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Felix Niedner Islands Kultur zur Wikingerzeit


Mit 24 Ansichten und 2 Karten

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1913


6. Der altisländische Staat

Im Jahre 930 wurde der isländische Freistaat gegründet.

Im Jahre 1030 starb der Gode Snorri, der an seiner endgültigen Ausgestaltung den hervorragendsten Anteil hatte. In diesen hundert Jahren ist der Charakter des Volkes noch durchaus heidnisch. Es ist das isländische Heldenzeitalter, das alle berühmten Männer der Saga hervorgebracht hat.

Die Kräfte; die der Schaffung eines Einheitsstaates entgegenstanden, traten schon bei der Besiedelung Islands hervor. Es waren die gleichen, die den edlen Geschlechtern die Unterwerfung unter Haralds Herrschaft zur Unmöglichkeit gemacht hatten: der berechtigte Egoismus der auf ihren Besitz pochenden Familien und der auf die Kraft des Schwertes stolze Wikingersinn des einzelnen Mannes. Die größte Persönlichkeit des heidnischen Freistaates, Egil Skallagrimsson, zeigt diese staatsfeindlichen Kräfte in schärfster Ausprägung.

Egils Leben, das seinen Brennpunkt im Dichterberuf hatte, war eine Welt im Staate, die von ihrer Umgebung in hartnäckigem Eigensinn keine Notiz nahm. Diese souveräne Bauernselbständigkeit aber konnte auch ein Egil nur behaupten durch sein ungewöhnliches Ansehen, das jeden hinderte, seiner Familie zu nahe zu treten. Seiner Bedeutung entsprechend wäre auch dieser Mann trotzdem in die inneren Streitigkeiten der Heimat verwickelt worden, hätte er nicht sein ungeheures Wikingbedürfnis bereits im Ausland ausgetobt.

Die Machtfülle dieser Herrschernatur, im eignen Lande voll entfesselt, hätte gerade die Notwendigkeit eines Staatswesens dargetan, wie es sich jetzt über der Familie und über den einzelnen erhob.

Die äußeren Vorgänge, die zur Bildung des isländischen Freistaates führten, sind in Dunkel gehüllt. Nur so viel ist klar. Der Anstoß kam aus dem Willen des isländischen Volkes selbst. Bei der Gestaltung des neuen Staatswesens waren auch Einflüsse des Auslandes beteiligt.

Aus allen norwegischen Landschaften waren in den sechzig Jahren der Besiedelung Kolonisten zugeströmt. Auf alle Gegenden



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Islands waren Auswanderer der verschiedenen norwegischen Stämme verteilt. Im allgemeinen hielten die Siedler an den Orten, wo sie seßhaft wurden, zusammen. Im Interesse der führenden Landnahmemänner lag es, sich eine feste Bevölkerung im eigenen Gebiete zu sichern.

Überall aber konnten auch Ansiedler aus anderen Bezirken der Insel sich niederlassen. Zu jeder Tempelgemeinde konnten auch Bewohner fremder Gaue gehören. Eine strenge territoriale Abgrenzung bestand nur äußerlich überall. Sie war nicht so, daß das Gefühl, ein zusammenhängendes Volk zu bilden, in den einzelnen Distrikten hätte erstickt werden können.

So entstand ganz natürlich das Bedürfnis nach einem Mittelpunkt, wo sich einmal ganz Island treffen konnte. Die Jugend war schon während der Besiedelungszeit so gern ins Ausland gewikingert. Der Wunsch, dem staatlich geordneten Norwegen gegenüber auch eine äussere Einheit auf der Insel darzustellen, mag da vielen gekommen sein. Wurden doch schon in der vorstaatlichen Zeit tüchtige Isländer bei den fremden Königen so hoch geehrt.

