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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


VON HANS UND DEM HINKENDEN TEUFEL

Als Hans zwanzig Jahre alt wurde, packte er seine Siebensachen in ein Bündel, nahm einen Sack voll Brot und einen zweiten voll Zwiebeln und zog in die Welt hinaus. Unterwegs aber bekam er Hunger, setzte sich an den Wegrand und all ein Stück Brot und vier Zwiebeln. Da kamen zwei alte Männer herzugewandert, und einer von ihnen sprach zu ihm: «Mein Sohn, würdest du uns ein wenig von deinem Essen geben?» — «Jawohl, sogleich, kommt nur herbei und nehmt mit dem wenigen vorlieb, was da ist.» Also setzten sie sich hin und aßen miteinander. Die beiden Alten waren aber niemand anders als Sankt Paulus und der liebe Gott. Nachdem sie mit Essen fertig waren, nahmen sie Abschied und wanderten ein Stück weit auf der Straße dahin. Da sprach der liebe Gott zu Sankt Paulus: «Geh zu dem wackern Jüngling zurück und sage ihm, daß ich der liebe Gott sei, und ihm zum Dank für seine Herzensgüte und Mildtätigkeit zwei Wünsche erfüllen wolle: aber ich rate ihm, vor allem solche zu äußern, die ihm helfen können, seine Seele zu retten.»

Sankt Paulus begab sich sogleich zum Jüngling und richtete die Botschaft aus. Hans dachte ein wenig darüber nach, was er sich wünschen solle und sagte dann: «Ich wünsche mir, daß alles, was ich will, in meinen Sack hineingehen muß und nicht wieder heraus kann, bis ich es sage.»



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»Gut so! Und wie lautet der zweite Wunsch?»

Hans dachte wiederum darüber nach und erwiderte hierauf: «Ich habe daheim einen Feigenbaum in meinem Garten nahe beim Haus, und ich wünschte, daß alle, die hinaufsteigen, um heimlich davon zu pflücken, solange droben bleiben müssen, bis ich ihnen ein Zeichen gebe, wieder herunter zu steigen.»

«Aber warum bittest du nicht um die Gnade, geradenwegs ins Paradies eingehen zu dürfen?» fragte Paulus. «Das will ich mir ganz allein verdienen, ohne jemand darum zu bitten.» «Nun also, wenn es dir so gefällt, tu, was du willst!»

Sie sagten sich Lebewohl, und ein jeder zog auf seiner Straße weiter. Hans wanderte und wanderte viele Tage. Da kam er in eine Stadt, wo er viele Leute auf dem Marktplatz sah, die geschäftig und aufgeregt eine wichtige Sache besprachen. Er fragte, was da los sei, und sie gaben ihm zur Antwort: es hause ein Teufel mit zwei kleinen Teufelchen in jenem Rathaus, und wenn jemand am Morgen in den Palast gehe, so sei er, bevor die Sonne untergehe, tot, und die Leute kämen in Prozession, um ihn mit dem Kruzifix abzuholen und ihn auf den Friedhof zu bringen.

Hans meinte: «Nun gut, so will ich hineingehen.»

«Nein, Gott bewahre», rieten ihm die Leute ab, «geht nicht hinein, sonst seid ihr bis morgen nicht mehr am Leben!» Aber Hans ließ sich nicht abhalten und begab sich zum Rathaus. Unterwegs verschaffte er sich in einem Laden ein wenig Brot, Reis und Wein, sowie ein Kartenspiel, und dann trat er mit seinem Sack auf den Schultern in den Palast hinein. Es war bereits Abend. Um Mitternacht sollte der hinkende Teufel erscheinen. Um halb zwölf hängte Hans die



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Bratpfanne an die Kette über das Kaminfeuer und fing an. seinen Risotto zuzubereiten. Schon war er mit dem Reisgericht beinahe fertig, als er eine fürchterliche Stimme vom Kamin herab erschallen hörte, welche rief: «Ich werf hinab, ich werf hinab!» «So wirf doch herab, was du willst», gab Hans zur Antwort, «nur rühr mir meine Pfanne nicht an!» Und siehe, da warf der Teufel ein Teufelchen durchs Kamin hinab, dann noch eines, und endlich kam er selbst herabgesaust. Dann blieben alle drei Teufel verwundert und gekränkt stehen und keiner redete ein Wort. Hans richtete seinen Risotto an und setzte sich hin, um zu essen. «Nun», sprach er zu den drei Teufeln, «was steht ihr dort? Wollt ihr ein wenig mithalten? So kommt herbei und esset auch davon!» Aber sie blieben stumm. Als er seine Schüssel ausgegessen hatte, rief er ihnen zu: «Wohlan, herbei, setzt euch zu mir, wir wollen ein Kartenspiel miteinander machen, aber unter einer Bedingung: wer gewinnt, muß im Palast bleiben und wer verliert, muß hinausgehen und darf nie wieder in dieses Haus hinein.» Sie machten also ein Spiel; Hans gewann die Partie; aber der Teufel wollte das Haus nicht verlassen. Da rief Hans: «Im Namen Gottes müßt ihr alle in meinen Sack!» Und da blieb dem Teufel samt seinen zwei Gesellen nichts anderes übrig, als in den Sack zu kriechen. Flugs band ihn Hans zu, gab dem Sack einen Fußtritt und schob ihn so vor sich hin zum Rathaus hinaus. Da schrie der Teufel: «Laß mich los, laß mich los, Hans, mach doch den Sack auf!» Aber er: «Stirb, du Unhold!» Die Stimme erscholl jedoch neuerdings aus dem Sack: «So laß mich doch los, um des Teufels willen!» Hans erwiderte: «Wenn du mir zeigen willst, wo der Schatz begraben liegt, und



