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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER VERZAUBERTE KRUG

Lucio war ein Berghirt von etwa fünfundzwanzig Jahren, immer fröhlicher Dinge und bescheiden. Er lebte mit seiner Mutter in einem kleinen Bauernhaus am Abhang des Gebirges. Jeden Morgen führte er seine «Blonde», eine prächtige Kuh, und etwa ein Dutzend Ziegen und Schafe auf die Weide.

Eines Tages fand er halb im Gras versteckt eine altrömische Amphora oder einen Weinkrug. Er nahm ihn in seine rauhen Hände, schaute ihn von allen. Seiten genau an, reinigte ihn von der Erde und sprach dann zu sich selber: «Was soll ich mit diesem Ding anfangen? Wenn es wenigstens ein Kochtopf wäre, so könnte ihn meine Mutter brauchen, um mir am Abend eine gute Reissuppe mit großen weißen Bohnen zu kochen.» Mit diesen Worten warf er den Weinkrug verächtlich weg. «Wäre er wenigstens voll guten Weines gewesen!» rief er aus und gab dem Krug noch einen letzten Blick. Der lag unbeschädigt im Gras und - welch ein Wunder! — aus der Oeffnung des Gefäßes ergoß sich eine rote Flüssigkeit, die das Gras und den Boden benetzte. Lucio lief hin, um genauer zu sehen. Es war Wein. Er nahm aufs neue den Krug, führte ihn an seine Lippen und versuchte. Es war wirklich Wein, und zwar von der besten Sorte. Gierig trank er davon in großen Zügen. In seinem Leben hatte er noch nie so ausgezeichneten Wein getrunken. «Wie konnte ich so dumm sein!» brummte er vor sich



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hin, «der Krug war ja voll Wein, und ich habe es nicht einmal bemerkt.»

Als die Sonne untergegangen war, kehrte er mit der Herde zu seiner Hütte zurück und brachte der Mutter den Krug mit dem Wein, soviel davon noch übriggeblieben war. Dann erzählte er ihr den Vorfall. Die Alte kostete erstaunt den guten Wein und füllte dann die Feldflasche ihres Sohnes Lucio, damit er auch etwas zu trinken habe am nächsten Tag, wenn er auf den Bergen oben wieder das Vieh hüte. Hierauf stellte sie den Krug, der noch gut bis zu einem Drittel mit dem süßen Trank gefüllt war, auf den Tisch und brachte dann als Abendessen eine gute Suppe und einen ganz zarten Salat herbei.

«Mutter!» rief plötzlich Lucio ihr zu, «habt ihr kein Oel in den Salat getan?» — «Freilich, mein Lieber, aber es war fast keines mehr da.»

«Ja», seufzte der Sohn, «dies Jahr hat das verflixte Hagelwetter uns alle Nüsse von den Bäumen geschlagen. Kein Wunder, wenn jetzt das Nußöl spärlich ist und sehr teuer. Statt einen Krug voll Wein hätte ich wohl besser getan, einen solchen mit Oel gefüllt zu finden.» Dann allen Mutter und Sohn fröhlich miteinander zu Nacht. Hernach hielt die Frau den Weinkrug an den Mund. um einen Schluck zu trinken. Aber es hätte wenig gefehlt, so hätte sie ihn auf den Küchenboden fallen lassen vor Bestürzung, denn der Krug enthielt keinen Wein mehr, sondern war statt dessen mit feinstem Oel gefüllt. «Aber, das ist doch unmöglich», rief sie aus, «der Krug ist ja verhext!»

Lucio wollte sich auch vergewissern. Er goß das Oel in einen andern Krug und sprach hierauf:



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Krüglein, liebes Krüglein mein,
Füll dich wiederum mit Weint
Und augenblicklich ging der Zauberspruch in Erfüllung.

Jetzt waren Mutter und Sohn glücklich. Sie hatten nun 0el und Wein so viel sie wünschten. Aber Lucio wollte, als er wieder einmal mit seiner Kuh, den Ziegen und Schafen am Abend heimkehrte, ein anderes Wunder probieren. Er trat auf den Krug zu und sprach zu ihm:

Krüglein, liebes Krüglein mein,
Füll dich jetzt mit Goldstücklein!

Und wahrhaftig, das Außerordentliche geschah. Lucio und seine Mutter standen mit weit aufgesperrten Augen da und betrachteten die glänzenden Geldstücke. Lucio leerte den Krug auf den Tisch aus. Hei, wie das klingelte! Und wie viele, viele Goldstücke lagen da! Er füllte damit einen kleinen Sack, der bisher als Salzsack für das Vieh auf der Weide gedient hatte. Darauf stiegen Mutter und Sohn in den Keller hinunter, wo es von gutgelagertem Käse roch und vergruben den Schatz tief in der Erde. Aber sie begruben mitsamt dem Geld auch ihre Fröhlichkeit. In jener Nacht floh der Schlaf aus der sonst ruhigen Hütte, und an seiner Stelle kamen Sorge, Verdacht und Angst zur Tür herein. Mutter und Sohn konnten nicht schlafen, sondern schauten ängstlich umher und spitzten die Ohren. Wenn der Wind draußen pfiff, oder wenn eine Katze über die großen Steine auf dem Dach hüpfte, so glaubten sie, es kämen Diebe, um ihnen den Schatz fortzutragen.

Schon stand die Sonne hoch am Himmel, die Kuh



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brüllte, die Geiflen meckerten, und die Schafe blökten kläglich im Stall drüben; aber Lucio mochte nicht aufstehen. Wozu auch? Konnte die Mutter so ganz allein tagsüber im Hause bleiben und das Gold bewachen? Er hatte keine Ruhe mehr. Was sollte er tun? Seufzend schaute die Mutter ihren Sohn an. Sie begriff und erfaßte jetzt ganz, welch großes Unglück mit jenem unerwarteten Geld in die Hütte eingezogen war. Sie stand auf, stieg mäuschenstill in den Keller hinunter, grub das Geld wieder aus, tat es in den Krug und sprach:

Krüglein, liebes Krüglein mein,
Füll dich wiederum mit Wein!
Da verschwand das Gold, und der Krug war bis zum
Rand voll süßen Weines. Wieder füllte sie wie jeden
Morgen die Feldflasche ihres Sohnes, schnitt einen
Laib Roggenbrot in zwei Teile, legte einen hübschen
Ziegenkäse dazu und wickelte es in ein Papier ein.
Dann ging sie in die Kammer hinüber und sprach liebreich
zu ihrem Sohn: «Steh auf, lieber Lucio, steh auf!
Es ist schon spät; die Blonde, die Ziegen und die
Schafe sollten schon längst auf der Weide sein. Geh
mit ihnen zufrieden und glücklich wie früher!» Und
das Gold und der Krug?» fragte der Sohn. «Es war
nur ein Traum», beruhigte ihn die Mutter. Jetzt begriff
er alles. Er küßte seine Mutter zum Abschied
und ging in den Stall. Der Tag war selten schön und
der Himmel tief blau. Die Blonde, die Schafe und die
Geiflen waren froh, die zarten und blühenden Kräuter
zu fressen. Und Lucio war es wieder wohl im Herzen.
Er fing an, ein frohes Lied zu singen, da er erkannt
hatte, daß Gold und Reichtum allein ihn nicht glücklich
machen konnten.


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