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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


WER GUTES TUT. FINDET GUTES

Ein Kaufmann und ein Müller waren Freunde. Der Kaufherr behauptete, daß man heutzutage sagen müsse, wer Gutes tue, finde Schlechtes, und wer Schlechtes tue, finde Gutes; denn er habe immer Gutes getan und dafür jeweilen schlechten Lohn geerntet. Der Müller jedoch war gegenteiliger Meinung. Darauf gingen sie zusammen eine Wette ein, setzten eine Summe zum Pfand und verabredeten, dem ersten Wanderer, den sie auf der Landstraße unterwegs antreffen würden, die Frage zu stellen, wer von beiden recht habe: ob derjenige, welcher behaupte, daß Gutes tun Gutes bringe, oder derjenige, welcher der Meinung sei, daß Gutes tun Böses bringe. Erhalte der Müller recht, so



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habe dieser die Wette gewonnen; würde aber der Wanderer dem Kaufmann beipflichten, so bekomme dieser die Summe.

Die erste Person, die sie antrafen, war eine Bauersfrau. Sie legten ihr die Streitfrage vor und fügten hinzu: (Welches ist von beiden Ansichten die richtigere?» Und sie gab zur Antwort: (Auf dieser Welt trifft es leider oft zu, daß wer Gutes tut, schlechten Dank dafür erntet.»

Jetzt hatte der arme Müller die Wette verloren und mußte dem Kaufmann die Summe geben. Dessen ungeachtet fuhr er fort, bei seiner Meinung zu beharren und ging immer wieder neue Wetten ein, bis er seine ganze Habe verloren hatte. «Aber jetzt bist du doch überzeugt, daß du im Unrecht bist», sagte eines Tages der Kaufmann zu ihm. «Nein», erwiderte der Müller, «ich bin sogar bereit, meine beiden Augen als Pfand einzusetzen und lasse mich nicht davon abbringen, daß wer Gutes tut, auch Gutes findet.»

Und dennoch verlor er auch diesmal wieder seine Wette. Der Kaufmann ließ ihm das Augenlicht nehmen. und der arme Müller war nun blind.

Eines Abends befand er sich auf einer einsamen Straße. Sehen konnte er nun nichts mehr, und er dachte daran, es sei für ihn wohl das beste, sich ins Unglück zu schicken und die Nacht irgendwo in einem Winkel zu verbringen. Er tastete um sich und hörte nach einer Weile das Rauschen eines Wassers unter einer Brücke. Und zu gleicher Zeit vernahm er ein Flüstern von menschlichen Stimmen, die zueinander sprachen: (In dieser Stadt, in der und der Straße, in dem und dem Hause, wohnt ein reicher Herr, der ein Kästchen voll Gold besitzt, und in dessen Mitte ist ein Fläschlein, welches



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ein Heilmittel enthält für die Blinden. Es genügt, damit die Augen zu benetzen, um wieder sehen zu können. Morgen gehe ich in dieses Haus und stehle alles.»

Kaum hatte der Blinde dieses Gespräch mit angehört, so machte er sich auf den Weg und suchte einen Kaminfeger, dem er das ganze Geheimnis erzählte. Dieser sprach zu ihm: «Laß nur mich machen.» Er begab sich zu jenem reichen Herrn und bat ihn um Arbeit. Der erlaubte ihm, ins Kamin hinaufzusteigen, um es vom Rufi zu reinigen. Kaum war er jedoch in jenem Zimmer, so suchte er das Kästchen mit der Flasche und steckte es samt dem Rufi in seinen Sack. Hierauf schlich er sich aus dem Hause, ohne nur seinen Lohn in Empfang genommen zu haben. Er fand den Blinden, der auf ihn wartete, bestrich ihm mit dem Arzneimittel die Augen und heilte ihn.

Darauf teilten sie das Geld miteinander.

Hernach suchte der Müller den Kaufmann auf, und dieser fragte: «Du scheinst mir mein alter Freund, der Müller zu sein; aber du bist es doch nicht, da du das Augenlicht besitzest.» Und damit lud er ihn ein, Platz zu nehmen. Der Müller erzählte ihm seine Erlebnisse. Da sprach der Kaufmann: «Ich will auch hingehen und in jenem Winkel bei der Brücke schlafen.»

Er begab sich in der Tat zu der Brücke, und als bereits Mitternacht vorüber war, hörte er ein Flüstern. Es waren wieder jene selben Diebe, die zueinander sagten: «Wir haben uns doch letzte Nacht hier versammelt, wir haben dies und jenes besprochen; wir sind bei dem Reichen aufs Dach gestiegen und haben uns durch das Kamin hinuntergleiten lassen in jenes Zimmer und haben nichts gefunden. Also ist dies ein Zeichen, daß jemand hier in der Nähe ist und unser



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Gespräch belauscht hat.» Und damit machten sie sich rings um die Brücke auf die Suche und entdeckten den Kaufmann, der alles mit angehört hatte. Sie ergriffen ihn, raubten ihn aus bis auf die Kleider und das Hemd, banden ihn mit Stricken auf halbe Höhe eines Baumstammes fest, schlugen ihn auf erbärmliche Weise und überließen ihn halbtot seinem Schicksal.

Am andern Morgen kamen einige Wanderer über die Brücke, sahen ihn, hatten Mitleid mit ihm, banden ihn los vom Baum und brachten ihn in das Spital, wo er noch einige Tage lebte. Als das der Müller hörte, machte er dem Kranken einen Besuch und sagte zu ihm: Siehst du nun, daß ich doch recht hatte? Schau jetzt, was du dabei gewonnen hast? Es ist doch wahr: Wer Gutes tut, findet Gutes; wer aber Schlechtes tut, dem wird mit Schlechtem vergolten.»

Auf diese Weise wurde der Müller für sein Vertrauen belohnt.


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