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du mir ein mit deinem eigenen Blut geschriebenes Schriftstück gibst, daß du nie mehr in diesen Palast zurückkehrst, dann will ich dich befreien.» Der Teufel war jedoch damit nicht einverstanden. Als Hans die Treppe hinuntergehen wollte, sah er von unten herauf eine Prozession von Leuten emporsteigen. Sie trugen eine Totenbahre und waren gekommen, um ihn zu Grabe zu geleiten. Da schrie er ihnen entgegen: (Aber was bringt ihr da? Seid ihr verrückt geworden, ihr da?» Die Leute ließen vor Entsetzen Kruzifix und Totenbahre fallen und rannten Hals über Kopf davon. Hans dachte bei sich: «Aber was sind das für merkwürdige Menschen? Die wollen mich begraben bei lebendigem Leib!»

Dann ging er zu einem Schmied und bestellte bei ihm einen so dicken Eisenpfahl, daß es zwanzig Männer brauchte, um ihn zu tragen. Noch ehe es Abend wurde, kamen die zwanzig Männer mit dem Eisenpfahl und fingen an, auf den Sack loszuschlagen. Die Teufelchen waren nach wenigen Schlägen tot, aber der alte Teufel hatte eine zähe Haut. Er schrie in einem fort, man solle ihn laufen lassen. Aber Hans entgegnete: (Wohlan, so zeig mir vorerst, wo der Schatz verborgen liegt», worauf der Teufel erwiderte: So öffne den Sack, nimm eine Hacke und folge mir.» jetzt machte Hans den Sack auf und ließ den Unhold heraus. Dieser führte ihn in der Nähe zu einem Baum und sprach zu ihm: (Da grab die Erde auf, an dieser Stelle hier!» Aber Hans erwiderte: «Grab du nur selbst.» Da mußte der Teufel den Rücken krümmen und graben. Und wirklich stieß er auf etwas Hartes und zog einen Siedkessel voller Goldstücke heraus. Dann gab er ihm einen Schein, mit dem eigenen Blut



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geschrieben, worin er versprach, nie mehr in jenen Palast zurückzukehren. Hierauf verschwand er. Hans brachte den gefundenen Goldschatz ins Rathaus, übergab ihn der Behörde, ließ sich reichlich bezahlen und kehrte nach seinem Vaterhaus in die Heimat zurück.

Dort nahm er eine Frau und erhielt später ein Söhnlein. Bei der Taufe wollte er den gerechtesten Mann, den es auf der Welt gebe, zum Paten nehmen. Und er machte sich auf die Reise, um ihn zu suchen. Wieder begegnete er auf seiner Wanderung jenen zwei alten Männern, die ihn fragten: «Wo gehst du hin?» Und er: «Ich gehe aus, den gerechtesten Mann der Welt zu suchen, um ihn für die Taufe meines Söhnchens zum Gevatter zu bitten.» Da fragte Sankt Paulus: «Und wäre ich dir nicht gut genug dazu?» — «O nein!» — «Und ich?» fragte der liebe Gott. «Nicht einmal du!» — «Ei warum denn?» «Damals, als du die Welt erschaffen hast, hast du Reiche und Arme, Gesunde und Kranke durcheinander gemengt. Statt dessen sollten doch alle Menschen gleich sein. Also nicht einmal du, mein Herr und Gott, bist gerecht gewesen. Und du, Paulus, nimmst seine Partei an und hältst zu ihm.»

Und mit diesen Worten trennten sich die Wanderer und zogen jeder seine Straße. Eine Strecke weiter begegnete Hans einem Skelett, das eine Sichel in der Hand trug. Wer mochte das sein? Es war der Tod, der ihn fragte: «Wohin gehst du?» — «Ich bin auf der Suche nach dem gerechtesten Manne auf dieser Welt, damit ich ihn zum Paten meines Sohnes mache.» Und der Tod entgegnete: «Bin ich dir nicht gut genug? Schau doch, wie gerecht ich bin. Ich trete zu jeder Stunde in alle Häuser ein. Ich erlöse alle gleichermaßen von jedem Uebel, und ich schaue niemandem ins



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Gesicht, er sei reich oder arm.» — «Du hast recht», versetzte Hans, «du bist der einzig Gerechte in dieser Welt.» Und sogleich nahm er sein Anerbieten an. Die Taufe wurde gefeiert, und der Tod amtete als Gevatter. Nach sieben Jahren jedoch starb das Kind, und die Mutter folgte ihm bald darauf im Tode nach.

Hans selber war mit den Jahren auch alt geworden, und eines schönen Tages kam der Tod und wollte auch ihn mitnehmen. «Ach, Gevatter», sagte er zu ihm, «du hast mir einen schlechten Dienst erwiesen. Du hast mir mein Kind und meine Frau weggenommen, und nun bin ich ganz allein übrig geblieben!» — «Ich hab es dir ja gesagt», beruhigte ihn der Tod, «daß ich niemanden verschone.» — «Nun gut, so schau doch. Jetzt habe ich soeben eine Menge Birnbäume, Feigen- und Kastanienbäume angepflanzt, und ich möchte diese so gerne groß werden sehen und ihre Früchte dereinst genießen. Laß mich noch hundert Jahre leben!»

»Du verlangst wirklich etwas Ungerechtes von mir, der ich gerecht bin! Aber um dir ein Geschenk zu machen, darfst du noch hundert Jahre hier auf der Erde bleiben.»

«Gut so», erwiderte Hans vergnügt. Hundert Jahre später klopfte der Tod wiederum an seine Tür. Hans gab zur Antwort: «Wohlan denn, höre, was ich dir für einen Vorschlag mache. Bevor ich mit dir komme, wollen wir einmal Karten spielen. Gewinne ich, so mußt du mich noch weitere hundert Jahre leben lassen. Verliere ich, so ist's um mich geschehen.» Der Tod war einverstanden, und sie fingen an zu spielen. Hans gewann, und der Tod mußte unverrichteter Dinge abziehen.

Hundert Jahre darnach stand der Tod neuerdings an



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der Tür. «Kommst du jetzt oder nicht?» fragte er Hans. «Nun gut, schau doch, während ich in die Kammer gehe, um die Zoccoli abzuziehen und die Schuhe anzulegen, steigst du auf jenen Feigenbaum dort und issest dich satt nach Herzenslust.»

Der Tod stieg hinauf und aß, bis er genug hatte. Aber als er satt war, konnte er nicht mehr hinunter und rief Hans um Hilfe. Dieser kam herbei und erklärte: «Ich will dir herabhelfen, aber nur unter der Bedingung, daß du mich noch weitere hundert Jahre leben lässest.» — «So leb doch so lange du willst, doch paß wohl auf, am Ende bist du es, der kommen wird, mich zu rufen, ich solle dich holen.» Also stieg der Tod vom Baum und machte sich davon. Schließlich aber wurde Hans des Lebens müde, und die Leute sagten oftmals: «Stirbt denn dieser Alte nie?» Seine Feigenbäume und Birnbäume waren in dieser langen Zeit groß geworden. Sie hatten längst Früchte getragen, und einige waren bereits zu Brennholz zersägt worden. Da rief Hans den Tod herbei. Dieser kam sogleich, nahm ihn bei der Hand, und so gingen sie zusammen in die andere Welt.

Hans dachte, es wäre das beste, zuerst in die Hölle hinabzusteigen. Auf der Türschwelle fand er aber den hinkenden Teufel, der, sobald er ihn sah, ausrief: «Fort da mit diesem abscheulichen Kerl, der uns das ganze Haus zu unterst und zu oberst kehrt. Weg von hier mit euch, der ihr uns alle Teufelchen umbringt!» Und er jagte ihn von der Hölle fort.

Jetzt stieg Hans empor zum Paradies: «Tock, tock!» «Wer ist da?» fragte Sankt Petrus. «Ich bin es, der Hans. Ich wollte meinem Freund Paulus einige Worte sagen; bitte, tu mir den Gefallen und rufe ihn herbei!»



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Sankt Petrus fing an zu rufen: «Paulus, Paulus!» Und während er so rief und in die Ferne schaute, warf Hans seinen Sack zur Pforte des Paradieses hinein und sagte: «Auf Befehl Gottes springe ich in meinen Sack hinein.» Und damit schlüpfte er flink ins Paradies und versteckte sich im Sack.

Als Sankt Paulus herbeikam und ihn darin entdeckte, sagte er: «Wir können ihn nicht von hier vertreiben, Petrus, denn jener Sack dort ist sein eigen.» Und so blieb Hans fortan im Paradies.


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