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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


SANKT PETER UND DER MOHR PIPETTA

Zu der Zeit, wo der liebe Gott bisweilen auf unsere armselige Erde herabstieg, lebte ein sehr frommer und demütiger Mann in stiller Zurückgezogenheit fast wie ein Waldbruder. Weil er eine dunkle Hautfarbe hatte und leidenschaftlich gerne sein Pfeifchen rauchte, bekam er den Zunamen der «Mohr mit dem Pfeifchen». Er lebte in tiefster Armut, denn er hatte beinahe all seine Habe den Armen und Notleidenden gegeben. Das hatte der liebe Gott wohl bemerkt, und er wollte eine so edle Handlungsweise nicht ohne Belohnung lassen. Er schickte daher seinen Lieblingsjünger Petrus zu ihm hin, um ihm mitzuteilen, daß er drei Wünsche tun dürfe.

Petrus begab sich also in die bescheidene Hütte des Mohren und sprach: «Der liebe Gott hat deine guten Werke gesehen und ist zufrieden mit dir. Er will dir darum drei Wünsche gewähren. Du glücklicher unter den Sterblichen, wenn du diese schöne Gelegenheit benützest, das Richtige zu wählen!»

Pipetta dachte ein Weilchen darüber nach und erwiderte alsdann: «Ich will dir sagen, was ich mir wünsche: Zum ersten, daß meine Pfeife immer mit dem besten Tabak gefüllt sei. Zum zweiten, daß alles, was ich will, in meinen Sack hineinwandre und nicht eher wieder heraus kann, als ich es befehle. Zum dritten: daß alles, was in meinen Hut hineingeht, mir gehören soll und es mir niemand mehr wegnehmen kann.»



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Als Petrus diese drei Wünsche vernahm, war er verwundert und gleichzeitig betrübt darüber. «Wie kannst du nur so etwas wünschen? Warum erbittest du nicht vom lieben Gott die höchste Gnade, die es für einen Christen geben kann, nämlich, daß deine Seele gerettet werde und du in den Himmel kommest?»

Der Mohr entgegnete: «Ei, da laß nur mich machen! Diese Gunst, in den Himmel zu kommen, die will ich mir nicht als besondere Gabe schenken lassen, sondern ich will sie mir durch einen recht christlichen Lebenswandel selbst verdienen.» Also ging Petrus wieder fort, überbrachte die Botschaft seinem Herrn, und dieser erfüllte dem Mann die drei Wünsche.

Von diesem Tag an war Pipetta glücklich. Er hörte nie auf zu rauchen. Sein Genueserpfeifchen war immer mit Tabak gestopft, und zwar vom besten, so daß er sogar nachts im Bett sich von seiner Pfeife kaum trennen konnte.

Ferner trug er fortan immer einen großen, leeren Sack auf den Schultern. Eines Abends, als er im Walde war, begegnete er zwei Teufelchen, welche umherirrten und im Begriffe waren, arme Seelen zu fangen. Da sprach Pipetta: «Ich will, daß diese zwei Unholde auf der Stelle in meinen Sack schlüpfen!» Und die beiden Landstreicher mußten, ob sie wollten oder nicht, augenblicklich in den Sack kriechen und sich darin, ganz eng aneinander gepreßt, zuschnüren lassen. Dann schnitt sich Pipetta mit seinem Messer einen dicken und knorrigen Stock aus Eichenholz zurecht und fing an, mit dem Knüppel unbarmherzig auf den Sack loszuschlagen. Die beiden Teufel heulten vor Schmerzen, aber es half ihnen nichts. Das Hagelwetter tobte weiter auf sie herab. Endlich schrien sie: «Laß uns heraus,



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und wir wollen sofort wieder in unsere Wohnungen zurückkehren !»

«Versprecht ihr mir, euch nie mehr auf dieser Welt unter den Leuten blicken zu lassen?» Wir versprechen es dir, nie mehr zu kommen.» «Unter dieser Bedingung also macht, daß ihr fortkommt!» Und damit löste er den Sack auf, der da und dort große Blutflecken zeigte, und er sah, wie die beiden Bösewichter, von Flammen und Rauch umhüllt, verschwanden.

So setzte Pipetta seine irdische Pilgerfahrt fort, und als er beinahe achtzig Jahre alt war, kam auch für ihn das letzte Stündlein. Er mußte sterben und seine letzte Reise antreten in die andere Welt. Als er im Jenseits war, ging er geradewegs zu Petrus, weil er sicher glaubte, ins Paradies hineinzukommen. Aber Petrus empfing ihn am Himmelstor, erkannte ihn gleich wieder und erinnerte ihn daran, wie er ihn seinerzeit vergeblich ermahnt hatte, doch ja sich von Gott zuerst die Gnade zu erbitten, in den Himmel zu kommen. Darum sollten nun für ihn die Pforten zur ewigen Glückseligkeit für immer verschlossen bleiben. Auf diesen Bescheid hin stieg Pipetta hinab in die Hölle und klopfte daselbst ans Tor. Der Zufall wollte, daß ihm gerade eines der beiden Teufelchen öffnete, die er vor Zeiten im Sack verprügelt hatte. Aber kaum hatte es ihn erkannt, so stieß es ihn zurück: «Mach daß du sogleich fortkommst von hier», schrie es ihn an, «hier hast du nichts zu suchen in meinem Haus!» Wie nun Pipetta sich auch aus der Hölle verjagt sah, stieg er wieder empor, kehrte zur Himmelspforte zurück und bat den Türhüter Petrus inständig, er möge ihn doch wenigstens einen Blick in den Himmel tun lassen. Da öffnete Petrus mitleidig das schwere und gediegene



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Himmelstor ein klein wenig. Flink wie der Blitz warf Pipetta seinen Hut in den Himmel hinein. Da sagte er: «Jetzt laß mich nur noch schnell hinein, um meinen Hut zu holen!» Da öffnete Petrus die Tür ganz, Pipetta hüpfte flugs hinein und stellte sich mit beiden Füßen auf seinen Hut. «Jetzt bin ich auf meinem Grund und Boden. und niemand kann mich von hier vertreiben!» sagte er triumphierend und vor Glück erstrahlend, daß er sich endlich ein sicheres Plätzchen im Himmel errungen hatte.

Die Legende erzählt noch, daß Petrus sich bald mit Pipetta versöhnte und Frieden mit ihm schloß. Und der Mohr mußte ihm fortan helfen, die Türe zu hüten.

So kam's, daß Petrus und Pipetta, der Mohr,
Noch heute bewachen das Himmelstor.


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