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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER STARKE MÜLLERBURSCHE

Es lebte einst eine kleine Familie, die sich kümmerlich durchs Leben schlug, obwohl es nur drei Personen waren, nämlich Vater, Mutter und ein Sohn von etwa fünfundzwanzig Jahren. Dieser junge Mann war stark wie ein Riese, aber nicht weniger groß waren die Auslagen, die die Eltern seinetwegen hatten, denn er all viel und die Eltern brachten in ihrer Armut das Geld nicht mehr auf, um seinen gewaltigen Hunger zu stillen. Deshalb beschlossen sie eines Tages, ihn in die Welt hinauszuschicken, damit er eine Stelle suche und sein Brot selbst verdiene. Der Sohn war sogleich damit einverstanden und nahm Abschied.

Er wanderte den ganzen Tag, und nachdem er einen weiten Weg zurückgelegt hatte, gelangte er endlich in ein Dörflein. Am ersten Hause - es war eine Mühle —klopfte er an. Der Müller schaute zum Fenster hinaus und fragte ihn nach seinem Begehr. Er antwortete: «Ich suche Arbeit.» Der Müller hieß ihn hereinkommen. Dann fragte er ihn, was für einen Lohn er verlange im Monat, und der Ankömmling erwiderte: «Sechs Napoleon-Goldstücke und dem Hund einen Tritt.» Der Müller nahm diese Bedingungen an und schickte ihn sogleich an die Arbeit.

Zuerst befahl er ihm, auf den Berg in den Kastanienwald zu gehen und Laub zu sammeln als Streue für die Kühe im Stall. Er zeigte ihm den Weg, und der Knecht stieg in den Wald hinauf. Weil er aber sehr



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stark war, nahm er statt einen Tragkorb gleich deren vier mit, indem er an jeder Schulter und Hand je einen trug. Und derart kam er in kurzer Zeit mit Laub beladen wieder zurück und füllte dem Müller in einem einzigen Tag den Stall mit Laub, weshalb dieser mit dem Burschen sehr zufrieden war.

Sobald die Arbeit fertig war, schickte er ihn mit einem Wagen und zwei Ochsen davor in den nahe gelegenen Wald, um Holz zu holen. Der Bursche belud den Wagen so hoch mit Holzklötzen, daß die Ochsen ihn nicht vom Fleck bringen konnten. Da packte er mit seiner Riesenkraft kurzerhand die beiden Ochsen, lud sie auf den Wagen zu dem Holz, spannte sich selbst davor und brachte derart die Holzfuhre hinab ins Tal zu der Mühle.

Ein anderes Mal war der Müller damit beschäftigt, den schweren Mühlstein wieder instand zu setzen, während gerade weiter unten am Berghang in der Nähe des Stalles der Bursche die Kühe hütete. Auf einmal ließ der Müller den Mühlstein fahren und fing an aus allen Leibeskräften zu schreien: «He, he, Knecht, duck dich, grad jetzt ist mir der Mühlstein aus den Händen entwischt!» Und wirklich kollerte der schwere Stein in großen Sprüngen den Berghang hinunter und hätte die Kühe sicher erschlagen. Aber der Bursche sprang nicht etwa davon, sondern streckte bloß die Hand aus und brachte den gewaltigen Mühlstein sofort zum Stehen. Dann sprach er zum Müller: «Du hast ja bloß einen Kieselstein fallen lassen, nicht einen Mühlstein!» Und damit lud er ihn auf die Schulter und trug ihn wieder an seinen Ort zurück. Und es war doch ein Steinblock von Mannshohe, ihr könnt euch denken, wie schwer er war!



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Mittlerweile nahte der Augenblick, wo ihm der Lohn ausbezahlt werden sollte. Dem Meister aber wurde angst und bange, wenn er daran dachte, wie stark sein Geselle war und wie übel es dem armen Hund erginge, wenn der Riese ihm einen Tritt gäbe. Er würde ihn in kleine Stücke zerschlagen. Darum nahm er sich vor, seinen Gesellen loszuwerden und ihn im dichten Walde sich verirren zu lassen.

Er gab ihm eine Axt und ging mit ihm hinauf in den Wald. um Bäume zu fällen. Er dachte, es würden alsdann die wilden Tiere kommen und ihn zerreißen. Kaum waren sie in den Wald gekommen, so tat er, als wolle er ihm die Baumstämme anzeichnen, die er zu fällen habe. Während nun der Knecht ganz mit seiner Arbeit beschäftigt war und an nichts anderes dachte, entfernte sich der Müller nach und nach immer weiter und kehrte wieder nach Hause zurück, ohne daß der Geselle es bemerkt hatte.

Auf einmal hörte der Riese ein Rauschen im Gebüsch, das immer näherkam. Es waren zwei große Wölfe, die auf ihn losstürzten, um ihn zu fressen. Er aber riß ohne langes Besinnen zwei Bäume aus dem Waldboden und hieb so grimmig damit auf die wilden Tiere los, daß sie bald tot am Boden lagen. Auf diese Weise rettete er sich das Leben. Sobald es Abend wurde, machte er sich auf den Heimweg zur Mühle hinab. Kaum war er dort angekommen, so erzählte er dem Meister, was ihm im Wald oben begegnet war. Der Müller war höchst erstaunt, denn er hatte schon geglaubt, die wilden Tiere hätten ihn umgebracht.

Also setzten sie sich hin zum Abendessen. und der Knecht sprach, es sei jetzt die Zeit und Stunde gekommen, wo er wieder weiterziehe. Darum möge er ihm



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den Lohn auszahlen. Der Meister gab ihm die sechs Goldstücke, und dann machte der Bursche sich daran, dem Hund den Tritt zu geben. Und er schleuderte das Tier so hoch in die Luft, daß es sieben Tage brauchte, bis es wieder auf der Erde ankam. Und nach dieser Zeit langte der Hund heil und gesund wie vorher wieder am Boden an. Der Müller aber war froh, den ungestümen Gesellen endlich los zu sein.


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