gode Snorri oder Grettir der Starke sind so eng mit dem Boden der Heimat verwachsen, daß sie in den alten Liedern kaum ein Gegenstück haben. Auch der gelegentlich durch seine Empfindungen fortgerissene Njal wurzelt



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doch fest in )finer nüchternen Umgebung und ist nur in dieser zu begreifen. Eine strenge Kluft trennt selbst ihn von der Sentimentalität, wie sie jüngere Heldenlieder der Edda in den Klagen Brynhilds und Gudruns über ihr Schicksal verraten . Aber gewiß hat schon jeder Isländer damals bei Gunnar von Haldenende und seiner dämonischen Gemahlin Hallgerd an den Gunnar und die Brynhild der Edda gedacht. Und noch mehr erinnert an jene Walküre die Heldin in der Geschichte der Leute aus dem Lachstal. Diese prächtige Saga mit ihren starken Charakteren ist eine prosaische Schwester der eddischen Dichtung.

Aber gerade diese Saga zeigt in der Gestalt von Osvifrs Tochter Gudrun auch wieder in der Darstellung den Unterschied von der Eddadichtung.

Wir hören in der Edda oft, wie Brynhild und Gudrun ihr Schicksal beklagen. Wir bewundern die feine Kunst der Dichter, die ihrem Gegenstande immer neue Seiten abzugewinnen wissen. Die Taten dieser dämonischen Frauen behalten trotz der feinen psychologischen Ausmalung ihres Charakters etwas Übermenschliches, schwer Faßbares.

Schon eine Hallgerd aus der Njalssaga erscheint uns aus ihrer bäuerischen Umgebung heraus in ihrem stolzen Unabhängigkeitsdrange menschlich verständlicher. Noch näher tritt uns die leidenschaftliche Osvifrstochter Gudrun aus dem Lachstal.

Sie ist viermal verheiratet gewesen, aber nie mit dem, den sie wirklich liebte. In allen Unternehmungen, auch in der Aufreizung zur Rache, zeigt sie sich klüger und energischer als alle Männer ihrer Umgebung. Sie ruht wie Brynhild nicht eher, als bis ihr Mann, der ihr einst den Jugendgeliebten Kjartan abspenstig machte, diesen mit seinen Verwandten er ; ching. Aber sie ist keine Teufelin, wie Kriemhild im Nibelungenliede genannt wird.

Es spricht für sie, daß ein Menschenkenner und Menschenwäger wie der Gode Snorri üch ihrer nach dem Tode jenes Gatten Bolli helfend annimmt und sie sogar zum vierten Male vermählt. Diese beiden lebensvollen, tatkräftigen Charaktere



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verstehen einander. Das Rätsel ihres Lebens spricht Gudrun am Schluß der Saga in tragischer Kürze ihrem Sohn gegenüber aus. Auf dessen Frage, wen sie am meisten geliebt habe, charakterisiert sie erst ausweichend ihre vier Gatten. Dann sagt sie, auf den Jugendgeliebten anspielend: "Dem schadete ich am meisten, deir ich am meisten liebte."

Ergreifender und schlichter konnte die hochbetagte Matrone nicht sprechen, die hier das Bekenntnis eines reichen, aber verfehlten Lebens ablegt.

Nicht nur die dichterischen Klagen einer Brynhild oder Gudrun in der Edda, auch alle andern Erzeugnisse der alten Heldendichtung sind Lieder in Balladenform. Zu einem zusammenhängenden Epos wie die südgermanischen Länder hat es das nordische Altertum nicht gebracht. Die Entwicklung der Handlung war im ganzen vorgezeichnet. Sie reichte von der Herkunft des Goldhortes, den die Edda an die Götterwelt knüpft, bis ;u seinen letzten unheilvollen Wirkungen in der Rache von Gudruns Söhnen aus ihrer dritten Ehe. Immer aber sind nur einzelne Abschnitte dieser Riesenhandlung balladenartig gestaltet. Sigurd den Drachentöter und Sigurds Tod, Brynhilds Erweckung aus dem Zauberschlaf und die Ermordung Atlis, alles besangen in mannigfacher Stilform ältere und jüngere Dichter.

