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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE NICHTSTUERIN

Ein altes Mütterlein hatte eine schöne Tochter. Weil aber die Mutter mit ihren müden Gliedern nicht mehr am Spinnrocken sitzen und den Faden drehen konnte, hieß sie ihre Tochter es tun. Diese aber war zu ihrem großen Kummer zu faul und zu träge zur Arbeit, und sie brachte sie nicht dazu, einen Faden anzurühren. Eines Tages sollte das Mädchen wieder am Spinnrad sitzen, tat es aber nicht. Da geriet die Mutter in die größte Wut, nahm einen Stock, prügelte ihre Tochter und jagte sie zum Hause hinaus, indem sie noch ein Stück weiter hinter ihr drein lief und schrie: «Ich will sie nicht mehr in meinem Hause, ich will sie nicht mehr!»

Eben in diesem Augenblick kam ein junger Mann des Weges gegangen, sah diesen Auftritt, hatte Mitleid mit dem Mädchen und sagte zu der alten Frau: «Was macht ihr mit diesem armen Geschöpf? Schämt ihr euch nicht, sie so zu behandeln?» Die Alte erwiderte darauf schlagfertig, aber mit lügnerischen Worten: «Ach, sie hat einen argen Setzkopf, sie will nichts als den ganzen Tag am Spinnrocken sitzen, und jetzt hab ich keinen Hanf mehr. Darum will ich sie nicht mehr, sie soll selber schauen, wer ihr den Hanf und Flachs geben will!» — «Und aus diesem Grunde schlagt ihr sie auf solche Art? Wo habt ihr denn euren Verstand? Geht mir dieses Mädchen zur Frau, alsdann soll sie von mir Hanf bekommen, soviel sie nur will.»



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Die Mutter, froh darüber, diese Faulenzerin auf solche Weise loszuwerden, willigte sogleich ein. Nach kurzer Zeit führte der junge Mann das Mädchen zum Altar, und sie hielten Hochzeit. Dann brachte er die junge Frau in sein Haus, und als die Festlichkeiten vorüber waren, kaufte er ihr eine große Menge Hanf, damit sie nach Herzenslust das Spinnrad drehen konnte. Darob geriet die Frau ordentlich in Verlegenheit und Betrübnis, denn sie konnte und wollte nicht spinnen. Was sollte sie mit dem vielen Hanf nur anfangen?

Nach einiger Zeit sagte der Jungvermählte zu seiner Frau: «Morgen geh ich fort in die Welt hinaus, um zu verdienen, und bis ich in einem Jahre und einem Tag wieder komme, muß dieser Hanf zu lauter Faden gesponnen sein.» — «Ja freilich», gab die Frau zur Antwort, «ganz recht, sei nur unbesorgt, bis übers Jahr will ich dir alles getreulich verarbeiten.» Also nahm der Mann Abschied und zog in die Welt hinaus.

Sechs Monate vergingen seit seiner Abreise und die junge Frau hatte noch kein einziges Mal den Spinnrocken in die Hand genommen. Bald waren auch sieben, acht, neun, zehn Monate verflossen, ohne daß die Faule nur eine einzige Spindel voll Faden gedreht hatte. Immer mehr plagte sie jetzt das Gewissen, je näher der Tag heranrückte, wo ihr Mann zurückkehren sollte; immer mehr geriet sie in Aufregung und Bekümmernis. Und wenn sie auch jetzt hätte spinnen wollen, so hätte ihr tatsächlich die Zeit gefehlt, noch rechtzeitig mit der großen Arbeit fertig zu werden und ihr Versprechen zu halten.

Eines Morgens kam ein Brief, worin ihr mitgeteilt wurde, daß ihr Mann in den nächsten Tagen heimkehren werde. Jetzt geriet sie in Bestürzung und zermarterte



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ihr Gehirn, wie sie es anstellen sollte, eine Ausrede oder ein Märchen zu erfinden, um ihrem Mann etwas vorzutäuschen. Eines Abends hörte sie auf der Gasse draußen eine Stimme schreien. Es war nicht die gewohnte des Lumpensammlers, sondern eine rauhe, derbe Stimme, welche rief:

Houa, houa, houa,
Der Spinnermann ist da!
Habt ihr den Krampf,
Bringt mir den Hanf,
Kommt schnell herbei,
Sonst ist das Glück vorbei.
Holla, holla, holla,
Der Spinnermann ist da!
Die Faule schaute zum Fenster hinaus und rief den
Mann in die Küche herauf. Der schmutzige Fremdling
stieg sogleich die Treppe hinauf. Sie zeigte ihm die
große Menge Hanf und sagte: «Da, dieser Haufen
sollte gesponnen werden, aber ich muß ihn bis Samstag
abend fix und fertig haben.» — «Ei, ich kann euch
den Faden noch vor dem Samstag fertig gesponnen
bringen», erwiderte der Unbekannte. — «Und was verlangt
ihr für diese Arbeit?» fragte sie weiter. «Ich will
gar nichts dafür. Ihr müßt mir nur, wenn ich den Faden
zurückbringe, drei Namen nennen, und wenn unter
diesen drei Namen nicht der meinige ist, so trage
ich euch samt dem Faden von dannen.»

Nach diesen Worten nahm der Spinner die fünf Säcke Hanf nacheinander auf den Rücken, lud sie auf einen Karren und ging fort. Jetzt war die junge Frau in noch größerer Verlegenheit als zuvor, und es reute sie, daß sie einen solchen Ausweg gesucht hatte. Wie konnte sie denn nur den Namen jenes fremden



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Mannes erraten, den sie noch nie vorher gesehen hatte? Und wohin drohte er, sie wegzuführen, wenn sie seinen Namen nicht wisse? Und was würde dann wohl ihr Mann dazu sagen, wenn er sie nach seiner Rückkehr aus der Fremde nirgends fände? Ach Gott, warum hatte sie ihrer Mutter nicht besser gefolgt und (las Spinnen nicht eifriger gelernt!

Am Abend nachher war kein Oel mehr im Hause. Sie nahm also einen Sack voll Baumnüsse und brachte sie in die Oelmühle, wo die Nüsse ausgepreßt wurden, um daraus das Oel zu gewinnen. Diese Oelpresse lag zuhinterst im Tal an einem Wildbach und wurde vom Wasser getrieben.

Als sie hinkam, war es bereits dunkle Nacht geworden. Da sah sie von ferne eine große Helligkeit. Es war ein stark loderndes Feuer, welches ringsum eine große Hitze verbreitete. Vor dem Feuer stand ein Mann, der sang und tanzte, und rings um die Flammen saß eine Schar Frauen, die spannen. Der Mann sang bei seinem Tanz die Worte:

Houa, holla, houa.
Der Spinnermann ist da!
Daß Beelzebub ich werd genannt,
Ist jener Frau noch unbekannt,
Und morgen bring ich sie hierher;
Nach Hause kehrt sie nimmermehr!

Sowie die Faule das hörte, atmete sie auf und war froh darüber. «Jetzt weiß ich doch, wie er heißt, und bin zufrieden, daß ich mich nicht mehr zu fürchten brauche.»

Am folgenden Samstag kehrte der geheimnisvolle Spinner wirklich wie versprochen zurück und hatte



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wahrhaftig all den vielen Hanf schon gesponnen. Er klopfte an die Tür und sagte: »Also, gute Frau, wißt ihr jetzt meinen Namen?» Und dabei freute er sich bereits im stillen, daß er die Wette gewinne.

Und sie antwortete: «Heißt ihr nicht Pietro?»

«Nein -jetzt ist eine Antwort vorbei.»

«Oder Paolo?»

«O nein -jetzt sind's zwei Antworten.,

«Dann heißt ihr gewiß Beelzebub!»

Als der Teufel diese Worte hörte, knirschte er vor Wut mit den Zähnen, warf die Fadenbündel zornig mitten in die Küche und machte sich mit lautem Gebrüll von dannen, um vermutlich wieder das Feuer zu schüren zuhinterst im Talgrunde.

Zwei Tage später sollte ihr Gemahl heimkommen. Da ging die Frau noch geschwind auf die Wiese, sammelte leere Schneckenhäuser und band sich dieselben auf den Rücken. Wie nun der Mann heimkehrte und seine Frau umarmte, hörte er, wie es krack, krack, krack machte, so daß er sie verwundert fragte: «Aber, was kracht denn so an deinem Rücken, daß es scheint, als hättest du alle Knochen zerbrochen?» Und schlau gab sie zur Antwort: «Das zu viele Spinnen, mein lieber Mann, ist daran schuld, das hat mir die Knochen zerbrochen, ach Gott, das zu viele Spinnen!» «Du liebe Frau», erwiderte der Gatte, mein Gott, wenn das so ist, nein, nein, ums Himmelswillen, dann darfst du mir nicht mehr spinnen. Ich will lieber eine ganze Frau und dabei zerrissene Leintücher, als gute Leintücher und eine Frau mit zerbrochenen Gliedern!»

Und wirklich brauchte sie von diesem Tage an nicht mehr ans Spinnrad zu sitzen, und sie lebten hernach glücklich bis an ihr Ende.


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