Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Felix Niedner Islands Kultur zur Wikingerzeit


Mit 24 Ansichten und 2 Karten

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1913


7. Die altisländische Familie

In der "Weissagung der Seherin", dem gewaltigsten Edda- gedichte, wird das Schicksal der Götter und Menschen durch eine dichterische Vision uns vor Augen geführt. Der Blick der Weissagerin weilt auch im Reich der Hel bei den Toten. Dort müssen durch eiskalte Ströme in giftigen Tälern waten, die im Leben einen Eidbruch verübten oder die Heiligkeit der Sippe brachen. Wie diese Wasserhölle wurzelt die Vorstellung von der Furchtbarkeit gerade dieser Vergehen tief im nordischen Heidentum. In seinen wikingerhaften Fehden war das gegebene Manneswort die einzige Sicherheit. Rein Band schlang sich so fest von frühster Jugend bis zum höchsten Alter um den alten Isländer wie das der Familie.

Die Strenge des Familienzwangs setzt schon bei dem Neugeborenen ein. Dem Vater stand bei der Geburt des Kindes das Recht zu, seine Annahme zu verweigern. Erst nachdem er es selbst vom Boden aufgehoben und dadurch ausdrücklich als das seine anerkannt hatte, gehörte es zur Familie. Aussetzung kam besonders bei schwächlichen und Bastardkindern vor, galt aber nicht als besonders ehrenhaft.

Gleich nach der Geburt wurde das Kind mit Wasser benetzt und erhielt gewöhnlich von dem Vater den Namen. Diesen Rufnamen erhielt es häufig nach dem Großvater. Auch das deutet auf den festen Zusammenhang der einzelnen Mitglieder des Geschlechtes. Dem äußern Symbol der Familienzugehörigkeit bei der Namengebung lag alter Glaube zugrunde, daß durch sie auch des Großvaters Wesen sich auf den Enkel vererbe.

Ungewöhnlich groß ist die Zahl der Männer- und Frauennamen mit 'Thor am Anfang. Sie zeigen die hervorragende Stellung an, die dieser Gott im Heidentum auch auf Island noch einnahm. "Thorgrimssohn" und"Thorgerdstochter", auf diese einfache Weise wurden die Familiennamen nach dem Namen des Vaters gebildet. Seltener nach dem der Mutter, besonders, wenn der Vater vorzeitig starb. Dazu traten dann bald Spitznamen, die Beinamen fürs Leben wurden.

Sehr häufig tritt an Stelle des leiblichen Vaters für das



Thule-Bd.00-067 Einfuehungs Band Flip arpa

Kind ein Ziehvater ein. Die Gründe dafür sind mannigfacher Art. Freundschaft und Verwandtschaft können diesen Liebesdienst leisten. Doch ist oft die Sucht, sich bei dem mächtigen Vater eines Kindes beliebt zu machen, der Antrieb zur freiwilligen oder nahegelegten Aufnahme eines Zöglings. Immer aber ist das Verhältnis zwischen Ziehvater und Ziehsohn ein enges, oft enger als das von Vater und Sohn.

Sehr früh regt sich bei dem Knaben Selbständigkeit und Kampflust. Waffen sind sein Lieblingsspielzeug. Der Wort- oder Waffenstreit Erwachsener wird gern im kindlichen Spiel nachgeahmt. Bei den Zusammenkünften zu Ballspiel und ähnlichem Sport bilden die Knaben oft eine eifrige Jugendgruppe unter sich.

Mit zwölf Jahren ist häufig der Knabe schon in Rat und Tat ein kleiner Held. Er gilt dann als Erwachsener, darf auf dem Thing sich sehen lassen und nimmt an kriegerischen Fehden im Lande teil. In nicht viel höherem Alter zieht mancher schon als Wiking aus in fremde Länder. An der Rührigkeit der Jungen, selbst wo sie in Gewalttätigkeit ausartet, haben die Alten ihre stille Freude. Es gibt freilich unter jenen auch Duckmäuser an der Herdasche, die erst später, dann aber oft um so kräftiger, zum Heldentum erwachen.