Die Nibelungentragödie ist wie auf deutschem Boden auch der Hauptvorwurf der Eddalieder. Daneben steht die Trilogie von dem immer wiedergeborenen Helgi und seiner romantischen Liebschaft mit den Walküren Svava, Sigrun und Kara. Auch der kunstfertige Schmied Wieland wird uns in seiner Haft bei König Nidud und in seiner furchtbaren Rache an dessen Söhnen und Tochter vorgeführt. Und in Hildebrands Sterbelied haben wir eine freilich sehr veränderte Gestalt des tragischen Vorganges, den unser deutsches Hildebrandslied schilderte. Der Gesippe mit dem Gesippen in todbringendem Kampf, ohne das Unheil abwenden zu können. Eine prachtvollere Schilderung hat aber kaum ein Gegenstand in der alten Heldendichtung erfahren als das Gedicht, das man König Olaf dem Heiligen auf seinen Wunsch am



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Morgen seines letzten ihm den Tod bringenden Schlachttages im Jahre 1030 vortrug.

Es konnte keine bessere Kampfmahnung an des Königs Mannen, keinen besseren Trost für jenen geben als dies alte Bjarkilied. In den Wechselgesprächen zweier treuer Mannen des alten Dänenkönigs Rolf Krake wird dessen Überfall auf seiner Königsburg Lejre dramatisch vorgeführt. Der eine ganz Jugend, der andere lebenserfahrenes Alter, beide aber voll hingebendster Treue gegen ihren Herrn. Konnten sie auch dessen Leben gegen die Übermacht nicht schützen, beide sind, als er gefallen ist, nur von dem Wunsch beseelt, neben ihn im Tode gebettet zu werden. Hier haben wir zugleich ein Beispiel , wie ein altes Heldenlied weiter kampfschürend wirken konnte.

Wie die Götterlieder sind auch die Heldenlieder der Edda in stabreimende Strophen gefaßt, die in ihrer Form und ihrem Tonfall sich dem Inhalt verständnisvoll anschmiegen. Die alte epische und gnomische Strophe der Germanen liegt diesem dichterischen Gewande zugrunde.

In derselben seit, wo die meisten dieser balladenartigen Schößlinge der altgermanischen Heldenzeit auf Island entstanden und gesungen wurden, blühte das neue Heldentum des heidnischen Freistaates am kräftigsten. Auch dessen Taten und Schicksale wurden künstlerisch verherrlicht. Freilich auch sie in keinem zusammenhängenden Epos. Neben den Liederhalladen der Edda erblühte die isländische Saga. Und ihr Gewand war die Sprache der Wirklichkeit, eine edle und ungemein gegenständliche Prosa.

Die Eddadichtung und die Sagaerzählung des zehnten Jahrhunderts sind, obwohl sie in derselben Zeit und auf demselben Boden erwuchsen, in ihrem Gesamtbilde ganz verschieden. Mosaikartiger kann kaum ein Gemälde sein als das, das die Götter- und Heldenlieder im einzelnen gewähren. In einem Betracht wirken sie doch völlig einheitlich. Die ehrwürdige Vergangenheit ließ die Helden, die Zeitlosigkeit die Götter als rein ideale Gestalten erscheinen. Die Götter- und Heroenwelt kennt keine festen historischen oder geographischen Grenzen."In



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der Urzeit war es" : damit ist die Phantasie des Hörers in die richtige dichterische Stimmung versetzt.

Der Donnergott Thor mag noch so viel Züge des tatkräftig dreinschlagenden, der böse Gott oki noch so viel Wesenheit eines verschmitzten isländischen Bauern haben, sie sind doch nun einmal Götter, so vertraut sich der Dichter mit ihnen stellt. Die Darstellung des Zuges der Burgunden zu Ätti und ihrer Kämpfe dort kann in vielen Zügen die kleinen Verhältnisse isländischen oder gar grönländischen Lebens widerspiegeln: es sind für den Hörer durch alte Überlieferung geheiligte Helden, für die er in der Wirklichkeit keine genauen Gegenbilder findet.

Die fahrenden Sänger, die diese Gedichte schon an den Höfen der Kleinfürsten in Norwegen und dann auf den Gehöften der isländischen Großbauern vortrugen, schmückten ihren Liederschatz bewusst mit neuen Sagenzügen aus, wenn sie sie auch der Umgebung der Heimat anglichen. Den Kern der Eddadichtung kann man als "Dichtung und Wahrheit" bezeichnen.

Wir kennen den Namen keines Eddadichters. Aber auch kein Name eines Sagamannes ist uns überliefert. Doch wurden die Sagas ebenfalls wie die Eddalieder in ihrer ältesten Form von fahrenden Leuten auf Island vorgetragen.

Deren Aufgabe aber war eine ganz andere als die der Sänger der Eddalieder. Nicht Sagen, interessante Erdichtungen einer freien Phantasie, wollten sie vortragen. Ihr Bestreben war es, wahre Begebenheiten aus der Heimat oder aus der Fremde, die sie mit eigenen Augen gesehen hatten, zu erzählen. Die Gegenwart war die Welt, aus der sie ihre Stoffe wählten. Sie durften nichts melden, als was "wirklich"geschehen war, da ihre Angaben von den eigenen Volksgenossen auf Schritt und Tritt nachgeprüft werden konnten. Die Vergangenheit kam für sie nur so weit in Betracht, als das Gedächnis namhafter Zeitgenossen für die "Echtheit" der Ereignisse sich verbürgen konnte. Das Wunderbare und Abenteuerliche ist für unsere Anschauung von dem Begriff Götter- und Heldensage, wie sie in der Edda lehr, unzertrennlich. Für das Wesen der Saga ist es keineswegs die Hauptsache oder auch nur wesentlich.



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Der Sagaerzähler soll, will und kann wahre Begebenheiten berichten. Auch er mag dichterisch ausgestalten und gelegentlich auch ausschmücken, um zu ergötzen. Aber seine Erzählung muß wahrscheinlich bleiben. Er darf sich doch im Kern und im ganzen Gefüge seiner Darstellung nie von der Wirklichkeit entfernen. Ein Egil, ein Grettir, ein Njal und ein Gode Snorri lebten. Ihre Taten standen im hellen Bewußtsein des Volkes. So waren ihrer Idealisierung durch den Sagamann natürliche Grenzen gezogen. Die Saga ist im Gegensatz zur Eddapoesie "Wahrheit und Dichtung" .

Schon äußerlich zeigt sich der geschichtliche Sinn der Saga in ihrer ganzen Überlieferung.

Im Mittelpunkt steht jedesmal ein Heldenleben aus der kräftigsten Zeit des heidnischen Freistaates, mag dieses auf Island sich entfalten oder im Ausland bei nordischen Fürsten den Schauplatz seiner Betätigung finden. Aber die Bauern der isländischen Familiengeschichten, wie die isländischen Skalden der Königssagas wurden fast immer im Zusammenhang mit ihrem gesamten Geschlechte dargestellt. Die Einleitung greift in der Regel auf ihre Väter in der Landnahmezeit und weiter auf ihre Vorfahren in der norwegischen Heimat zurück. Die Saga schließt aft mit den Nachkommen der Helden in christlicher Zeit und knüpft diese an die ruhmvollen Männer der alten Sagazeit an.

Die Erzählungen und Novellen" in Thule entsprechen nach Umfang und Form etwa den ursprünglichen Berichten, wie sie ein Sagamann im Heldenzeitalter vortrug. Die"Geschichten" tragen in Anlage und Ausführung schon mehr den Stempel der literarischen Zeit des dreizehnten Jahrhunderts.

In den großen Geschichten am Anfang unserer Sammlung tritt dieser Einfluß am meisten hervor. Hier sind, wie in der Njalssaga, selbständige Geschichten zu einer neuen Einheit verbunden oder der historische Sinn des Endredakteurs hat, wie in der Egilssaga, die jetzige Gestalt bestimmt. Aber in ihren Grundzügen zeigen doch alle Sagas den Charakter des Heldenzeitalters 930 —1050, in dem ihre Handlung sich abspielt.

Der immer wiederkehrende ?Ausdruck "Sa war es in alter



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seit üblich" ist dafür charakteristisch. Die Männer, die den Sagas bei der Niederschrift ihre endgültige Form gaben, hatten ein festes Bewußtsein von der Altertümlichkeit und Ehrwürdigkeit ihres Inhalts.

Daß die Saga nüchterne Wirklichkeit, nicht unterhaltende Phantasiegebilde darstellen soll, beeinträchtigt ihre ästhetische Wirkung nicht. Die durch eine festgefügte Überlieferung verbürgte Gegenständlichkeit von Inhalt und Form lassen doch der individuellen Auffassung und dem Kunstgeschmack des Autors genügenden Spielraum.

