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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER KAMPF MIT DEM RIESEN

Vor Zeiten war einmal ein König, der hatte eine wunderschöne Tochter. namens Bianca. In seinem Reiche hauste jedoch ein Riese, welcher großes Unheil anrichtete. Jedes Jahr mußte ihm ein Mensch geopfert werden. Der König ließ das Los ziehen unter allen Personen seines Landes, und dieses Jahr traf es sogar seine eigene Tochter. Man kann sich seinen großen Schmerz vorstellen. Er konnte jedoch die Sache nicht ändern, weil er durchaus gerecht sein und das Vertrauen seines Volkes nicht verlieren wollte. Es kam der Tag, an dem Bianca sich zur Behausung des Riesen begeben mußte. Alle Leute waren in die Hauptstadt geströmt und bildeten eine lange Prozession, an deren Spitze die Königstochter schritt, begleitet von ihren weinenden Eltern.

Auf einmal kam ein fremder Ritter mit drei großen Hunden durch die Straße. Der fragte einen Bewohner der Stadt. was diese Prozession zu bedeuten habe, und als er den Sachverhalt erfahren hatte, folgte er dem Trauerzug. Dieser bewegte sich langsam durch die Stadttore hinaus nach dem Wald, wo das mächtige Schloß des Magiers stand. Es hatte starke Gitterstäbe an den Fenstern, und das Tor war ebenfalls aus schwerem Eisen geschmiedet. Kaum waren die Leute in der Nähe dieser Burg angelangt, so nahmen die Eltern und die übrigen Begleiter Abschied von der Prinzessin, und alle Leute flüchteten eiligst in die sichern Stadtmauern



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zurück. Nur der fremde Ritter mit den drei Hunden zog unerschrocken weiter, bis er bei der Königstochter anlangte, welche ihn fragte: «Warum kehrst du nicht zurück? Weißt du nicht, daß der Riese dich mit einem Male verschlingen wird?» Der andere aber erwiderte: «Ich heiße der ,Ritter mit dem eisernen Arm'. Habe keine Angst, diese drei Hunde hier werden auf meinen Befehl den Riesen in einem Augenblick zerreißen!» Er hatte diese Worte kaum gesprochen, so fing die Erde an zu zittern. Man hörte ein lautes, wildes Gebrüll. Das große Tor des Schlosses öffnete sich knarrend in seinen verrosteten Angeln, und der schreckliche Magier trat hervor. Er sah aus wie ein gewaltiger Gorilla, mit einem Kopf fast wie ein Löwe und vielen langen, spitzigen Zähnen im Maul. Kaum hatte er die Prinzessin und den Ritter mit den drei Hunden erblickt, so blieb er zunächst verdutzt und etwas erstaunt stehen. Jetzt befahl der Ritter dem ersten seiner Hunde, Sbranaferro oder «Eisenfresser» genannt: «Da, pack und zerreiß den Riesen!» Im Nu fiel der Hund über den Magier her, und es begann ein furchtbarer Kampf. Der Hund packte ihn und biß ihn, aber es war ein hartes Stück, den Wüterich zu besiegen, der sich mit größter Verzweiflung wehrte. Nun rief der Ritter auch noch die andern zwei Hunde, «Spring wie der Wind» und «Ueberklettre die Berge»,, herbei, und ließ sie am Kampf teilnehmen. Der Unhold teilte mit seinem Schwert wuchtige Hiebe aus, er wurde jetzt aber nicht mehr Meister, und in wenigen Augenblicken lag er tot am Boden.

Als die Königstochter, die bleich und stumm vor Entsetzen dem Schauspiel zugeschaut hatte, das sah, trat sie auf ihren Retter zu, dankte ihm von Herzen



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für die Befreiung und bat ihn, ins väterliche Schloß zu kommen, wo der König sie ihm zum Dank zur Gemahlin geben und sie die Verlobung feiern würden. Der Ritter aber gab zur Antwort, in einem Jahr, einem Monat und einem Tag werde er kommen, und dann solle die Hochzeit gehalten werden. Nun nahm er das Schwert, hieb dem Riesen das Haupt ab, schnitt ihm die Zunge heraus, legte sie in ein Tuch und zog mit seinen drei Hunden von dannen.