Häufig entwickelt sich unter den jungen Männern bei ihren Unternehmungen daheim und im Ausland innige Freundschaft. Um meisten bei Ziehbrüdern, die von Jugend auf zusammen waren. Oft wurde die Kindheitsgenossenschaft zur Blutsfreundschaft erweitert. Unter Streifen Rasen, die in Manneshöhe vom Boden abgelöst und durch Speere gestützt waren, aber an beiden Enden mit dem Erdboden zusammenhingen, schworen sie sich Freundschaft fürs ganze Leben und ließen zum Zeugnis dieses Eides ihr Blut zusammenrinnen. Solche Schwurbrüder blieben sich bis zum Tode treu.

Auch das Verhältnis der leiblichen Brüder war fast immer gut. Oft taten sich die Brüder zu einer Kampfgenossenschaft zusammen . Der Bastard-Bruder wurde gern durch einen feierlichen Akt in die Sippe eingeführt. Blutrache wurde auch für ihn genommen.



Thule-Bd.00-068 Einfuehungs Band Flip arpa

Das Leben der jungen Mädchen war vor der Ehe zurückgezogen. Sie gingen meist in häuslicher Arbeit auf, begleiteten aber die verwandtschaft auf Thingfahrten und nahmen an Spielfesten und auch Gelagen teil. Wie die Knaben wurden auch die Mädchen früh reif. Ohne Romantik, nach praktischen Erwägungen, oft aus politischen Gründen, wurden die Jungfrauen verheiratet. Der Vater oder andere Verwandte leiteten die Sache ein, aber auch, wenn der Mann nach eigenem Ermessen freite, tat er dies fast immer nach Verstandesrücksichten. Tüchtigkeit, Wohlhabenheit und gute Familie gaben bei der Wahl des Mädchens den Ausschlag. Annäherung vor der Ehe oder gar regelrechte Liebesverhältnisse wurden von den beiderseitigen Verwandten mit mißtrauischem Auge betrachtet . Die Besorgnis, daß durch leichtsinnige Verführung Schmach in eine Familie kommen könne, war groß.

War eine Annäherung junger Leute erst Gespräch der Gegend geworden, so schlug der Vater wohl sogar eine Eheverbindung ab, selbst wenn die Aussichten für eine solche auf beiden Seiten vorher gute waren. Daß man den Verführer einer Haustöchter in guten Familien durch Totschlag aus dem Wege räumte, war in jenen wilden Zeiten die natürliche Folge einer so strengen Auffassung von der Unbescholtenheit der Mädchen.

Seltsamer, aber auf dieselbe Angst vor Bloßstellung der Jungfrauen gegründet, erscheint uns die Mißliebigkeit der Liebesdichtung . Achtung, die im Gesetz darauf gesetzt war, hat wohl die wenigsten poetischen Minnewerber in Wirklichkeit betroffen. Aber Buße durfte man rechtlich für Ansingung eines Mädchens fordern. Trotzdem konnte es schließlich kein Gesetz hindern, daß romantische Liebesverhältnisse in unserem Sinne vorkamen und auch gelegentlich geduldet wurden. Die Skaldenlieder verraten hier manches, was die nüchterne Erzählung der Saga nicht kennt.

Fehlt auch der schmachtende, von seinem Mädchen abgewiesene Liebhaber in jener Zeit nicht völlig, so ist doch in der Regel die Tochter ohne Einfluß auf ihre Verheiratung. Sie wird fast immer vom Vater vergeben und kann nach dem Gesetz zur Ehe gezwungen werden. Freilich machen die Väter nicht selten



Thule-Bd.00-069 Einfuehungs Band Flip arpa

eine Ausnahme von ihrer Berechtigung und stellen die Einwilligung der Tochter dem Bewerber als Bedingung, aus Liebe oder weil sie den stolzen Charakter ihrer Kinder kennern

Der Verheiratung ging die feierliche Verlobung voraus. Umgeben von Verwandten reiste der Freier zur Braut, warb selbst oder durch den Mund eines nahen Gesippen für sie und bot ihr die Hochzeitsgabe. Diesen Handel oder Kauf der Braut, wobei die künftigen Vermögensverhältnisse genau geordnet wurden, schloß man durch einen Vertrauensmann des Freiers. Der Tag der Hochzeit wurde fest bestimmt, spätestens ein Jahr nach der Verlobung.