Grim Geißschuh wurde dazu ausersehen, einen Platz auf der Insel zu finden, wo das Volk in alljährlichen Zusammenkünften die äußere Geschlossenheit dem Ausland gegenüber kundtun konnte. Bei dem unwegsamen Charakter Islands war diese Aufgabe schwer. Die Wahl fiel auf Thingvöll, das heutige Thingvellir, im Südwesten.

Von den Bezirken des Westens und Südens war dieser Platz bequem zu erreichen. Von Norden und Osten bot er verhältnismäßig den leichtesten Zugang. Die gewaltige Natur stimmte zu der Wichtigkeit des neuen Thingplatzes. Die weite Hochebene und die angrenzenden Lavahöhen kamen dem Bedürfnisse einer großen Gerichtsversammlung denkbar entgegen.

Das Volk drückte dem Finder der heiligen Stätte seinen Dank aus. Eine freiwillige Kopfsteuer von je einem Pfennig wurde ihm für seine Mühewaltung zuteil. Der Entdecker Thingvölls aber gab uneigennützig der Freude über das Gelingen seiner Aufgabe dadurch Ausdruck, daß er den Ertrag dieser Abgabe auf alle Tempelgemeinden des Landes verteilte.



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Der Sitz für eine Zentralgewalt des Landes war geschaffen. Das äußere Vorbild des Allthings, wie die Versammlung dort im Gegensatz zu den Einzelthingen der Landschaften genannt wurde, war Norwegens Gerichtsverfassung.

Auch aus der Entfernung hatte König Harald Haarschön nie aufgehört, auf die isländischen Verhältnisse nach Kräften einzuwirken . Er war damals ein alter Mann. Aber sein Sohn Hakon der Gute, schon äußerlich ein Abbild des Vaters, hatte auch dessen staatliche Organisationskunst geerbt. Auf seine Veranlassung wurden durch sachkundige Männer die bestehenden Gerichtsverbände Norwegens revidiert und neugestaltet.

Der bedeutsamste Verband war das nach einer kleinen Insel in der Gegend des Sogne- und Hardangerfjords genannte Gutathing. Auf ihm pflegten je zwölf Männer aus drei bei einem bestimmten Prozeß besonders beteiligten Landschaften als Gerichtshof zu tagen. Bei zweifelhafter Urteilsfällung bildete der König die entscheidende Instanz. Dieses Gaugericht hatte das höchste Ansehen, und seine Entscheidungen wurden, in mündlicher Überlieferung treu festgehalten, später die Grundlage M die norwegischen Gesetzesbücher. Auch das Amt eines Gesetzessprechers, der durch sein juristisches Wissen die schriftliche Kodifikation damals ersetzte, war in Norwegen schon vorhanden.

An den Reformen des Gulathings unter Hakon dem Guten hatte auch ein zu Ende der Besiedelungszeit auf Island weilender Norweger, namens Ulfljot, mitgewirkt. Er gewann großen Einfluß auf das isländische Volk zu dessen Bildung ja gerade die Siedler vom Hardanger- und Sognefjord einen besonderen Anteil gestellt hatten. So beauftragte man ihn, in Norwegen ein isländisches Landesgesetz auszuarbeiten. Dies wurde, als er 930 nach Island zurückkehrte, Gesetznorm der Insel.

Erst im zwölften Jahrhundert wurde das isländische Staatsrecht, zu dem bier die Grundlage geschaffen war, schriftlich niedergelegt. Im dreizehnten empfing es in dem Gesetzbuch der Graugans seine endgültige Gestalt.

Durch die neue Verfassung erhielt das isländische Volk in dem



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Gesetzessprecher ein sichtbares Oberhaupt. Er wurde auf drei Jahre gewählt und stellte nach außen die gesetzgebende Gewalt über die Insel dar. Seine Aufgabe war es, von dem hochragenden Gesetzesfelsen von Thingvöll während seiner Amtszeit die ganze Gesetzessammlung einmal feierlich vorzutragen tragen. Er mußte den Rechtsuchenden auf jede Anfrage seinen juristischen Rat erteilen. Er war die höchste Person bei den alljährlichen Allthingversammlungen und dem Ausland gegenüber der Präsident des neuen Freistaates.

