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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


VOM MÄDCHEN. DAS SICH NICHT KÄMMEN LASSEN WOLLTE

Katharine war ein Mädchen, das sich nie gern den Kopf vom Ungeziefer reinigen lassen wollte. Deshalb sprach seine Mutter zu ihm: Gib acht, die Läuse werden miteinander eine Kette bilden, womit sie dich in einen Abgrund ziehen, und dann kommt der Zauberer und wird dich davontragen.»

Aber das Kind wollte nicht auf der Mutter Worte hören. Eines Morgens, als es noch im Bett lag, und niemand sonst zu Hause war, hörte es eine Stimme rufen: «Katharine, ich bin schon auf der ersten Treppenstufe.» Da schrie das Mädchen: «Mutter, Mutter, komm herauf, komm herauf!» Die Stimme aber rief wieder: «Jetzt bin ich auf dem zweiten, jetzt auf dem



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dritten Tritt.» Und schließlich hörte es die Worte: «Katharine, ich bin hier am Fuße des Bettes, Katharine, ich bin hier mit meinem Sack.»

Wer mochte das nur sein, der so rief? Das war der Zauberer. Er nahm das Mädchen. steckte es in den Sack, lud ihn auf seine Schultern und rannte davon wie der Wind.

Als die Mutter zurückkehrte und ihr Kind nicht fand, fing sie an zu schreien: «Katharine, Katharine!» Aber sie konnte rufen, so laut sie wollte, das Mädchen gab keine Antwort. Sie suchte es im ganzen Hause, fand es aber nicht, weder weiß noch schwarz noch in roten Stücken. Sie ließ vor Verzweiflung alles stehen, lief hinaus aufs Feld und in den Wald, über Berge und Täler.

Unterwegs begegnete sie einem Holzhauer und fragte ihn: «Habt ihr nicht jemand hier vorübergehen sehen?» Und der Holzhauer erwiderte: «Jawohl, einen häßlichen Mann habe ich gesehen mit einem Sack auf dem Rücken und daraus hörte ich ein Kind laut weinen.» Da raufte sich die Mutter die Haare und rief: «Ach, ich arme Frau, mein Kind, mein Kind!» und fort rannte sie, daß man vor Schnelligkeit nicht einmal mehr ihre Füße sah.

Sie fand noch andere Leute am Wege und richtete an alle die gleiche Frage. Einige versicherten, sie hätten den Mann gesehen; andere dagegen erklärten, sie hätten niemand bemerkt. Endlich, endlich holte die trostlose Mutter den gräßlichen Mann ein. Sie sprang ihm auf den Rücken und klammerte sich mit beiden Händen an ihm fest. «Du abscheulicher Kerl! Auf der Stelle legst du den Sack nieder und lässest mein Kind heraus!»



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Jetzt erkannte das kleine Mädchen die Stimme seiner Mutter und rief aus dem Sack: «O Mutter, Mutter, komm zu Hilfe und nimm mich aus dem Sack. Ich will sie mir von jetzt an immer fangen lassen, weißt du, die Läuse!» Nach vielen Bitten ließ der Zauberer endlich das Mädchen heraus, sprach jedoch zu ihm: «Denk wohl daran, ich rate dir gut, daß du von jetzt an deiner Mutter immer schön gehorchst!»


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