Der Inhalt der Saga erinnert schon darin an das wirkliche Leben, daß er oft eine schier unübersehbare Fülle von Personen und Begebenheiten vor uns hinstellt. Aber das starke Heldentum, dessen glänzende Siege oder ruhmvolle Niederlagen ihren Vorwurf bilden, schafft einen festen Mittelpunkt. Trotz aller Abschweifungen und Zufälligkeiten der Darstellung bleibt in den meisten Fällen eine straffe künstlerische Einheit.

Die Konflikte, in die die heldenhaften Männer und Frauen der Saga geraten, sind immer die des täglichen Lebens. So fällt auch auf die isländische Alltagswelt ein heroischer Schimmer. Den allgemeinen Kulturboden, auf dem die Handlung der Saga vor sich geht, haben wir bereits gezeichnet. Staat und Familie, Kriegerleben und Volksdichtung entfalten in den Sagahelden ihre höchsten und reichsten Kräfte.

Der Glanz jener Persönlichkeiten wirkt um so echter, als der Untergrund, von dem sie sich abheben, mit voller realistischer Deutlichkeit gemalt wird. Die große Masse des Volkes verschwindet nicht wie im Heldenepos vor den Gestalten der Heroen. Sie wird bis auf den geringsten Knecht geschildert. Auch so unheldenhafte Vorgänge wie Schafdiebstahl oder Hühnerhandel berichtet die Saga mit liebevoller Ausführlichkeit Selbst wo Personen als reine Statisten auftreten oder Ereignisse nur Episoden bilden, können sie als Kulturhintergrund wertvoll sein.

Der Gegenständlichkeit des Inhalts entspricht die glückliche äußere Form der Saga. Natürlich wie das Alltagsleben wirkt ihre schmucklose Prosa. Der ruhige epische Fluß der Erzählung



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Der Wasserfall Godafoß. Nordisland



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bekommt durch die dem wirklichen Leben abgelauschten Dialoge der auftretenden Personen oft einen dramatischen Charakter. Starke lyrische Stimmungen kennt die Sagaprosa nicht. Nur in den gelegentlich eingestreuten Skaldenstrophen kommt die Gedanken- und Empfindungswelt ihrer Helden unmittelbar zum Ausdruck.

Allein in einigen der als "Skaldengeschichten" bezeichneten Sagas unserer Sammlung sind diese Dichtungen Selbstzweck. Hier bilden sie das Rückgrat der Handlung selbst. Sonst dienen sie nur als Mittel, um einem schon in der Erzählung vorbereiteten Vorgang oder einem Stimmungsbilde der Handlung Farbe und Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Zuweilen sind die Dichtungen der Sagahelden auch nur zu jenem Zwecke erfunden. Hierin liegt das stille Einverständnis, daß die Prosaerzählung das Seelenleben der Personen nur indirekt in dem äußeren Verlauf der Handlung charakterisieren will. Auch im Leben selbst sprechen doch am besten die Taten. Eine Gefühlsäußerung oder gar ein Urteil des Sagamannes über seinen Bericht findet sich fast niemals.

Diese persönliche Zurückhaltung, die sich der Erzähler auferlegt, gewinnt ihm leicht das Vertrauen seines Publikums. Bei der chronikartigen Form seiner Berichterstattung vermutet man kaum je eine Willkür in der Darstellung.

"Ein Mann hieß Glum" —so etwa führt der Sagamann jede Gestalt ein. "Thorkel kommt nun nicht mehr in dieser Saga vor" — in der Art läßt er seine Personen abtreten. "In dieser Angelegenheit wird nun nichts weiter berichtet" — so heißt es, wenn der Stoff der Saga in einem Punkt versagt. "Einige meinen dies, andere fassen die Sache so auf" — mit solchen Wendungen stützt der Erzähler die Genauigkeit seines Berichtes. Das klingt alles so zuverlässig.

Wer so spricht, dem folgt der Hörer auch einmal auf ein Gebiet; das ihn nach seiner Kenntnis des heimatlichen Lebens fremdartiger anmutete. So konnte in der Darstellung des Sagamannes selbst das Wunderbare gelegentlich wie ein natürliches Ereignis wirken.