Eine vollziehende Gewalt hatte dieser erste Vertreter des neuen Staates nicht. Diese lag bei der gesetzgebenden Versammlung des Allthings, die zugleich die richterliche Funktion eines Obertribunals für das ganze Land ausübte. Bei ihrer Besetzung , die ganz nach dem Muster des norwegischen Gulathings erfolgte, hatten die Goden das Hauptwort. Sie durften mit der neuen Verfassung wohl zufrieden sein. Ihre richterliche Selbstherrlichkeit in den einzelnen Bezirken wurde zwar durch die oberste Instanz des Allthings beschränkt. Aber dieser Machtverlust wurde durch ihren Einfluß auf die dorthin entsandten Männer reichlich aufgewogen.

An den inneren Zuständen des Landes änderte sich vorläufig wenig. Nur eins war gesichert. Man hatte nach außen ein Oberhaupt. Man hatte eine höchste Rechtsinstanz und traf alljährlich im Hochsommer auf dem Allthing zusammen.

Die angeborene Streitlust des Volkes behauptete sich nicht nur in den Gerichtsversammlungen der einzelnen Bezirke: sie machte auch vor der höchsten Autorität des Allthings oft nicht Halt.

Wegen eines furchtbaren Mordbrandes war im Jahre 905 der mächtige Häuptling Tungu-Odd angeklagt. Auf dem zunächst zuständigen Landschaftsthing konnte die Sache nicht entschieden werden. Der Beklagte hinderte seinen Gegner und Kläger Thord Gellir mit Waffengewalt, bis zur Thingstätite vorzudringen. Aber auch auf dem Allthing, wohin die Sache nun verwiesen wurde, kam es zu blutiger Fehde. Erst nachdem viele Männer gefallen waren, wurde endlich die richterliche Entscheidung in diesem Rechtsstreit getroffen,



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Blick vom Gesetzeshügel auf Thingvallavatn. Westisland



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Diese Durchkreuzung des Rechtsganges durch die Willkür der hadernden Parteien war an sich nicht wunderbar. Die einzigen Wahrheitsbeweise des alten Prozesses waren Eid und Zeugen. Beide wurden oft durch Geld oder Beziehungen verschafft, so daß sie vom Gegner angefochten wurden. Nahezu Einstimmigkeit der Richter war für die Entscheidung Bedingung, und diese war in vielen Fällen nicht zu erzielen.

Aber der Hauptgrund der Rechtsunsicherheit lag doch in der gesetzlich nicht festgelegten Macht der Goden. Oft wurde die Zuständigkeit eines Bezirksthinges angefochten. Häufig war überhaupt keins vorhanden. Ein großer Schritt in der Entwicklung des Einheitsstaates war es, als Thord Gellir auf dem Allthing eine genaue Bezirksverfassung und eine Festsetzung aller stimmfähigen Goden des Landes erreichte.

Das ganze Land wurde in vier Viertel eingeteilt, die nach den Himmelsrichtungen benannt waren. Jedes Viertel bestand aus drei Thingverbänden. Jeder Thingverband umfaßte drei Godentümer mit je einem Haupttempel. Nur den Nordländern wurde noch ein vierter Thingverband bewilligt, da sie sich über ihre Thingstätten auf keine andere Weise einigen konnten.

Jeder dieser drei ehn Thingverbände war verpflichtet, im Frühling wie im Herbst besondere Thinge abzuhalten, auf denen die Gemeindeangelegenheiten erledigt und Recht gesprochen werden sollte. Hier kamen die drei Goden des Bezirks mit ihren Leuten zusammen. Auch hielten die neun oder zwölf Goden des Landesviertels noch besondere Hauptversammlungen ab.