Die Hochzeit fand bei dem Vater der Braut statt, und je angesehener die Familien waren, je mehr legte man Gewicht auf eine ansehnliche Festversammlung. Bei dem Mahl herrschte strenge Etikette in der Anordnung der Gäste. Der Bräutigam saß auf dem ersten Hochsitz, ihm gegenüber auf der niederen Bank der nächste Verwandte der Braut. Lustige Erzählungen und Lieder der Skalden würzten das Mahl. In Entfaltung von Glanz und Prunk konnte sich hier der ganze Stolz der alten Familien zeigen. Die angesehensten und vornehmsten Gäste wurden am Ende des Hochzeitsmahles vom Gastgeber beschenkt.

Trotz der geringen Bekanntschaft der Brautleute vor der Ehe war das Verhältnis der Gatten meist gut und glücklich. Die Hausbau war zwar rechtlich von ihrem Manne abhängig, aber, wenn sie wirtschaftlich tüchtig war, gewann sie bald auf das gesamte Hauswesen einen großen Einfluß. Nicht selten verwalteten tatkräftige Frauen nach dem Tode oder in Abwesenheit des Mannes allein ein großes Gehöft. Die Fälle sind selten, wo Böswilligkeit und Ränkesucht einer Frau den Mann ins Verderben stürzt. Meist waltet zwischen Mann und Frau, zwischen Mutter und erwachsenen Söhnen ein gutes Einvernehmen. Frau und Mutter sind oft in der Forderung der Blutrache für ihre Männer und Söhne nicht weniger energisch als der Hausherr . Dieser schätzt den Rat der Frau oft sehr hoch ein. Jene steht ihm mannhaft zur Seite und geht häufig treu mit ihm in den Tod.



Thule-Bd.00-070 Einfuehungs Band Flip arpa

In das Verhältnis zwischen Hausherr und Hausbau wirft auch das in Island sehr ausgedehnte Konkubinat kaum einen Schatten. Bei der Strenge, mit der die alten Familien auf die Unbescholtenheit der Jungfrauen hielten, wählte sich der Hausherr diese Lagergenossinnen meist aus dem Dienstpersonal, Auch im Kriege erbeutete oder auf Wikingerzügen von Händlern gekaufte Mädchen, oft von hoher Abkunft, wurden Konkubinen verwandt. Meist ließ sie der Hausherr, um Eifersüchteleien mit seiner Gemahlin zu vermeiden, auf einem besonderen Gehöft wohnen. Gediehen die Bastardkinder gut, so wurden sie auch wohl in die Familie eingeführt. Geachtet aber war der Stand der Konkubinen nicht. Waren Frauen vom Freier den Eltern geraubt oder bei der Hochzeit irgendwelche Förmlichkeiten nicht erfüllt, dann war man gleich mit dem Schimpfnamen"Kebse" zur Hand. Aber im Hauswesen brachten diese Mädchen, die gewöhnlich im dienenden Verhältnis zur Hausfrau standen, meist keine Störung. Ja sie standen oft auch mit der Frau des Hauses gut.

Auch die Herrschaft und das dienende Volk umschloß ein festeres Band, als man es bei dem rechtlichen Stande der Sklaven und Sklavinnen hätte erwarten sollen. Diese warm meist Nachkommen der von den Landnahmemännern aus Norwegen mitgebrachten Unfreien. Dazu traten irische Knechte und Mägde aus den norwegischen Kolonien auf den britischen Inseln. Ein erheblich neuer Zufluß kam, als die Besiedelung zu Ende war und die Kriegszüge aufhörten, kaum mehr hinzu. Außerdem wurde gar mancher Sklave freigelassen und ward dann leicht Vertrauensperson. Freigelassene verwalteten selbständig Güter ihres ehemaligen Herrn. Aber auch die Sklaven blieben, wurden, so verachtet dem Gesetz nach ihre Stellung gegenüber den Freien war, doch meist menschlich behandelt.

Die gemeinsame Tätigkeit trug wesentlich dazu bei, Herren und Knechte, Hausfrauen und Dienerinnen einander zu nähern. In der Landwirtschaft, die doch die Hauptarbeit der isländischen Familie bildete, waren alle, Freie wie Unfreie, tätig. Schmiedekunst und anderes Handwerk waren einem tüchtigen Hauswirt geläufig. Feldbestellung und Sennbetrieb verschmähten



Thule-Bd.00-071 Einfuehungs Band Flip arpa

selbst in den besten Familien Herr und Frau des Hauses nicht. Auch Seie Männer gaben sich oft freiwillig in den Dienst und Gold einer Familie und nahmen dann als "Hausgenossen" an der gemeinsamen Arbeit teil. Die Viebbesorgung, die als niederste Verrichtung des Hauswesens galt, besorgten meist die Knechte. Oft entstanden Flurstreitigkeiten auf der Weide. Ein tüchtiger Schafhirt war da von großer Bedeutung. Er diente auch oft dem Herrn als Späher, wenn Unfriede oder Gefahr von den benachbarten Gehöften drohte.