Zufälle spielten auch in das sonst so festgeregelte Altagsleben



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des Isländers hinein. Schon das Volk witterte in jenen leicht übernatürliche Mächte. Der Sagaerzähler blieb in diesem Sinne bei der Wahrheit, wenn erin den Grenzen des Volksglaubens Spuk- und Gespenstergeschichten als Belebung seiner Darstellung verwandte.

Ein Rätsel war im Grunde mancher bedeutende Mensch auch schon im alten Island. Die Kraftanspannung der isländischem Männer und Frauen leistete oft schon im gewöhnlichen Leben schier Unglaubliches. So durfte der Sagamann auch wohl einmal übernatürliche Taten seiner Helden schildern, ohne daß seine Erzählung unwahrscheinlich wirkte. Von den Gestalte- der"Heldenromane", in "Thule" sind Männer wie Grettir der Starke oder der Skalde Egil noch immer sehr verschieden.

Aus einer späteren seit, wo jene mythischen Sagas Mode wurden, ist mancher romantische Zug auf die alte Saga übergegangen. Ihrem Wesen nach stehen jene Heldenromane zu dieser in schärfstem Gegensatz. Nicht das isländische Wirklichkeitsleben, sondern die dichterische Welt der alten Götter- und Heldenlieder war für sie Vorbild der Darstellung. Die in der Heroendichtung vietbesungene Saga vom mythischen Dänenkönig Rolf Krake wurde phantastisch aufgeputzt. Die Dichtung von den Nibelungen trug man auf Grund der Edda in zusammenhängendem Romane vor. Mit der alten Saga haben jene mythischen Ersäblungen nur den köstlichen Prosastil gemein . Sie wollen nicht Geschichte darstellen, wie jene, sondern sind Sagen in unserm Sinne des Wortes.

Diese mythischen und romantischen Zusätze haben indes den Charakter der alien Saga ebensowenig verändert wie die christlichen Einflüsse einer späteren Zeit. Die Einführung der neuen Religion wird öfter als segensreich erwähnt, aber weniger aus innerer Sympathie, als weil sie erträgliche staatliche Zustände schaffte. Wo sich wirklich christlich gefärbte Episoden in der Saga finden, tasten sie doch das heidnische Gesamtbild nicht an. Ebensowenig haben die Gestalten der Saga durch ihre dort chronikartig gebuchte Bekehrung zum Christentum etwas von ihrem heidnischen Charakter verloren. Gudrun, die Heldin der Lachstalsaga, bleibt eine heidnische Brynhild



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figur; auch wenn sie ganz am Schluß ihres Lebens fromme Einsiedlerin wird. Vollends ist das Leben keines einzigen Sagahelden mit der christlichen Lebensauffassung oder Moral in Einklang zu bringen.

Der Sagamann ist ein Kind des Zeitalters, dessen Ereignisse er schildert. Das verrät seine Darstellung auf Schritt und Tritt. In seinen Helden und Heldinnen wohnt eine unvergleichliche Frische und Lebenskraft. Man empfindet unmittelbar , daß erselbst solche Männer und Frauen auf dem Thing und in der Schlacht, im Haus und auf dem Felde beobachter hat. Die Handlungen dieser Menschen sind ihm nichts Fremdes, in das er sich erst für die dichterische Gestaltung vertiefen muß. Ihre Konflikte stellen ja nichts anders vor, als was er jeden Augenblick in der ihm vertrauten Umgebung seines Volkes aufs neue erleben kann. Der Sagamann kennt genau die Gedanken- und Empfindungswelt seiner künstlerischen Urbilder . Die starke naive Auffassung des Lebens teilt er mit jenen wie mit seinem Publikum.

Einheitlichkeit des Wesens ist bei den Helden und Heldinnen der Sagas die Hauptsache. Die Willensstärke jenes Zeitalters ist in ihnen zur höchsten Vollendung gesteigert. Wie im täglichen Leben finden sich auch bei den Hauptpersonen der Sagas gute und schlechte Eigenschaften gemischt. Alle aber sind bei ihnen in den Dienst eines festen Heldenwillens gestellt.

