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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER SCHLAUE SCHNEIDER UND DER BÄR

Es lebte einst eine junge und schöne Prinzessin; aber sie mußte so lange in ihrem Schloß als Gefangene bleiben, bis irgendeiner von den Bewohnern ihres Landes ein Rätsel lösen konnte, das ihr Diener ihm vorsprach. War dies geschehen, so mußte der Freier als zweite Prüfung eine Nacht im Stalle eines furchtbaren Bären zubringen, der alles fraß, was ihm unter die Augen kam. Wenn es dem einen oder andern auch gelang, das Rätsel zu lösen, so konnte er doch dem schrecklichen Rachen des Bären nicht entgehen, und so waren alle, die das Abenteuer gewagt hatten, dabei umgekommen.

Nun waren im Land drei Schneider. Die sprachen lachend zu einander: «Was meint ihr, wollen wir nicht unser Glück versuchen und König werden?» — Ja, freilich, das könnten wir probieren», sprach der jüngste von den dreien, der häßlich von Gestalt und einfältig war, und er rieb sich vor Glück die Hände. Schweig doch, du Blödsinniger», sagten die andern. «Was würdest du anfangen mit dem bißchen Verstand, den du im Kopfe hast!»

Also gingen sie unerschrocken zum Königsschloß und wurden vor die schöne Prinzessin geführt, die ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, als sie die drei Schneider erblickte. Viele Ritter von edler Herkunft hatten ihr Glück versucht, und es war ihnen nicht gelungen, die Prinzessin zu gewinnen. Was wollten da diese drei



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Ungestalten noch erhoffen? «Man lese das Rätsel vor!», sprach die Königstochter zu ihrem Schildknappen. Der Diener willfahrte und hub also an: «Wer von euch, ihr Verwogenen, kann erraten, was für zwei besondere Haare die Prinzessin auf ihrem Haupte hat?» — «Ich sage», nahm jetzt der Mutigste von den drei Schneidern das Wort, «ich sage, eines dieser Haare ist rot und das andere schwarz.» — «Und ich behaupte», begann hierauf der zweite, «eines dieser Haare ist gelb und das andere weiß.» — «Nein», entgegnete der Schildknappe, und die Prinzessin lächelte. «Und ich versichere und garantiere, eines jener goldglänzenden Haare ist von Silber und das andere von Gold», platzte der jüngste der drei Brüder, der dumme, heraus. Jetzt wurde die Königstochter bleich und erhob sich von ihrem Sitz. «Es bleibt noch die Probe mit dem Bären zu machen», sagte sie rasch, als hätte sie Angst vor jenem Mann, der sich schon eines gewissen Anrechts auf sie rühmen konnte. «Also vorwärts an die Probe mit dem Bär!», sprach er unerschrocken. «Zum Zeitvertreib habe ich mir meine Geige und zwei Nüsse mitgebracht.» Als die andern das hörten, schauten sie einander verwundert an und sagten: «Oho, weder die Nüsse noch die Violine werden dich vor den Zähnen des gräßlichen Raubtieres retten können.» Also wurde er in den Bärenzwinger eingeschlossen. Dann sprachen die Brüder zueinander: «Morgen wird er uns nicht mehr plagen, dieser Taugenichts.» Und die Prinzessin und der Diener riefen ihm zu: «Auf Wiedersehen, morgen, lieber Prophet!» — «Auf gutes Glück, gnädige Herrschaften!», schrie der Schneider von innen.

Und dann fing er an, die Nüsse aufzuknacken. Der Bär tappte neugierig um ihn herum, denn er hatte im



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Augenblick noch keinen großen Appetit und wollte lieber noch ein wenig warten. Aber das große Tier konnte nicht verstehen, was jener häßliche Mann für ein Spiel mit seinen Zähnen ausführte, und es fragte ihn:

«Was machts du da, Mann?»

«Ich esse Nüsse, willst du auch ein paar?»

«Sind sie gut?»

«Ausgezeichnet, mein Lieber, willst du versuchen?»

«Warum nicht, gib her!»

Der schlaue Schneider aber bot ihm eine Handvoll Steine, die der Bär mit aller Gewalt aufknacken wollte. Bei dieser harten Arbeit zerbrachen aber die Zähne in Stücke. «Ei der Tausend, wie ist es möglich, daß ein Bär nicht einmal diese Nüsse aufbringt», rief der Schneider verwundert aus, «und dabei haben deine Kiefer doch eine solche Kraft!» Aber während er dies sprach, schaute er ganz glücklich auf die Zahnstücke, die dem Bär aus dem Maule fielen. «Jetzt kannst du mich nicht mehr mit deinen Zähnen zerreißen, verwünschter Bär, ich habe dir die Zähne hübsch zugerichtet», dachte er bei sich im stillen.

Nach und nach aber wurde der Bär zornig, als er sah, daß er die Steine nicht aufknacken konnte, die er für Nüsse hielt, und er ließ ein unheimliches Brummen hören. Daraufhin griff der Schneider zu seiner Violine und fing an, eine stille und einschmeichelnde Melodie zu spielen. Da wurde der Bär still, hörte eine hübsche Weile zu und fragte dann den Schneider:

«Was hast du da in den Händen, Mann?»