Wurde ein Knecht dabei erschlagen, dann zeigte sich freilich, wie gering er einem Freien gegenüber gewertet wurde. Zwar stand dem Eigentümer dafür eine Geldentschädigung zu, aber ein eigentliches Wergeld, wie für den freien Mann, wurde nicht gefordert. Hatte doch auch der Hausherr das Recht, jeden unbequemen Sklaven straflos zu töten.

Am augenfälligsten war die isländische Familie mit Hausgenossen und Sklaven bei der Heuernte versammelt. Sie währte, je nach der Gegend und der Witterung des Jahres, von Ende Juni bis in den September. Auf den reichen und üppigen Wiesen entfalteten sich dann prächtige Bilder bäuerlicher Arbeit . Freilich die Waffen mußte man auch da zur Hand haben. Ein Feind konnte immer nahen.

Die Zahl der Hausgenossen und Knechte war in einem Bauerngehöfte oft groß. Mancher Großbauer mag sich auf seinem Besitz nicht weniger mächtig vorgekommen sein wie ein Kleinfürst im Mutterlande Norwegen. Dreißig waffenfähige Männer auf einem Besitztum waren keine Seltenheit. Es gab Edelbauern, die 80, ja 100 Leute auf ihrem Gehöft nr Verfügung hatten.

Männer wie Frauen bewahrten sich oft ihre Rüstigkeit bis ins hohe Alter und wurden dann deshalb bewundert. Nicht selten aber zog sich der Herr des Hauses, wenn er älter wurde, von der Verwaltung des Besitzes zurück, und der älteste von seinen Söhnen trat an seine Stelle. Dann wurde der Alte auch wohl auf seine letzten Tage grillenhaft und eigenwillig und machte der Hausgenossenschaft viel zu schaffen.

Vielleicht tritt die Eigenart der isländischen Familienverhältnisse nirgends deutlicher zutage als in der Auffangung des Alters.



Thule-Bd.00-072 Einfuehungs Band Flip arpa

Auf körperliche und geistige Schlagfertigkeit war das Leben dieses urwüchsigen Volkes gegründet. Jede sentimentale Lebensauffassung war jenen starken Naturen fern. Wohl klagt einmal ein altisländischer Vater über seinen getöteten Sohn, Aber dann ist sicher das Leitmotiv seines Schmerzes, daß so viel blühende Kraft dem Geschlechte und ihm selbst nutzlos verloren gegangen ist. Auch die Frauen, die bei den Kämpfen durch Wundenverbindung die Schmerzen der Männer lindern, verleugnen diese harte Lebensauffassung nicht. In der Forderung der Blutrache sind sie unerbittlich wie die Männer. Nicht früh genug konnte auch nach ihrem Geschmack Kraft und Mannhaftigkeit schon bei Kindern auftreten. Die Kraft eines Knaben war für später ein werbendes Kapital.

Bei dieser allein auf Kraft gestellten Lebenswertung der alten Isländer ist es natürlich, daß ihre Beurteilung der Alten von unserer wesentlich abwich. Ein scharfer Gegensatz tritt zutage in ihrer Ehrung beim Tode und in ihrer Behandlung in den letzten Lebensjahren. Dort konnte man sich an äußeren Ehren kaum genugtun, bier war gutmütiger Spott in der Behandlung des Alters wohl die Regel.

Daß der Tote möglichst bald unter die Erde kam, war ein strenges Erfordernis heidnischer Sitte. Selbst der Gegner, der einen Feind erschlug, sorgte dafür, daß dieser mit Erde oder darauf gelegten Steinen vorläufig verhüllt wurde. Für die Verwandten war es unbedingte Pflicht, dem Gestorbenen die Totenhilfe zu gewähren. Man drückte ihm Lippen und Nasenlöcher zu, damit die Seele aus dem Körper leichter weichen könne.

