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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


EINE SONDERBARE WETTE

Antonio, Peter und Jakob teilten zusammen ihr väterliches Erbe. Jeder bekam fünftausend Franken. Da sprach Antonio: «Jetzt will ich in die Welt hinausziehen und sehen, wie ich mein Geld verdoppeln kann.» Und damit ging er fort.

Unterwegs traf er einen Bauern an und erzählte ihm seine Absicht. Der Bauer dachte einen Augenblick darüber nach und sprach hierauf: «Höre, mir kommt ein guter Gedanke in den Sinn: Du setzest fünftausend Franken, und ich setze ebenfalls fünftausend Franken auf die Wette. So haben wir zusammen zehntausend Franken. Der erste, der von uns beiden in Wut gerät, verliert seinen Teil und muß dem andern fünftausend Franken geben. Bleibe also hier in meinem Hause, um zu arbeiten. Geh hinab und hacke mir jenes Feld dort unten um; aber bevor es Nacht ist, mußt du mit deiner Arbeit fertig sein.»

Antonio nahm die Wette an. Er ging aufs Feld hinunter und begann aus allen Leibeskräften zu hacken, zu spaten und zu graben, so eifrig, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte. Aber die Nacht brach herein, bevor er fertig werden konnte. Todmüde wie ein armes Grautier hub er an zu fluchen: «Geh doch du selber hinunter und grabe deinen Acker um, du trauriger Kerl von einem Taugenichts! Ich bin doch keine Maschine, ich, ich habe bloß zwei Arme.» Kurzum, er war richtig in Wut geraten und hatte infolgedessen



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seine Wette verloren. Darauf kehrte er arm wie ein Bettler und tief niedergeschlagen nach Hause zurück, wo er seinen beiden Brüdern erzählte, wie es ihm ergangen war. Da sagte der eine, namens Peter: «So will ich zu jenem Wucherer hingehen und mir dein Geld zurückgeben lassen. Ich will ihm schon seine Schlechtigkeit heimzahlen.» Und damit ging er fort. Er fand auch wirklich die Wohnung jenes Bauern; aber von seinen schönen Worten überredet, ging er mit ihm die gleiche Wette ein. «Geh dort hin auf jene Wiese», sprach der Bauer zu ihm, «und mähe mir das Gras ab; aber ehe es Nacht wird, mußt du damit fertig sein.» Peter ging auf die Wiese. Er mähte und mähte; aber die Nacht brach herein und er hatte das viele Gras noch nicht einmal zur Hälfte geschnitten. Da geriet er darob in Wut. «Was glaubst du denn, du Lazaroni von einem Bauern, daß ich und mein Bruder zwei Lasttiere und dumme Ochsen seien? Wir haben doch auch Fleisch und Knochen wie du!»

Weil er sich aber in Wut hatte bringen lassen, verlor er seine fünftausend Franken ebenfalls, so daß er weinend nach Hause zurückkehrte und seinen Brüdern die Sache erzählte. Da sprach Jakob, der dritte Bruder: «Ihr seid wirklich zwei Dummköpfe! Jetzt will ich zu jenem Bauern gehen und mir alles Geld, wie auch das eurige, wieder zurückgeben lassen.» Und damit ging er fort. Bald fand er den Bauern und ging mit ihm dieselbe Wette ein. Jener befahl ihm: «Geh in meinen Weinberg, beschneide die Reben und binde sie an. Nachher lies die dürren Schosse zusammen und bring sie alle in den Holzschopf hinein; aber dies muß getan sein, bevor es Nacht wird.»

Jakob stieg in den Weinberg hinauf, schnitt statt der



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Schosse die ganzen Weinstöcke ab, verbrannte die Zweige und sammelte die Asche zusammen. Der Bauer aber ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen.

Am folgenden Tag schickte er ihn auf die Weide, um die Schweine zu hüten und sagte ihm, er solle ja keines fortlaufen lassen. Jakob hielt die Tiere bei den Schwänzen fest; aber plötzlich rissen die Schweine aus und ließen ihm die Schwänze in den Händen.

Noch immer ließ der Bauer keinerlei Zorn darüber merken. Jetzt legte sich Jakob aufs Ohr, ein Schläfchen zu tun. Er hatte dabei nur die Augen geschlossen, die Ohren hielt er jedoch offen. Da hörte er, wie der Bauer zu seiner Frau sagte: «Morgen schicke ich ihn auf den Kirchturm, die Glocken zu läuten. Du machst, daß du vor ihm droben bist, aber ganz weiß gekleidet wie ein Gespenst, um ihn zu erschrecken. Sobald er kommt, mußt du mit Geisterstimme rufen: «Sieben.» Die Frau war damit einverstanden.

Jakob stieg also am andern Tag auf den Kirchturm, die Glocken zu läuten. Er nahm jedoch eine Heugabel mit. Die Frau war richtig auch da, ganz in weiße Tücher gehüllt, und als sie ihn erscheinen sah, rief sie mit geisterhafter Stimme: «Sieben.» Jakob aber versetzte: «Acht.»

Da ergriff er das Gespenst und trug es auf der Heugabel zum Bauer hinunter, der noch im Bette war. Nun gerieten die Frau und der Bauer in Wut und begannen zu fluchen und zu schreien wie Lumpensammer. Jetzt war der Bauer auf das Eis gegangen und hatte die Wette verloren. So mußte er alles Geld; das er auf hinterlistige Weise gewonnen hatte, dem schlauen Jakob und seinen Brüdern zurückgeben.


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