Ein Held, der sich durch Kühnheit und Klugheit vor allen hervortut , ist bisweilen von brutaler Grausamkeit und unersättlicher Habsucht. Eine Heldin, die durch Schönheit und wirtschaftliche Tüchtigkeit alle gefangen nimmt, kann sich unter Umständen hinterlistig und niederträchtig benehmen. Eine Schwäche der Gesinnung aber, Ohnmacht bei der Verfolgung eines Zieles kennt das Heldentum nicht.

Der Stammbaum der alten Geschlechter wird stets mit der größten Genauigkeit verzeichnet. Knappe Charakteristiken werden den einzelnen Personen beigegeben. Sie gehen aber selten über eine flüchtige Beschreibung hinaus, wie sie etwa der Nachbar von dem Nachbar gab. Vornehme Geburt, Wohlhabenheit und angeborene Tüchtigkeit werden im allgemeinen



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bei beiden Geschlechtern vorausgesetzt. Gern werden die gleichen körperlichen und geistigen Vorzüge durch mehrere Generationen verfolgt. Manche Saga gebt ja durch vier Menschenalter. Neben Tatkraft und verständigem Sinn wird beim Mann auf ansehnliche Erscheinung Gewicht gelegt. Schönheit spielt keine Rolle. Im Gegenteil. Gewaltige Sagahelden sind zuweilen abschreckend häßlich. Selbst bei den Frauen tritt die äußere Erscheinung in der Wertung hinter weiblicher Tüchtigkeit zurück.

Unter den Helden und Heldinnen finden sich keine Unholde, wie sie das nordische Berserkertum malt. Aber auch reine Lichtgestalten, wie sie das deutsche Nibelungenlied in Siegfried darstellt; fehlen ihr. Das Grundelement der Männer wie der Frauen ist eine unhemmbare Tatkraft im Guten wie im Bösen, die nicht ruht, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Sie sitzt oft wie eine Krankheit im Körper und bricht sich in plötzlicher jähzorniger Entladung bis zur Vernichtung des Gegners Bahn. Sie hält sich aber auch oft jahrelang abwartend zurück und weiß dann immer im rechten Augenblick die Aufgabe, die sie sich gestellt hat; durchuzufüren. ist für dies harte Zeitalter bezeichnend, daß in dieser zähen Willenskraft sich Männer und Frauen begegnen, ja daß die Frauen oft wilder und berechnender sind als die Männer.

Gütige, weiche und heitere Naturen findet man bei den Frauen noch seltener als bei den Männern. Sie überwinden nicht selten die Schwäche ihres Geschlechts, um selbst blutige Rache an ihren Feinden zu nehmen. In der Aufreizung der Männer zur Erfüllung dieser Pflicht sind Mütter und Gattinnen unermüdlich Sie war ihnen die beste Gewähr für die kriegerische Tüchtigkeit ihrer Männer und Söhne. Aber auch in den Geschäften des täglichen Lebens sind die Frauen oft die klugen Beraterinnen ihrer Männer. Diese folgen ihnen auch gegen ihre eigene Meinung. Selbst erfahrene Helden, die in Gesetzeskunde und Rechtshändeln wohl Bescheid wissen. Und doch ist diese Kenntnis neben der Waffentüchtigkeit ein Hauptstolz der Sagahelden. Der größte jedoch, wenn sie auch von der Skaldenkunst etwas verstehen. In seinen Liedern leben des Mannes Taten noch einmal.



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Anschaulich wie die Personen der Saga vor uns hintreten, spielen sich die Begebenheiten ab. Der Schauplatz der Vorgänge wird meist so eingehend geschildert, daß man noch beute auf Island viele Örtlichkeiten nach alten Angaben bestimmen kann. Bilder landwirtschaftlicher Tätigkeit oder Feste und Spiele prägen sich dem Leser unvergeßlich ein. Man meint als Zuschauer dabei gewesen zu sein. Noch lebhafter hat man dies Gefühl an den Stellen, wo die Konflikte mit Waffen oder vor Gericht vor sich gehen. Wird ein Kampf oder Rechtsstreit dargestellt, dann tritt jede Phase ihres Verlaufs, soweit dadurch die Entwicklung der Handlung gefördert wird, mit vollendeter Deutlichkeit hervor. Hier herrscht zuweilen in den epischen Wiederholungen, die bei Aufzählungen von Waffen und Rechtsformeln sich einstellen, eine gewisse Einförmigkeit. Aber gerade sie unterstützt die Empfindung von der Wahrhaftigkeit der Vorgänge.