Die Toten wurden nicht verbrannt, sondern in einem Grabhügel beigesetzt. Häufig lag dieser auf einem Felsvorsprung nahe der See. Auch die Höhe, an der das Gehöft lag, wurde zur Anlage der Grabstätte gewählt. Der Lebende hatte sich wohl auch schon diesen Platz gewünscht, um noch im Tode sein Besitztum zu überblicken. Steine errichtete man um den Grabhügel als Totenmal.

Der Leiche wurden Gewänder und Waffen, fast immer auch Schmuckgegenstände in das Grab mitgegeben. Selbst das Roß



Thule-Bd.00-072a Einfuehungs Band Flip arpa

Steindenkmal des hier erschlagenen Skalden Thorgeirr auf Hraunhafnartangi. Nordisland



Thule-Bd.00-072b Einfuehungs Band Flip arpa



Thule-Bd.00-073 Einfuehungs Band Flip arpa

und der Leblingssklave wurden bisweilen mitbegraben. Außergewöhnliche Helden wurden auch wohl in vollem Waffenschmuck sitzend im Hügel bestattet. Bisweilen beerdigte man den Toten auf einem Schiff in der Erde, ein sinniger Hinweis auf des Lebenden Wikingertum. Allen diesen Bestattungsbräuchen lag deutlich die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tode zugrunde .

Auf die Bestattung der Leiche folgte der Totenschmaus oder das Erbmahl. Hier war die ganze Sippe versammelt, um beim festlichen Gelage auf die Erinnerung des Toten zu trinken. Auch Totenlieder wurden bei diesem Gedächtnismahl vorgetragen, in denen die Taten des Verstorbenen gepriesen wurden. Solche Leichmschmäuse nahmen bei einem berühmten Mann oft einen größeren Umfang an als Hochzeiten und andere Festlichkeiten. Die zahlreich besuchtesten Gastereien, die in den Sagas erwähnt werden, sind solche Totenfeiern, wo zuweilen bis 900, ja 1200 Mann beisammen waren.

Man freute sich, als bei einem solchen Erbmahl der Tote, ein Ertrunkener, mit seinen verstorbenen Gefährten als Geist erschien und an der Feier teilnahm. Man glaubte, er fühle sich jetzt wohl.

Bei den lebenden Alten nahm man meist das Gegenteil an. Das war auch der Hauptgrund, warum man ihnen gewöhnlich mit Zurückhaltung gegenüberstand. Hinter dem gutmütigen Spott, mit dem man sie behandelte, verbarg sich oft das Mißtrauen gegen ihre Eigenwilligkeit und Unberechenbarkeit.

Der Gegensatz von sinkender körperlicher Kraft und noch inden Adern spukendem Wikingertum des Geistes schaffte in den alten Männern oft eine Unruhe, die etwas Unheimliches hatte. So peinigt der alte Thorolf Lahmfuß seinen Sohn Arnkel durch allerhand Unfieden, den er gegen ihn bei den Nachbarn stiftet, und fordert schließlich dessen verbittertsten Gegner zum Prozeß gegen jenen auf. Selbst der alte Egil, der sein Silber auf dem Allthing ausstreuen will, um allgemeinen Unfrieden zu stiften, und der es dann eigensüchtig vergräbt, wird seinen Verwandten ;u einer halb komischen, halb unheimlichen Erscheinung.



Thule-Bd.00-074 Einfuehungs Band Flip arpa

Eine angesehene Stellung nahmen zuweilen die Frauen im hohen Alter ein, wenn sie der Weissagekunst kundig waren. Eine solche Völva oder Zauberin wurde hoch geehrt und reich mit Geschenken bedacht, wenn sie von ihrem Prophetenthron die Zukunft kündete. Doch war hierzu mehr die Furcht vor ihren Hexenkünsten der Anlaß.

Daß der Tote noch nach der Bestattung die Stätten seiner ehemaligen Wirksamkeit aufsuche, war allgemeiner Glaube. Man führte seinen Leichnam ungern aus der Haustür und durchbrach lieber eine Wand, damit er den gewohnten Weg nicht zurückfände. Es wimmelt in den isländischen Sagas von böswilligen Toten und Gespenstern, die unheilstiftend wiederkehren und oft erst mit größter Mühe nr endgültigen Ruhe gebracht werden können.