Die 39 Goden besetzten wie früher mit den von ihnen empfohlenen Männern das oberste Gericht. Doch wurde dies jetzt in vier gesonderte Senate eingeteilt, die genau den vier Landesvierteln entsprachen. Die früher mit dem Gerichtshof identische gesetzgebende Versammlung wurde nun abgetrennt, und in ihr erhielten nicht nur die Vertreter der Goden, sondern auch diese selbst Sitz und Stimme. Dadurch wurde der aristokratische Charakter des Gesetzesausschusses erheblich verstärkt.

Neben den amtlichen 39 Godentümeru konnten sich beliebig viele andere Tempelgemeinden auftun, aber nur die Inhaber jener konnten fortan auf den Rechtsgang der vier Senate am



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Obergericht und vor allem auf die Gesetzgebung einen entscheidenden Einfluß ausüben.

Durch das Gesetz des Thord Gellir war der Gegensatz zwischen dem aus dem Auslande entnommenen Verfassungsentwurf und dem bodenwüchsigen isländischen Godentum nach Möglichkeit ausgeglichen. Dadurch, daß jedes Godentum der Ins sein festes Gaugericht hatte und jedes Viertel Islands auch auf der höheren Instans in gesondertem Senat vertreten war, wurde die Rechtssicherheit wesentlich erleichtert.

Doch auch die vier Senate des Obergerichts konnten oft zu keinem rechtskräftigen Entscheid kommen, und Fehden, ja förmliche Schlachten auf dem Allthing waren auch jetzt noch keine Seltenheit. So wurde 1002 in Thingvöll noch zu einer letzten Neuerung geschritten, die das Verfassungswerk abschloß. Es wurde ein fünfter Senat eingerichtet, der alle auf den vier Berufungssenaten nicht erledigten Rechtshändel aburteilen sollte.

In der Art, wie diese Neuerung zutage trat, zeigte sich die Macht der alten Familien. Der weise Njal, ein mächtiger Häuptling, wünschte für seinen Pflegesohn Höskuld ein neues Godentum. Als bei einer Tagung des Allthings einmal besonders viele Rechtshändel nicht zur Erledigung kamen, benutzte er klug die Gelegenheit, um den Vorschlag einer neuen obersten Instanz auf dem Allthing selbst zu machen.

Dieses fünfte Gericht, das alle durch die Viertelsenate nicht erledigten Rechtsfälle noch in derselben Allthingssitzung ent- scheiden sollte, konnte durch die Vertreter der alten Godentümer allein nicht besetzt werden. So war die Schaffung neuer Godentümer notwendig, und leicht wurde es Njal, bei den angesehenen Häuptlingen eines von ihnen seinem Günstling zu erwirken.

Für dieses fünfte Gericht waren die größten Vorsichtsmaßregeln getroffen, um die gewaltsame Rechtshemmung der Vorinstanzen möglichst zu hindern. Den Parteien stand den drei Dutzend Richtern, die dort tagen sollten, gegenüber ein ausgedehntes Verwerfungsrecht zu. Die hier geleisteten Eide sollten eine verschärfte Bedeutung erhalten, um eine größere Sicherheit für die Ehrenhaftigkeit aller dem Prozeß beteiligten Zeugen,



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Eideshelfer und Richter zu erzielen. Auch sollte hier nicht Stimmeneinheit, sondern Stimmenmehrheit den Ausschlag geben.

Die nächste Folge war, daß der Zweikampf, der bisher die letzte Zuflucht bei unentschiedenen Rechtshändeln gebildet hatte, wei Jahre später abgeschafft wurde. Freilich erhielt er sich widerrechtlich trotzdem, und auch jetzt noch hörten Waffenfehden vor Gericht nicht auf.

Fehdelust der einzelnen und kluger Egoismus der großen Familien waren schon bei der Bildung des neuen Staates hervorgetreten. Beide hören auch in den nächsten dreißig Jahren nicht auf, eine bedeutsame Rolle auf den alljährlichen Allthingsversammlungen zu spielen.