«Eine Geige, mein lieber Freund Bär.»

«Und wie bringst du es fertig, so schöne Musik da herauszuholen?»



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«Schau, das macht man so!»

Und der Bär schaute zu.

«Aber weißt du, ich möchte auch gern so schön spielen können.»

«Das glaub ich gern. Und es ist ein gar hübscher Zeitvertreib.»

«Ist es schwer?»

«O nein, mir wenigstens ist es nicht schwer gefallen. — Möchtest du tanzen, mein lieber Freund Bär?»

«O ja, aber du mußt kräftig spielen, ich bitte dich.»

Jetzt neigte sich der Schneider gegen den Bären, und der suchte, auf beiden Hinterfüßen aufrechtstehend, mit zierlichen Schritten, den Rhythmus der Musik zu begleiten. Und er tanzte und tanzte, bis er vor Müdigkeit nicht mehr konnte.»

«Höre, Mann, ich bin müde; zeige mir jetzt, wie ich spielen soll.»

«Ja, gleich auf der Stelle, mein Freund Bär. Nur, siehst du, ohne weiteres wird es dir nicht gelingen. Oh, warum brummst du, du mußt nicht zornig werden, es hat weiter nichts auf sich. Weißt du, ich muß doch meinen Schülern die Wahrheit sagen.»

«Aber wieso sollte ich's denn nicht können», meinte der Bär, «ist's dir gelungen, der du noch ein häßlicheres Geschöpf bist als ich, dann werde ich diese Kunst auch lernen.»

«Mit jenen langen Krallen aber kannst du nicht spielen, ich versichere dich, schau meine Fingernägel an, die müssen doch kurz sein, die Nägel.»

«Also, schneid mir sie ab, du Dummkopf!»

«Ganz recht, wenn es dir lieb ist, gerne. Bleib dort und warte, ich will gleich meine Schere holen, hier, in meinem Kittel ist sie, den ich dort an der Tür aufgehängt



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habe. Aber du mußt dich nicht umdrehen, denn ich muß dir zuerst die Nägel an den Hinterpfoten schneiden, sonst kann ich's nicht machen, du bist gar so groß, mein lieber Freund Bär!»

Der Bär schmunzelte, denn das Kompliment gefiel ihm; kein Mensch hatte ihm jemals so viel freundliche Worte gegeben. Er stellte sich also so hin, wie es ihm sein Geigenlehrer befohlen hatte und wartete. Als der Schneider weit genug vom Bär entfernt war, streckte er sich auf dem Boden aus und legte sich schlafen, wobei er beständig murmelte: «Ich komme gleich, beweg dich nicht, jetzt komme ich, ich bin da», bis auch das böse Tier eingeschlafen war. So ging die Nacht vorüber. Als der Tag anbrach, stand der Schildknappe frühzeitig auf, ließ den Stall öffnen, wo alles still war, und glaubte bestimmt, nur noch einige Knochen als Ueberreste des armen Schneiders zu finden.

Wie groß war jedoch seine Ueberraschung, als er ihn ruhig eingeschlafen fand, und auf der andern Seite den Bären, der ihm den Rücken zukehrte und ebenfalls schlief.

Als die Königstochter erfuhr, daß der Schneider den Sieg davongetragen habe, fing sie an zu weinen, denn der Gedanke war ihr schrecklich, daß sie nun jenen häßlichen Jüngling heiraten müsse. Andererseits aber tröstete es sie, wenn sie dachte, daß sie jetzt endlich aus ihrer Gefangenschaft befreit war. Als der Schneider ihr vorgeführt wurde, schön hergerichtet und herausgeputzt, in prächtigen Kleidern, mit Federn auf dem Hut und mit Tressen geschmückt, stellte es sich heraus, daß nur die abgetragenen Kleider ihn so entstellt hatten, und sie fand ihn gar nicht mehr häßlich. Und dabei wußte sie, daß er gescheit und schlau war.



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Sie konnte also hoffen, daß er die Staatsgeschäfte mit Geschick leiten würde und das Reich dabei aufblühe. Und so hieß sie ihn willkommen und küßte ihn von Herzen.

Die beiden Bruder des Schneiders knieten vor ihm nieder und baten ihn um Verzeihung und Hilfe, was er ihnen auch gewährte, obwohl er wußte, daß sie ihn nie recht gern gehabt hatten, und erst jetzt, wo er die Königskrone erlangt hatte, sein gutes Herz schätzen lernten. Der Bär wurde in einen mächtigen Zwinger gebracht, der doppelt so groß war wie der frühere. Jeden Tag gab man ihm zwei Portionen echte Nüsse, und ein Mann mußte ihm täglich zwei Stunden auf der Geige vorspielen.

Die Prinzessin war nun voller Freude. Ihr Gemahl war gut, freigebig, wagemutig, gescheit und gar nicht unansehnlich, und sie empfand vor allem das Glück der Freiheit. Sie lebten zusammen in Freude viele. viele Jahre und ließen auch ihre Untertanen an ihrem Glück teilnehmen.


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