Ein ausgebreitetes Bild der altisländischen Familie bietet uns die Geschichte vom weisen Njal. Es ist schwer, in jener wilden waffenstarrenden Zeit von einem Familienpatriarchen zu sprechen. Doch kommt jene Sagagestalt der Vorstellung, die wir uns von einem solchen machen, am nächsten.

Mit seiner weise abgewogenen, stets das Beste wollenden Gesinnung schwebt der Geist dieses Mannes über allen Ereignissen seiner weitverzweigten Saga. Er ist gleichweit entfernt von der nur auf das Politische gerichteten Schlauheit und Durchtriebenheit eines Goden Snorri wie von dem maßlosen, alle Schranken des Staates und der Gesellschaft durchbrechenden Draufgängertum des jungen Grettir. Von diesen nächst ihm bedeutendsten Sagagestalten hebt Njal sich ab in seiner wohltuenden Menschlichkeit, die doch nie etwas Weichliches bekommt. Wie nüchterne Prosa wirkt Snorri, wie leuchtende Poesie Grettir. In der Mitte zwischen beiden steht Njal. Seiner Persönlichkeit fehlt jede Romantik Und doch verkörpert er das wirkliche Sagaleben in einer geradezu idealen Weise, die in jener Zeit nicht ihresgleichen hat.

Unter dem Einfluß des allmählich eindringenden Christentums tauchen damals doch bin und wieder schon Gestalten auf, die eine dem Heidentum fremde ungewöhnliche Milde zur Schau tragen. Von dieser Friedfertigkeit um jeden Preis hat Njal, der die Herzensgüte selbst darstellt, freilich noch keine Spur. Auch



Thule-Bd.00-075 Einfuehungs Band Flip arpa

er hat, wo er in seinem Sippegefühl schwer gekränkt wird, nichts gegen Rache einzuwenden und steht in dieser Lebensauffassung auf demselben Boden wie alle seine Zeitgenossen. Sein Aufenthalt als Jüngling in der Fremde beweist, daß auch ihm Wikingersinn nicht fern lag. Der bartlose Mann, der den Spott über diesen äußerlich weibischen Zug von bösen Zungen erfährt, war in seiner Jugend wie der junge Grettir auf Heerfahrten. Daß er auf Thingverhandlungen seinen Mann stand und sein Rat hier hochgeschätzt wurde wie der des Goden Snorri, zeigt der nachhaltige Einfluß, den er auf die Ausbildung des Staates gewann.

Indes seine volle Bedeutung entfaltete Njal doch erst im Kreise seiner Freunde und seiner Familie, die alle mit unbedingter Verehrung ihm aufschauen.

Eine schönere und aufopferndere Freundschaft ist nicht möglich als die zu seinem jüngeren Gefährten Gunnar von Hlidarendi, dem er in tausend Verlegenheiten hilft. Keine harmonischere Ehe kennt die alte Saga als die zwischen ihm und Bergthora, die ihm an Güte wesensverwandt ist und doch wie er von starkem und kräftigem Rachedurst entflammt werden kann, wo es die Wahrung der Sippe gilt. Daneben steht Njals immergleiche Treue seinen Söhnen gegenüber. Die Söhne seiner Ehefrau, die sich in ritterlicher Kampfgemeinschaft zusammentaten, der Bastardsohn Höskuld und endlich der Ziehsohn gleichen Namens , stehen alle seinem Herzen gleich nahe. Nichts kränkt den alten Njal mehr als die Erschlagung jenes Pflegesohnes durch seine andern Söhne. Nichts erfreut ihn stärker, als da seine Gemahlin und alle Söhne einig sind, den Tod seines Konkubinensohnes zu rächen.

Ein ragödienstoff steckt in der Geschichte Njals, dem man in verändertem Sinne das Motto unseres Nibelungenliedes voranstellen könnte, daß Liebe immer zuletzt nur Leid hervorbringe.

Dem jungen Gunnar von "Haldenende" hat Njal während dessen Abwesenheit in Norwegen uneigennützig das Besitztum verwaltet. Nun kommt jener von seinen Wikingerzügen zurück und erzählt von seinen Taten. Ahnungsvoll sagt der ältere Freund: "Berühmt bist du geworden und berühmter wirst du



Thule-Bd.00-076 Einfuehungs Band Flip arpa

noch werden. wird dich viel beneiden, und du wirst dich deiner Haut wehren müssen. Tust du auch nur Tüchtiges, entgiltst du leicht anderer Bosheit."Wie oft Njal den Freund durch seinen weitausschauenden Rat unterstützt hat, er kann nicht einmal den Hader zwischen ihren beiden Familien hindern, Er kann dem Tode Gunnars nicht wehren und ihn nur durch seine Söhne rächen lassen.