Ein abwechslungsreiches Bild entfaltete sich auf Thingvöll um die Zeit des Hochsommers. Aus dem bunten jahrmarktartigen Volksgetümmel sondern sich die drei wichtigsten Erscheinungen des Thinglebens wirkungsvoll ab.

Für sich tagt die gesetzgebende Versammlung. Sie hatte allein die Rechtsnorm festzustellen, und nur sie war befugt, Ausnahmen davon für die Prozessierenden durchzusetzen. Wiederum an anderm Ort sitzen die Richter der einzelnen Abteilungen. Kein Thingteilnehmer darf unaufgefordert ihren Gerichtsring betreten. Am Abend ziehen sie aus, um das Urteil vom Gesetzesfelsen zu verkünden.

Der Gesetzesfelsen ist der heiligste Punkt der Thingstätte. Von ihm aus dürfen auch Privatpersonen wichtige Mitteilungen an die Versammlung richten. Die Erlaubnis dazu aber hat der Gesetzessprecher zu geben, der auch stets den juristischen Rat erteilt. Dieser Platz ist allein seine Domäne. Nur aus den besten Männern des Landes wählt ihn die gesetzgebende Versammlung. Das Bild des Thingfriedens ist in dieser Persönlichkeit greifbar verkörpert.

Und doch. Wie leicht wandelt sich diese ganze friedliche Szenerie in Krieg. In ihren Buden besuchen, bewirten und beraten sich die von Waffen starrenden Häuptlinge. Auch jetzt noch kann es durch Intrigen zu Thingauflösung und zu Thingschlachten kommen.



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Eine Änderung trat auch nicht ein, als im Jahre 1000 das Christentum als Staatsreligion öffentlich anerkannt wurde. Mochte es auch die Versöhnlichkeit und die Enthaltung vom Zweikampf hier und da unterstützen: eine Umwandlung der Geister im Sinne des Christentums kam in den ersten dreißig Jahren nach seiner Einführung nicht zustande.

Der Charakter des Staates blieb durchaus heidnisch. Das lag in den eigentümlichen Verhältnissen Islands begründet. Früh hatte die religiöse Gleichgültigkeit des Volkes die in der Landnahmezeit eingewanderten christlichen Elemente wieder verschwinden lassen. Seit den achtziger Jahren des zehnten Jahrhunderts waren zwar Missionare aus Deutschland und Norwegen tätig gewesen. Mancher auf der Insel, selbst einflußreiche Häuptlinge, waren zur Bekehrung gebracht. Indes nicht der christliche Eifer der Bekehrten war die Ursache des Sieges der neuen Religion. Rein aus politischen Erwägungen, um die Einheit des Staates durch die Glaubensspaltung nicht zu gefährden, wurde allgemein der Christenglaube angenommen . Diese Annahme war gleichsam die Probe auf die Festigkeit der Republik.

Der Vorgang selbst, wiederholt in den Sagas dargestellt, gestattet sich äußerst dramatisch. Es sieht aus, als solle eine große Volksschlacht auf dem Allthing geschlagen werden. Im letzten Augenblick erfolgt dann nach eingehenden Verhandlungen der beiden Parteien eine friedliche Vereinbarung. Auch die Heiden sahen ein, daß ohne die Annahme der neuen Lehre die Existenz des Staates gefährdet war.

Die Christen, die in voller Waffenrüstung auf das Allthing rückten, wurden von zwei Häuptlingen geführt, die König Olaf Tryggvason in Norwegen auf die Bekehrung Islands verpflichtet hatte. Er zürnte wegen der Mißerfolge, die seine Missionare im Lande gehabt hatten, und hatte sich nur unter der Bedingung davon abhalten lassen, alle Isländer in Norwegen zu töten, daß die Bekehrung auf dem Allthing durchgesetzt würde.

