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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER DIENER IST KLUGER ALS SEIN HERR

Vor Zeiten lebte ein Abt, der aß, trank, schlief und ging immer mit hocherhobenem Kopf, ohne an etwas zu denken, spazieren. Ein König, der ihn kannte, sagte zu sich selbst: «Ich will diesem Mann einen Kummer bereiten, denn er scheint keinerlei Sorgen und Verdruß zu haben.» Also rief er ihn zu sich und sprach: «Herr Abt, ihr müßt mir folgende drei Dinge erraten:

Zum ersten: Wie viele Meilen ist es von der Erde bis hinauf zum Himmel?

Zum zweiten: Wie viele Armeslängen tief ist das Meer?

Zum dritten: Was denke ich in diesem Augenblick?

Wenn ihr mir innert zwei Tagen keine Antwort darauf bringen könnt, so ist's um euch geschehen.»

Da kehrte der Abt voller Betrübnis nach Hause zurück. Er mochte nicht mehr essen, nicht trinken, nicht schlafen, nicht mehr spazieren gehen und ließ seinen Kopf hängen. Er mußte nur noch nachsinnen und denken. Sein Diener fragte ihn, was er habe, und er erzählte ihm alles, was der König zu ihm gesprochen hatte. «Nun gut», meinte der Diener, «ist das alles? Warum quält ihr euch deswegen so? Es ist doch das leichteste, was man sich denken kann. Gebt mir, gnädiger Herr, eure Kleider und laßt mich nur machen. Ich will für euch hingehen.» Und wirklich verkleidete sich der Diener als Abt, verschaffte sich zwei große Knäuel. den einen aus Schnur, den andern aus Zwirn und begab sich damit zum König. Sobald dieser ihn



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sah, fragte er ihn, ob er seine Antworten bereit habe. «Ja freilich, gnädiger Herr», erwiderte der Diener. Er zeigte ihm den Knäuel Schnur und fügte bei: «Diese Schnur ist gerade so lang wie die Entfernung von der Erde zum Himmel hinauf. Wenn Euer Gnaden es nicht glauben, so belieben Sie es selbst nachzumessen.»

Dann packte er den andern Knäuel aus und sprach: «So lang als dieser Zwirn ist die Tiefe des Meeres, und mit diesem Ende kann man gerade noch den Meeresgrund berühren. Will Eure Herrlichkeit es nicht glauben, so lasset es selbst nachmessen.»

Ja freilich», entgegnete der König, «jetzt aber kommt der Augenblick, wo ich dich besonders prüfen will. So sag mir doch, was denke ich in diesem Augenblick?» — «Ihr denket, ich sei der Abt, mit dem ihr zu reden glaubt; aber das ist ein Irrtum. Ich bin nur sein Diener.» Da wurde der König zornig. Er ließ einen Kapaunbraten, der für die königliche Tafel schön fertig zubereitet war, herbeitragen und sagte zum Diener: «Wie du jetzt mit diesem Hahnenbraten verfährst, so will ich an dir handeln. Schneidest du ihm ein Bein ab, so hau ich dir eins ab, schneidest du aber den Kopf ab, so mach ich es mit dir ebenso.» Da schaute der Diener dem Hahn auf den Kopf, nahm ein Messerlein und hieb ihm sorgfältig den Hahnenkamm ab. Dann wickelte er ihn in ein Papier und steckte ihn in die Tasche. Hierauf wandte er sich zum König und sprach:

Den Kamm, Herr König, schneidet Ihr mir nicht ab.
Ich bin nur ein Diener, eine Kron' ich nicht hab.

So half der Diener seinem Abt aus der Verlegenheit und ging wieder zurück zu seinem Herrn.


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