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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DAS ADLERMÄDCHEN

An einem warmen Julitag stieg eine Witfrau, ich weiß nicht aus welchem Dorf, auf den Berg hinauf, um zu heuen. Sie trug in ihrem großen Korb, den sie auf den Rücken gebunden hatte, auch ihr zweijähriges Kind. Das war ein herziges und wunderliebliches Mädchen. Während die Mutter emsig mit Heuen beschäftigt war, hüpfte das Kind bald da, bald dorthin, um Alpenblümlein zu pflücken. Auf einmal kam ein mächtiger Adler, gleich einem fallenden Stern, auf das Kind herabgeflogen, packte die Kleine mit seinen scharfen Krallen und trug sie davon in sein Nest.

Denkt euch den Schrecken, die Verzweiflung und das Weinen der unglücklichen Mutter! Aber wie sonderbar, das Kind hatte keine Angst vor dem schrecklichen Raubvogel. Es schmiegte sich zufrieden an seinen Hals, lachte und spielte mit seinen Federn. Der Adler, besiegt von den unschuldigen und anmutigen Liebkosungen der Kleinen, faßte Zuneigung zu ihr und beschloß, sie als Tochter an Kindesstatt anzunehmen. Er brachte ihr Früchte und wilden Honig zu essen und zeigte ihr, wie man aufi den abschüssigen Felsen der Berge herumklettern und sich festklammern müsse.

Eines schönen Tages begann der Adler für sein Pflegekind in die Dörfer tief unten im Tal oder in die Ebene hinunterzufliegen, um allerhand Wäsche und Kleidchen der Bauernmädchen zu rauben, die zum Trocknen an der Sonne hingen. Dann, als das Kind immer größer



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wurde, wollte er, daß es Kleider aus Sammet und Seide anzöge. Deshalb flog er in die Schlösser und Paläste der Königin und der Prinzessinnen, raubte dort die wundervollen Kleider und trug sie von dannen auf die unzugänglichen Höhen seiner Felshöhle. Eine Königin, der eine Menge Kleider und Schmucksachen auf diese Weise weggekommen waren, bat schließlich ihren Sohn, jenen schrecklichen Raubvogel zu erjagen.

Der Prinz wollte zuerst seiner Mutter nicht gehorchen. Dann aber fragte er sich, neugierig geworden, wieso wohl ein Vogel dazukomme, Kleider und Juwelen zu stehlen und beschloß darum, der Sache auf den Grund zu gehen. Monate und Monate lang streifte er auf dem Gebirge umher, ohne den Raubvogel zu finden. Schon hatte er wieder den Entschluß gefaßt, sein kühnes Unternehmen aufzugeben, als er plötzlich an einem schönen Tag im Mai eine süße Mädchenstimme hörte, die oberhalb seines Standortes sang. Sogleich kletterte er am Felsen empor und fand die junge Sängerin ganz vergnüglich im großen Nest des Adlers sitzen. Wie überirdisch schön war sie! Sogleich ging der Jüngling auf sie zu. Sie wurden bald gute Freunde und erzählten einander ihre Erlebnisse. Das Mädchen berichtete dem Prinzen die wunderbare Geschichte ihres Lebens in dieser Bergeinsamkeit. Dieser wollte, daß sie nunmehr in sein schönes Schloß komme und seine Gemahlin werde. Das hübsche Mädchen war damit einverstanden. Sie stiegen zusammen ins Tal und gelangten endlich zur Königsburg. Dort stellte der Prinz seine Begleiterin dem Vater vor und sie erzählten ihm, auf welch sonderbare Art sie sich gefunden hatten. Der König hieß das wunderschöne Mädchen mit einem



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Kuß willkommen, nannte sie Aquila oder Adler, gab seine Einwilligung zur Verlobung und traf alle möglichen Vorbereitungen für eine glanzvolle Hochzeit.

Die alte Königinmutter jedoch wollte durchaus nichts davon wissen, daß ihr Sohn eine solch abenteuerliche Vermählung eingehe und jenes wildfremde Mädchen zur Frau nehme. Sie befahl daher im geheimen zwei Dienern, die Braut in den Fluß zu werfen. Und diese gehorchten. Aber der Adler hatte das verzweifelte Schreien des armen Mädchens gehört, das im Begriff war, im Wasser zu ertrinken. Schnell wie der Blitz flog er herbei und brachte die Ertrinkende ans Ufer. Darauf kehrte Aquila in das Schloß zurück. Am folgenden Tag heiratete der schöne Prinz seine liebe Braut.

Um die grausame Königin zu bestrafen, zog sich der König von der Regierung zurück und überließ den Thron seinem Sohne, damit seine liebe Schwiegertochter Aquila Königin werde.


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