Solche Kampf- und Gerichtsszenen bilden gewöhnlich den Höhepunkt in den Sagas. So bekommen sie leicht schon im Aufbau der ganzen Handlung einen dramatischen Charakter. Dieser wird dann verstärkt durch den lebendigen und mit scharfen Pointen gewürzten Dialog der Personen. Man braucht nur Zwischensatze wie "sagte Kjartan", "erwiderte Gudrun" fortzulassen, um den täuschenden Eindruck dramatischer Auftritte zu erhalten. In den Reden und Gegenreden der Streitenden kehrt die Neigung der Saga zu gnomischem und sprichwörtlichem Ausdruck wieder. Ursprünglichkeit und Natürlichkeit werden auch in den einfach erzählenden Partien oft dadurch verstärkt, daß der Sagamann die indirekte Rede abbricht und seine Personen sich plötzlich direkt äußern läßt.

Auch sonst wirkt die Saga trotz der ihr durch das Zeitalter vorgezeichneten chronikartigen Berichterstattung fast immer lebendig und anschaulich. Sie sucht sich der Art, wie sich die Vorgänge im natürlichen Leben abspielen, in der Darstellung ungezwungen anzuschmiegen. Vieles bleibt ja auch in der Wirklichkeit zunächst unerklärt und rätselhaft, was bei späterer Gelegenheit seine Aufklärung findet. Die Saga bemüht sich durchaus nicht, hier vorzeitig ihre Hörer aufzuklären. Anfängliche Ungewißheit



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erhöht doch die Spannung, und die Hörer wissen aus Erfahrung , daß ihnen der Erzähler die Aufklärung schließlich nicht schuldig bleibt. Die Saga geht in der zwanglosen Anordnung des Stoffes sehr weit. Personen und Gegenstände werden früh erwähnt, die erst viel später eine Rolle spielen. Ja sogar für die Handlung höchst bedeutsame Ereignisse erscheinen zunächst als ganz unverständliche Episoden.

Die Charakteristik der Helden erfolgt außer durch die Personalbeschreibung der Saga und die eigenen Dialoge jener vor allem durch Handlung selbst. Auch hierbei zeigt sich wieder die Neigung, das wirkliche Leben nachzuahmen. Durch äußere sinnfällige Vorgänge sollen die Empfindungen und Gedanken der Helden ins Licht treten. Errät der Hörer nicht sofort den Zusammenhang zwischen dem äußeren Vorgang und dem Seelenleben des Helden, dann mag er staunen, wenn er ihn später aus dem Verlauf der Saga erfährt. Ingibjörg in der Lachstalsaga sagt, das Tuch, das sie Kjartan gegeben habe, sei zu gut für Gudrun. Das soll ihre Liebe zu jenem malen. Wenn König Harald Haarschön einmal schweigt und blutrot wird, als er in seines Vasallen prächtige Halle tritt, dann errät jeder leicht seine aufsteigende Eifersucht.

Solche ungewollte Symbolik der Handlung zeigt das tägliche Leben hundertfach. Sie durchzieht auch die Reden der handelnden Personen an vielen Stellen der Saga. Diese geht so weit in ihrer Gewohnheit; das seelische Leben ihrer Personen erraten zu lassen, daß sie jene nur das sagen läßt, was man auch im gewöhnlichen Leben ausspricht. Der Wahrscheinlichkeit zuliebe setzt sie sich selbst der Gefahr aus, einmal undeutlich zu werden. Lügen von Personen werden nicht als solche kenntlich gemacht, und wenn zwei heimlich miteinander reden, kann man den Sinn wie im wirklichen Leben auch in der Saga nur erraten. Gern malt jene uns ihre Helden nach voraufgegangener Charakteristik am Anfang der Erzählung kurz vor einem bedeutenden Ereignis noch genauer aus. Darin engt sich der Wirklichkeitssinn der Saga vielleicht am glänzendsten. Wir beobachten die Gesichtszüge eines Menschen nie genauer, als wenn plötzlich stark unser Interesse für ihn geweckt wird.