Die Königstochter machte sich auf den Heimweg in die Stadt. Und wie sie so eiligen Schrittes aus dem Wald gegen die Stadtmauern lief, begegnete ihr unterwegs der Köhler. Der war erstaunt, sie noch am Leben zu finden, weil er glaubte, der Riese habe sie schon längst verschlungen, und er fragte sie, wie sich die Sache zugetragen habe. Darauf erzählte sie ihm alles. Sobald der Köhler vernommen hatte, daß der Ritter Eisenarm fortgegangen war, sprach er neiderfüllt zur Prinzessin: «Ich verlange, daß du deinem Vater sagest, ich sei dein Retter gewesen. Tust du es nicht, so sind deine Tage gezählt!» Erschreckt von dieser Drohung, versprach Bianca, wider ihren Willen, das Wort zu halten. Und damit kamen sie in die Stadt. Der König anerbot dem falschen Retter seine Tochter zur Frau. Dieser nahm das Anerbieten mit Freuden an. Bianca aber sprach, sie wünsche, daß die Hochzeit erst stattfinde nach einem Jahr, einem Monat und einem Tag, denn sie hoffte, daß ihr wirklicher Retter kommen werde, sie zu erlösen.

Schon waren ein Jahr und ein Monat verflossen, und das Hochzeitsfest sollte am folgenden Tag stattfinden. Der König hatte alle Leute seines Hofes, die Herzöge, Grafen, Fürsten und viele Edle eingeladen, und die



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Gäste hatten sich mit dem Brautpaar zur Tafel gesetzt. Bianca saß herrlich gekleidet neben ihrem Bräutigam, dein Köhler. Aber sie war still und traurig und dachte an ihren wahren Retter. den Ritter mit dem eisenstarken Arm.

Dieser hatte mittlerweile alles erfahren. Er war auch in die Stadt gekommen und befahl demjenigen seiner Hunde, der wie der Wind springen konnte: «Geh hinauf ins Königsschloß, trage der Königin den Teller fort und bring ihn hieher!» Der Hund war im Augenblick im großen Festsaal, faßte den silbernen Teller der Königin und trug ihn vor aller Augen davon.

Sobald der König das sah, sprach er zu seinen Dienern: «Lauft schnell dem Hund nach und fangt ihn ein!» Aber Bianca entgegnete: «Nein, Vater, laß ihn in Ruhe, er hat mir das Leben gerettet!» Bei diesen Worten wurde der Köhler bleich vor Angst und fing an zu zittern. «Wie kommt dies», erwiderte der König, «ist dein Bräutigam nicht dein Retter gewesen?» Die schöne Braut jedoch schien nicht darauf zu hören, und das Gespräch geriet wieder auf andere Dinge.

Es dauerte nicht lange, so kam ein zweiter Hund zum Saal herein, der «Bergeersteiger», machte sich unbeachtet in die Nähe der Prinzessin. nahm ihr in einem unbemerkten Augenblick den silbernen Teller weg und sprang damit zum Saal hinaus. Wieder befahl der König, man solle dem Hund nachspringen, aber Bianca erwiderte: «O nein, Väterchen. laß ihn doch laufen, denn er hat mir das Leben gerettet!» Diesmal jedoch bestand der König auf seiner Frage, wieso das komme. Der Köhler zitterte wie Espenlaub, das der Wind schüttelt. Schon wollte Bianca den wahren Sach



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verhält erzählen, als die Saaltüre sich weit öffnete und der Ritter mit dem eisenstarken Arm, von seinen drei Hunden begleitet, hereintrat. Sobald die Königstochter ihn erblickte, brach sie in lauten Jubel aus und rief: Jetzt kommt mein wirklicher Retter!» Der König ließ sich dieses Rätsel erklären, und als er alles erfahren hatte, sprach er zum Köhler: «Nun ihr da, wißt ihr nichts zu eurer Verteidigung vorzubringen?» Der falsche Bräutigam faßte Mut und erwiderte ganz kaltblütig: «Das sind alles lauter Lügengespinste, was eure Tochter erzählt.» Darauf trat der Ritter auf ihn zu und sprach gelassen: «So zeiget mir das Haupt des Riesen, den ihr besiegt zu haben vorgebt!» Der Köhler begab sich hinaus und brachte es herbei. «Ganz recht, hier ist es, aber man schaue nach, ob es auch eine Zunge hat!» Nun kam die Wahrheit ans Tageslicht; es zeigte sich, daß dem Riesen die Zunge fehlte. Der Ritter brachte sie herbei und erzählte, wie er mit seinen drei Hunden den Unhold besiegt habe. Da fragte der König die erstaunten Hofleute, was für eine Strafe der Köhler verdiene. «Nichts anderes als den Tod!», riefen alle Anwesenden wie mit einer Stimme. Darauf wurde der falsche Bräutigam hinausgeführt und bekam für seine Lügnerei die verdiente Strafe.

Wie glücklich war nun die Braut, ihren wahren Retter neben sich zu sehen! Jetzt erst wurde die Hochzeit mit Freuden gefeiert, und die beiden lebten lange Jahre in Glück und Frieden.

So findet, wer Gutes tut, das Gute; wer aber Schlechtes tut, bekommt seinen Lohn.


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