Wilder Protest der Heiden erhob sich, als die Christen den Thingplas betreten wollten. Noch erbitterter ward die Stimmung,



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als sie gar in feierlichem Aufzug vom Gesetzesfelsen König Olaf Tryggvasons Wunsch dort verkündeten. Unvermeidlich schien jetzt der Zwist. Man sagte sich einander Recht und Frieden auf. Alle Vorbereitungen zur Schlacht waren auf beiden Seiten getroffen, als auch noch ein gewaltiger Vulkanausbruch stattfand. Die erbitterten Heiden meinten, ihn hätten die über die frevlen Reden der Christen erzürnten Götter gesandt . Da rief Snorri, der angesehenste der christlichen Häuptlinge, wen denn wohl die alten Asen bei früheren Vulkanausbrüchen gestraft hätten! Beruhigung trat ein, und mit dem heidnischen Gesetzessprecher Thorgeir traten die Führer der Christen zusammen, um zu beratschlagen.

Aus den Bedingungen, die für die Annahme des Christentums vereinbart wurden, tritt der rein staatliche Charakter der Christianisierung Islands hervor.

Was man den Heiden irgend gestatten konnte, blieb. Sie durften weiter Pferdefleisch essen, was sonst von den Missionaren als äußeres Zeichen des heidnischen Opferdienstes streng verpönt wurde. Das Aussetzen der Kinder, vom christlichen Standpunkte ein Greuel, wurde nach wie vor gestattet. Selbst heimliches Opfern zu den alten Göttern sollte straflos bleiben. Bloß das öffentliche Bekenntnis zur heidnischen Lehre wurde mit Landesverweisung bestraft. Die Thingleute mußten sich sofort zur Taufe bequemen. Die Nord- und Ostländer, die durchaus nicht in das kalte Wasser steigen wollten, taufte man in warmen Quellen. So hatte der neue Staatsvertrag äußerlich war das Christentum gebracht, innerlich aber auf ein Menschenalter noch die Macht des heidnischen Staates gefestigt.

Der politischen Selbständigkeit drohte trotz weiterer Einwirkungsversuche König Olaf des Heiligen einstweilen keine Gefahr mehr. Bei der Entfernung der Insel war an einen festen und auf die Hierarchie der römischen Kirche gestützten Episkopat nicht zu denken. Die Goden bauten Kirchen statt der Tempel, wie sie dies vereinzelt schon bisher getan hatten. Sie wurden auch wohl christliche Priester. An ihrer weltlichen Machtstellung büßten sie nichts ein.

Gern war das ganze Volk dem Entscheid des Gesetzsprechers



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Thorgeir gefolgt. Die Heiden vertrauten ihm, weil er einer der Ihrigen war, die Christen, weil die neue Lehre äußerlich durchgesetzt wurde. In der Überzeugung von der Notwendigkeit des getanen Schrittes in politischer Hinsicht waren alle Einsichtsvollen einig.

Die dem Einheitsstaat feindlichsten Kräfte waren der im Godentum gipfelnde Egoismus der alten Familien und der fehdelustige Eigensinn einzelner Wikingernaturen im Volk gewesen. Diese blieben in den ersten hundert Jahren der Republik in mancher Hinsicht ungebrochen. Aber es war doch ein Zeichen für die außergewöhnliche politische Begabung des jungen Volkes, daß auch jene widerstrebenden Elemente in kritischen Augenblicken bei der Bildung des Staatswesens nicht versagt hatten.

persönliche Motive hatten einen Thord Gellir und einen Njal zur Erreichung der beiden wichtigsten Staatsreformen geführt. Aber beidemal waren die Einrichtungen, die diese beiden klugen Männer durchsetzten, in den inneren Verhältnissen des ganzen Volkes begründet. Sie hätten mit Notwendigkeit auch ohne sie später eintreten müssen.