Njals Sohn Skarphedin meldet ihm den Tod seines Pflegesohnes Höskuld, der durch jenen und seine Brüder erfolgt ist, "Schlimme Botschaft", sagt der Alte, "so sehr versetzt sie mich in Trauer; daß ich lieber zwei meiner Söhne missen würde, könnte Höskuld am Leben sein. Das wird der Untergang meines ganzen Geschlechtes werden." Auch diese Prophezeiung, daß des Ziehsohns Tod ihn selbst töten würde, erfüllt sich vor Njals Augen.

Er hatte die Sippe von Höskulds Vater Thrain, den seine Söhne erschlagen hatten, durch des Sohnes Annahme an Kindesstatt versöhnen wollen. Nun entfachen Höskulds Verwandte den alten Streit aufs neue. Es kommt zum Überfall auf Njals Besitzung "Bergthorashügel und zum Mordbrand, in dem Njal, seine Gattin und sein ganzes Geschlecht ums Leben kommen.

Die Tragik in Njals Leben wirkt um so natürlicher, als ihm und den Gestalten, die ibn umgeben, nicht die geringste Sentimentalität anhaftet. Praktisch und nüchtern denken diese Menschen, die, wie der alte Njal selbst, als einfache Bauern ihr Feld bestellen. Der eigne Sohn wirft dem Njal das Alter als weichlichmachende Schwäche vor. Wäre Njals Güte nicht mit so ausnehmender Klugheit gepaart, sie hätte kaum von seiner Umgebung so hohe Wertung erfahren.

Hallgerd, die Gemahlin Gunnars von Haldenende, und Skarphedin, Njals eigner Sohn, sind die beiden mächtigen Persönlichkeiten , an deren Gegenwirkung Njals fürsorgliche Weisheit zuschanden wird.

Beide sind urwüchsige und in Anwendung ihrer Kampfmittel skrupellose Kraftnaturen. Unerbittlich schürt Hallgerd den Zwist zwischen den Familien Njals und Gunnars und versagt dem Gatten noch im Todeskampf die letzte Hilfe um einer Züchtigung



Thule-Bd.00-077 Einfuehungs Band Flip arpa

willen, die sie einst ihrer Bosheit halber von jenem empfing. Und Skarphedin kann es dem Vater nie verzeihen, daß er den Sohn seines Todesfeindes ihm zum Ziehbruder gab, ja ihn mit einem Godentum beschenkte. Bei der Frau Gunnars wie bei Njals Sohn ist es die überschäumende Kraft, die um jeden Preis Betätigung sucht und ihre Lahmlegung nicht verträgt .

Hallgerd ist schon als Kind ein Ausbund von Schönheit, und in den Diebesaugen lesen die Verwandten mit Besorgnis die ungewöhnliche Verschlagenheit des jungen Mädchens. Die Freier werden gewarnt, aber ihre verführerische Schönheit berückt alle. Schön ist sie und hochgewachsen. Ihre Haare wallen so lang und schwer hernieder, daß sie sich darin vollständig einhüllen kann.

So tritt sie auch Gunnar auf Thingvöll entgegen, dem sie auf seine Werbung erwidert, es sei nicht vieler Männer Sache, mit ihr eine Ehe zu wagen. Schon zweimal war sie damals verheiratet gewesen. Dem Willen des Vaters hatte sie sich gefügt, aber die ihr zugesprochenen Männer töten lassen. Auch jetzt weist sie Gunnar wegen der Heirat an ihren Vater und tritt hoffärtig in die Ehe.

Auf einem Gastmahl gerät die Jungvermählte sofort mit Njals Gattin Bergthora in Zwist. Aus Zorn darüber, daß sie im Platz hinter einer von Bergthoras Schwiegertöchtern zurücktreten muß, schleudert sie Beleidigungen auf Njal und seine Gemahlin. Sie selbst fordert von ihrem Mann Gunnar Rache für die ihr angetane Zurücksetzung. Eine bäuerliche Brynhild. In den endlosen Plänkeleien, die nun folgen, wird Njals und Gunnars Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Männermorde, die auf beiden Seiten gesühnt werden müssen, hat jener Frauenzank zur Folge. Ja Hallgerd, die Fehde um jeden Preis haben will, läßt selbst aus Bergthoras Vorratskammern stehlen und zündet Njals Scheune an. Damals fiel im Unmut die Ohrfeige des sonst so geduldigen Gunnar, die sie diesem im Tode nicht vergißt.