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Eine so einheitlich durchgeführte Weltauffassung, wie sie in dem Eddaliede "Die Weissagung der Seherin" zutage trat, ist in der Saga nicht zu finden. Von einer Ethik oder Moral in unserm Sinne kann man schlechterdings nicht reden. Der Sieg oder das Unterliegen eines Helden oder seines Gegners wird niemals durch die Güte des einen oder die Bosheit des andern bedingt. Auch der edelste Held siegt nicht, weil er gut ist, und der nichtswürdigste Wicht fällt nicht, weil er schlecht ist. Eine solche Auffassung wäre den Gestalten der Saga vollkommen fremd. Sie finden es ganz natürlich, daß auch der Böse siegen kann, wenn er sich durchzusetzen weiß, und daß der Gute unterliegen muß, wenn er seinen Willen nicht durchdrückt. Die Stärke der Persönlichkeit gibt den Maßstab des Wertes.

Der unversöhnliche Haß gegen den Widersacher schließt bei dem Helden nicht aus, daß er jenem in Gedanken Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Die Feindschaft des Gegners erscheint ihm oft natürlich, und seine tüchtigen Eigenschaften läßt er auch trotz der größten Erbitterung gelten. Ja nicht selten zeigt ein Held im Bewußtsein der eigenen Kraftfülle Hochherzigkeit und Edelmut gegenüber dem Widersacher. In dem zähen Bestreben, ihren Willen durchzusetzen, sind doch Freunde wie Feinde einig.

Einen solchen Standpunkt erkennt der alte Isländer auch beim Gegner immer an. Er ist vielleicht einmal von einem andern durch einen Eid zur Hilfeleistung verpstichtet und sieht spät, daß man ihm verschwieg, es ginge gegen eine Übermacht. So sehr er sich nun geschädigt fühlt, die Cist des andern kann er nicht unberechtigt finden. Er selbst würde sie zur Durchsetzung seiner Pläne jederzeit selbst anwenden.

In jener wilden Zeit eines Kampfes aller gegen alle ist der Eid oder das gegebene Manneswort der einzig sichere Halt. Nur wer sie verletzt, erscheint als ein"Neiding" und wird von Freund und Gegner verachtet. Als am unverbrüchlichsten gilt der von Blutsbrüdern geleistete Schwur. Wo die Schwurbruderschaft mit der Liebe zu demselben Mädchen in Widerstreit gerät, da hat die Saga ihre tragischsten Konflikte.

Eine heiße unwiderstehliche Neigung zum andern zum andern Geschlecht ist



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bei den Frauen doch häufiger als bei den Männern. Die Liebe in der Ehe ist vom Mann aus fast immer auf die praktische Umsicht der Hausbau gegründet. Die Liebe zu Vater, Sohn und Bruder als den natürlichen Stützen des Geschlechtes ist selbst den härtesten Männergestalten eigen. Neben der Eidestreue ist die Blutrache vornehmste Pflicht des Mannes. Beide sind aber im lesten Grunde auf keine ethische Erwägung gegründet , sondern entspringen dem Selbsterhaltungstrieb, der in Sippe und Freund einen Ouell der eigenen Kraft sieht.

Daß trotz der größten Willenskraft der Entscheid über Sieg und Untergang nicht immer von ihnen selbst abhängt, das wissen auch die tapfersten Helden. Nicht nur den Fall des Gegners können sie mit eisigem Spott behandeln, auch den eigenen Untergang ertragen sie mit grimmigem Humor. Sie scherzen noch im Tode und haben für ein lächerliches Mißgeschick , das etwa in diesem Augenblick dem Gegner zustößt; immer noch ein Lachen übrig.

Die tragische Ironie, die im Mißlingen ihrer großartig angelegten Taten liegt, empfinden die Sagahelden oft selbst. So sprach der weise Njal seine trüben Ahnungen aus. Sehr häufig kündigt sich in Träumen der Hauptpersonen das kommende Verhängnis an. Oder die Schutzgöttin eines Helden und seines Geschlechtes verläßt jenen. Hat ein Sagaheld trotz aller Willenskraft sich nicht behaupten können, dann gilt er als "Unglücksmann". Selbst diese Kraftnaturen, denen Lebenskraft und Lebensluft alles ist, fühlen sich dem Zufall gegenüber ohnmächtig. "Niemand kann gegen sein Schicksal ankämpfen " —so denkt auch der Stärkste.



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Doppelkrater mit Schwefelquellen auf der Höhe der Krasla. Nordisland


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