Nicht anders war es bei der Krönung des Einheitswerkes durch die Einführung des gemeinsamen Glaubens. Der Staatsgedanke, der durch die Einmischung des Norwegerkönigs gefährdet war, gab bei dem heidnischen Gesetzessprecher Thorgeir die Entscheidung, die Einsetzung der neuen Religion zu befürworten. Aber auch bei den christlichen Häuptlingen, vor allem beim Goden Snorri, war die gleiche Erwägung maßgebend. Auch das Godentum hatte ein Interesse daran, daß nicht durch Zersplitterung in eine heidnische und eine christliche Partei die durch das Allthing nach außen gewährleistete Staatseinheit gefährdet wurde. Es schützte den neuen Staat vor jeder inneren Verknöcherung, daß er wirklich aus dem Willen der einsichtsvollsten und tatkräftigsten Männer Islands geboren ward.

Keine Gestalt erregt in der politischen Geschichte des Freistaates ein solches Interesse wie der Gode Snorri. Er war einer der mächtigsten Häuptlinge. Kampf und Fehde füllten das Leben des vielgewandten Mannes, mochte er daheim in seinem Bezirk am Breitfjord weilen oder auf dem Allthing seinen Rat in die



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Wagschale werfen. Auch das Christentum tat seiner Kämpennatur keinen Abbruch. Diese teilte er mit vielen andern. Was ihn aus der Menge der Zeitgenossen heraushob, drückt sein Zuname " der Gode" nicht aus. "Der Kluge" hätte er am passendsten geheißen.

Die Sagas schildern ihn eingehend. Er war von mittlerem aber etwas schmächtigem Wuchs, mit regelmäßigen schönen Gesichtszügen, von lichter Hautfarbe. Im täglichen Leben war er verträglich. Man merkte ibm nicht leicht an, ob ibm etwas wohl oder übel gefiel. Wirkliche Beleidigungen trug er dennoch lange nach und war dann sehr rachgierig. Snorri war klug und konnte in manchen Dingen in die Zukunft schauen. Heilsamen Rat erteilte er seinen Freunden, aber seine Feinde glaubten, in seinen Ratschlägen eine gehässige Gesinnung zu erfahren. So wurde er bald ein großer Häuptling und Tempelvorsteher. Wegen seiner Macht wurde er viel beneidet. Es gab ja viele, die ihrer Abstammung nach sich nicht geringer dünkten, an Stärke und erprobter Tapferkeit aber sich größer fühlten.

Snorris Leben bestätigt diese Charakterskizze. In die großartigste Saga des Nordlandes wie des Südlandes leuchtet seine Bedeutung hinein.

Der junge Grettir, Nordislands größter Held, ist durch Gerichtsbeschluß zu ewiger Friedlosigkeit verurteilt. Die Freunde weisen ihn an den klugen Rat des Goden Snorri. Dieser verspricht dem Geächteten, nach Kräften seine Sache zu vertreten, wenn er ihn auch nicht in seinem Hause aufnimmt. Die politische Klugheit Snorris mochte einen Hader mit anderen mächtigen Häuptlingen befürchten.

Vorsichtig zurückhaltend, aber in dem entscheidenden Augenblicke tatkräftig zeigt sich Snorri auch in der großen Saga des Südlandes. In dem Streit zwischen Flosi und den Njalssöhnen wegen der Ermordung von Njals Pflegesohn Höskuld wird sein kundiger Rat begehrt. Auch hier macht sich die zur Vermittlung neigende Natur des besonnenen Mannes wohltuend geltend.

Trotzdem wird auch Snorri in das große Allthingdrama am Schlusse der Njalssaga verwickelt. Durch Flosi, der für Höskuld



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Rache nahm, ward der alte Njal mit Weib und Kindern in seinem Hause überfallen und durch Feuer getötet. Njals Verwandter Kari sucht die Hilfe mächtiger Häuptlinge in dem Prozeß , den er gegen Flosi wegen des Mordbrandes auf dem 'Allthing anstrengt. Dieser erscheint mit reicher Hilfe aus dem Ostlande . Als Vermittler im Prozeß sowie in der furchtbaren Schlacht, die dann zwischen beiden Parteien anhebt, spielt Snorri die hervorragendste Rolle. Die größten Ehren erfährt er, als er schließlich den Vergleich zustande bringt.

Die rührigste Tätigkeit entfaltete Snorri am Breitfjord in seiner Heimat. Außer der nach ihm genannten Saga wissen auch die Geschichten von den Leuten aus dem Tal der Lachsach und die Erzählung vom Hochlandkampf von des unermüdlichen Mannes Schlauheit zu berichten.

Snorris Schwiegervater wurde der Haudegen Vigastyr, der dreiunddreissig Feinde erschlagen hatte, ohne auch nur einmal Buße dafür haben zahlen müssen. Dessen Tochter errang er, indem er Vigastyr kluge Ratschläge gab, wie er sich zweier Berserker , die jene umwarben, am besten erledigen könne. In Zwiesprache mit dem Donnergott behauptete Snorri die listigen Vorschläge zur Abwehr der Unholde auf dem von seinen Ahnen geheiligten Berge empfangen ;u haben. Ebendort baute der diplomatische Mann später eine Kirche. Er duldete, daß sein christlich gesinnter Sohn an dem Rachezug für den getöteten Schwiegervater sich nicht beteilige. Er selbst nahm in echt heidnischer Art fürchterliche Blutrache,

Ein besonderes Vertrauensverhältnis verband Snorri mir den Leuten aus dem Lachstal. Ein treuer Berater wurde er für die Heldin jener Gegend, Osvifrs Tochter Gudrun. Auf seinen Rat nimmt Gudrun seinen Freund Thorkel zum Gemahl. Ja Snorri tauscht sogar mit Gudrun seinen geliebten Wohnsitz Helgafell, da jene mit den Mördern ihres vorigen Gatten nicht in demselben Bezirke wohnen will. Aber streitbar und unternehmungslustig bleibt er auch in der neuen Umgebung.

Die Saga vom Goden Snorri selbst ist vor allem dazu angetan, seine verschlagene, aber doch mannhafte Gestalt in ihrem Wert hervortreten zu lassen. Spielt sie doch gerade auf dem Boden,



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Ouelle unter überwachsenem Lavafeld in Nordisland



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der für die erste Reform der Staatsverfassung durch Thord Gellir von so großer Bedeutung wurde. Auf dem Thorsnesthing fand jener wütende Gerichtskampf statt, zwei Jahre bevor der Gode Snorri dort geboren wurde.

Der wilde Spuk, der die Saga von Anfang bis Ende durchwebt, gibt ein gutes Kolorit der Zeit des Übergangs vom Heidentum zum Christentum. Aber in dem Auftreten Snorris diesen Gespenstern gegenüber liegt auch der einzige Zug, der bei ihm christlich anmutet. Im übrigen ist er auch nach seiner Bekehrung der gleiche tatenlustige und ränkevolle Heide.

Schon mit dreißig Jahren steht Snorri auf dem Höhepunkt seiner Macht. Seinen Hauptgegner Arnkel hat er nach lange voraufgegangenem Hader endlich vernichtet. Durch seine Verschwägerung mit dem mächtigen Vigastyr hat er sich großen Einfluß gesichert. Er ist nun unbedingt dank seiner klugen Berechnung und seiner Tapferkeit der erste Mann am Breitfjord. So entscheidet er auch den Streit seiner Verwandten, der Leute aus dem Alptafjord, der "Schwanenbucht". mit den Männern aus Eyr, die auf dem Eise des Vigrafjords die wütendsten Kämpfe ausfochten. Am Ende des isländischen Heldenzeitalters läßt ihn die Saga sterben. Im kräftigen Mannesalter hatte er auf dem Allthing sein Hauptwerk vollbracht. Sein Name war mit der Bildung des Freistaates für immer verknüpft.


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