Stets ist Gunnar durch den klugen Rat seines Freundes mit allen Fährlichkeiten fertig geworden. Da wird ihm seine



Thule-Bd.00-078 Einfuehungs Band Flip arpa

Vaterlandsliebe zum Verhängnis. Er geht nicht in eine dreijährige Verbannung, die ihm das Gesetz bestimmt. So wird er von seinen Feinden überfallen. Er bittet Hallgerd um ein paar Strähnen ihres üppigen Haares, die zerrissene Bogensehne zu ersetzen. Da läßt sie ihn hohnlachend im Stich. Keinen schärferen Gegensatz gibt es, als zwischen ihr und Njals Gattin Bergthora, die sich weigert, den ihr beim Mordbrand gewährten Seien Abzug zu benutzen und erklärt, ihrem Gatten sei sie in der Jugend verbunden, von ihm werde sie sich auch nicht im Alter trennen.

Bei all ihrer dämonischen Tücke konnte Hallgerd vom Standpunkt der alten Saga kaum ein Vorwurf treffen. Gunnar fehlte bei aller Reckenhaftigkeit und Ritterlichkeit des Wesens doch eins: die Selbständigkeit. Njal war sein ständiger Berater. Das mußte eine Natur wie Hallgerd, in der alles Initiative war, ungewöhnlich abstoßen.

Zeigt Hallgerd in ihrer dämonischen Zerstörungssucht doch die Selbständigkeit, die eine isländische Frau in ihrer Familie behaupten konnte, so tritt uns in Skarphedin der Mann in seiner sippenstolzen Kraft entgegen. Ein Hagen von Tronege des Nordens. Groß von Wuchs, aber von bleichem Aussehen und gespensterhaft, stark und kampflustig, rasch entschlossen, furchtlos und schlagfertig in der Rede. So schildert ihn die Saga. Dieser Mann ist, wo es die Wahrung der Sippe gilt, der Hort und Schutz des väterlichen Hauses.

Der Held, der so gerne höhnisch lacht und oft so bös aussieht- als käme er von Meeresklippen, ist kein Liebhaber von Vergleichen und Kompromissen.

In allen den blutigen Vorgängen, die endlich zu dem Mordbrand führen, der das ganze Njalsgeschlecht vernichtet, ist er der geborene Führer. Er, der den sanften Gunnar von Haldenende mit dessen Sohn rächt, beschwört doch durch den Tod Thrains das furchtbarste Verhängnis herauf. Hatten ja dieses Mannes wegen er und sein Bruder durch Hakon Jarl in Norwegen unverdient Schmach und Unbill erleiden müssen.

Ein Mann wie Skarphedin durfte wohl dem alternden Vater vom Standpunkt der alien Saga den Vorwurf der Weich



Thule-Bd.00-079 Einfuehungs Band Flip arpa

heit machen. Er fühlt sich verantwortlich für das Wohlsein der Sippe, das durch die Aufnahme des Ziehsohns eine Gefährdung erlitten hat. Höskuld war des erschlagenen Thraïn Sohn. Kein Wunder, daß ihm die Njalssöhne das Godentum neideten.

Neben Egil Skallagrimsson ist in der alten Saga kein schwertgewaltigerer Beschützer der Sippe zu finden als dieser Skarphedin . Ein furchtbares Bild, wie er auf die im Fluß treibende Eisscholle springt und dort dem verhaßten Thrain das Haupt bis auf die Zähne spaltet. Er denkt dieser Tat beim Vernichtungskampf der sein Geschlecht tötet. Da schleudert er einem der anstürmenden Brandmänner einen aufgehobenen Backzahn Thrains ins Auge. Von brennenden Balken erschlagen findet man ihn noch stolz aufrecht stehend. Noch vorher hatte man aus den Trümmern den Skaldensang des todesmutigen Kämpen gehört. Vor der Gestalt des klugen Vaters tritt doch selbst diese Heldengestalt in den Schatten.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt