Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE GESCHICHTE DES DREIZEHNTEN SOHNES

Es war einst ein Vater, der besaß dreizehn Söhne. Er war arm und hatte daher die größte Mühe, sie alle zu ernähren. Den jüngsten, namens Tredicino, hätte er sogar nicht ungern verlieren mögen. Deshalb rief er ihn zu sich und sprach zu ihm: «Tredicino, wärest du imstande, zum Zauberer zu gehen und ihm die Reliquien zu rauben, womit man Sturm und Unwetter zum Aufhören bringen kann?» Tredicino gab zur Antwort: «Ja freilich kann ich das.»

Er nahm einen Sack. füllte ihn mit Steinen und machte sich auf den Weg zu dem Hause des Magiers. Endlich langte er bei dunkler Nacht dort an. Der Zauberer und seine Frau waren schon zu Bett gegangen. Da stieg Tredicino auf das Dach und fing an, Steine darüber hinunterrollen zu lassen. Es war stockfinster, ein Gewitter zog heran und es donnerte. Da meinte die Zauberin, es hagle und stellte eiligst die Reliquien vor das Haus, um das Unwetter zum Stillschweigen zu bringen. Jetzt kletterte Tredicino vom Dach herunter, nahm schnell die Reliquien und trug sie fort nach Hause.

Der Vater glaubte schon, sein Sohn sei umgekommen. Als er ihn aber mit den Reliquien zurückkehren sah, war er ziemlich mißvergnügt und konnte sich damit nicht zufrieden geben. Er rief ihn zu sich und sagte: «Tredicino, bist du imstande, dem Magier die



Tessiner Sagen-187 Flip arpa

Bettdecke zu stehlen, obgleich, wie du weißt, daß Glöcklein daran hängen?» Tredicino dachte ein wenig nach und sagte dann: Vater, gib mir einen Sack voll Baumwolle, damit ich die Glöcklein der Decke einwickeln kann.» Der Vater verschaffte ihm die gewünschte Baumwolle. Dann nahm der Sohn den Sack auf den Rücken und ging fort.

Es war schon dunkle Nacht, als er beim Hause des Magiers anlangte. Dieser schlief bei offenem Fenster. Tredicino kletterte leise aufs Fenstergesimse, trat in das Schlafzimmer, versteckte sich unter dem Bett und fing an, ein Glöcklein nach dem andern mit Baumwolle einzuwickeln. Dann begann er plötzlich an der Decke zu zupfen. Der Magier meinte, es seine Frau und rief ihr zu: «Heda, laß doch meine Decke in Ruhe!» Und sie: «Ich rühre sie ja gar nicht an!» Tredicino wartete ein Weilchen. Dann fing er wieder an zu zerren. Zornig schoß jetzt der Zauberer in die Höhe und wollte seine Frau schlagen; aber sie lag schnarchend neben ihm. Nach einer Weile begann Tredicino noch stärker zu zupfen. Da sprach der Magier zu seiner Frau: «So nimm doch die Decke ganz, wenn du sie willst», und ließ sie los. Die Decke fiel auf den Boden. Flink hob Tredicino sie auf, schlich damit, so still er konnte, zum Fenster hinaus und brachte sie seinem Vater nach Hause.

Als dieser sah, wie sein Sohn wirklich mit der Bettdecke des Zauberers dahergelaufen kam, blieb er zunächst vor Erstaunen wie versteinert und wußte nicht was sagen. Eine Weile später fragte er ihn: «Tredicino, bist du wohl auch imstande, dem Zauberer den Papagei zu stehlen?» «O ja, das wird mir nicht schwer fallen», versetzte der Sohn bereitwillig. Er ließ sich ein



Tessiner Sagen-188 Flip arpa

Säcklein voll Bonbons und verzuckerter Früchte geben und machte sich damit auf nach der Wohnung des Zauberers. Dort trat er in die Schlafkammer, hielt dem Papagei die Zuckersachen hin und streckte dann die Hand aus, um ihn zu fassen. Der Vogel aber schrie sogleich: »Mein Herr und Meister, Tredicino will mich nehmen!» Schnell versteckte sich der Knabe hinter dem Vorhang. Der Magier kam sogleich dahergelaufen, sah aber niemand im Zimmer und glaubte, der Papagei halte ihn wie schon öfters zum Narren. Eine Weile darauf nahm Tredicino den Papagei und brachte ihn nach Hause.

«Ach, du Tausendskerl von einem Dieb!», sprach der Vater zu ihm, als er ihn wieder daherkommen sah, «ist es möglich, daß der Zauberer dich gar nicht behalten will?» Er nahm den Papagei in Empfang und fügte dann hinzu: «Jetzt mußt du hingehen und mir den Zauberer selbst samt seiner Frau herbringen!»

Tredicino dachte ein wenig darüber nach, wie er dies anstellen könnte. Dann verschaffte er sich eine Perücke und einen falschen Bart, verkleidete sich bis zur Unkenntlichkeit, ließ einen großen Sarg machen, trug diesen auf seinen Schultern unter das Fenster des Magiers und fing daselbst an zu rufen: «Wer will diesen Totenschrein kaufen?» Die Zauberin lehnte sich zum Fenster hinaus, um nachzuschauen, und sagte dann zu ihrem Mann: «Wir könnten doch den Sarg kaufen, dann ist er, im Falle wir sterben, schon fix und fertig bereit.» Der Zauberer rief Tredicino zu sich und sprach zu ihm: «Ich würde diesen Sarg wohl kaufen, nur möchte ich ihn vorher noch probieren, ob er groß genug ist für mich.» «Oh, er dürfte gerade passen in der Größe», gab Tredicino zur Antwort. Da legte



Tessiner Sagen-189 Flip arpa

sich der Zauberer seiner ganzen Länge nach hinein, und der Sarg paßte ausgezeichnet in der Größe. Darauf stieg die Zauberin ebenfalls hinein, und auch sie hatte neben ihrem Manne ganz bequem Platz.

Nun wollte Tredicino probieren, ob der Deckel immer noch passe, und sobald er ihn richtig hingelegt hatte, setzte er sich oben drauf, nagelte den Totenschrein zu, und die beiden Ungeheuer waren schön in die Falle gegangen. Hernach lud er den Sarg auf seinen Rücken und brachte ihn zum König, welcher demjenigen eine große Belohnung versprochen hatte, der ihm die Bösewichter tot oder lebendig überbrachte.

Der König schenkte ihm auch in der Tat einen Sack Gold, und Tredecino brachte den Reichtum seinem Vater nach Hause. Jetzt umarmte ihn dieser voller Freude und sah wohl ein, daß Tredicino, obwohl der jüngste und kleinste, soviel wert war wie alle andern zwölf Söhne zusammen und noch einen Soldo dazu.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt