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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


FUCHS UND WOLF IN DER ALPHÜTTE

Die Sonne war untergegangen, und die Dunkelheit brach über das Tal herein. Da ging der Wolf aus seiner Klause, um eine Beute zu erhaschen. Unterwegs begegnete er einem Fuchs, der mit der gleichen Absicht ebenfalls in Feld und Wald herumstreifte. Da sprach der Wolf zu ihm:

«Weißt du was? Komm, wir gehen in jene Milchhütte dort, wo eine ganze Reihe Milchkannen steht. Da könnten wir uns einmal ordentlich das Ränzlein füllen!»

Der Fuchs, der vor Hunger kaum mehr warten konnte, ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie entdeckten richtig ein Loch in der Mauer. Meister Reineke, als der schlauere, ging voraus, der Wolf, als der dümmere, hinten drein. Und wirklich gelang es ihnen, hineinzukriechen. Sie fanden da herrlich frische Milch und fingen an zu trinken. Der Fuchs kehrte jedoch von Zeit zu Zeit wieder zum Loch zurück, um zu probieren, ob er noch hindurchschlüpfen könne, während der Wolf als ein richtiger Vielfraß und Einfaltspinsel trank und trank, ohne an etwas zu denken.

Und so geschah es denn, daß der Fuchs mit knapper Not noch aus der Hütte schlüpfen konnte, während der Wolf, weil er sich den Bauch zu stark gefüllt hatte, trotz aller Anstrengungen nicht mehr herauskam. Also mußte er die Nacht über in der Hütte bleiben.



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Wie nun der Bauer am andern Morgen seine Milch in die Hütte bringen und die Kannen füllen wollte, gewahrte er den Wolf. Da nahm er einen Stock und prügelte ohne Erbarmen auf ihn los. Die Schläge fielen nicht anders als wie ein Donner- und Hagelwetter auf seinen Pelz, bis der arme Wolf schließlich mehr tot als lebendig entwischte.

Mittlerweile hatte der Fuchs am Waldrand einen prächtigen Baum voll Kornelkirschen entdeckt; viele davon lagen reif am Boden. Er wälzte sich in diesen herum, so daß sein Pelz ganz rot wurde. Als nun der Wolf winselnd und wehklagend vorüber schlich, rief der Fuchs ihn zu sich und sagte: «Ei, Gevatter Wolf, schau doch, wie sie mich übel zugerichtet haben. Siehst du, wie mir das Blut überall herausläuft? Ach Gott. so trag mich doch nur ein kleines Stück weit nach meinem Hause.» Jetzt überkam den leichtgläubigen Wolf das Mitleid, und so erbärmlich auch sein Fell von den Stockschlägen zerzaust war, nahm er den Fuchs dennoch auf seine Schultern und trug ihn heimwärts. Da sang der Fuchs das Liedchen:

Hop, hop, hop, nur immer langsam voran,
Denn der Kranke trägt den gesunden Mann!

«Was singst du da?» fragte der Wolf. «Ach, das ist ein uraltes Lied, das mich meine Eltern - Gott hab sie selig! — vor Zeiten einmal gelehrt haben.» Und so trug denn der Wolf seinen Begleiter bis in die Burg, aber fortan schlich er sich nie mehr in die Milchhütte.

Der Wolf war wirklich ein großer Dummkopf und ein Nimmersatt zu gleicher Zeit. Nach kurzem hatte er das neulich erlebte Abenteuer schon wieder vergessen. Eines Tages ging er abermals umher, um Beute



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zu suchen. Wieder traf er unterwegs mit seinem Gevatter, dem Fuchs, zusammen, und sie gingen ein schönes Stück miteinander. Diesmal führte sie der Weg an einem Heustall vorüber, wie sie da und dort allein auf den Alpweiden stehen, und wo man zur Not das Vieh und das Heu unterbringt. Dort, draußen vor dem Stall, sahen sie zwei Haufen Hirse. Der Wolf bemächtigte sich sogleich des größern, der Fuchs dagegen nahm das kleinere Bündel. Jeder trug seine Beute mit nach Hause und machte sich ans Werk, die seltene Gottesgabe, die sie gefunden hatten, zu kochen.

Meister Wolf wollte sich daraus eine Suppe bereiten; aber als sie anfing zu sieden, sprudelte sie über den Kochkessel und löschte das Feuer aus. Nun wollte er ein wenig davon versuchen; er fand jedoch trotz seines grimmigen Hungers die Suppe nicht gut und konnte sie nicht schlucken. Er hatte nämlich, um seinen Heißhunger zu stillen, das größere Bündel genommen, das aber nur aus Hälsen und Schalen bestand, während er das kleinere Häufchen seinem Gefährten überlassen hatte. Dieses aber enthielt schöne Hirsekörner.

Niedergeschlagen wie ein Ziegelstein begab er sich zum Hause seines Kameraden und sah, wie der Fuchs eben im Begriffe war, einen herrlichen Hirsebrei zu essen. Und er fragte den Fuchs: «Ei, sag doch, wie hast du es angestellt, ein so gutes Hirsegericht zuzubereiten? Meine Suppe ist mir übergekocht, und ich habe mir nur die ganze Zunge verbrannt.»

«Ich? Weißt du, wie ich's gemacht habe?» gab der Schlaumeier zur Antwort. «Ich bin hingegangen, habe meinen Schwanz in den Kochtopf gehängt und damit umgerührt.»



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Der Wolf schenkte ihm Glauben und kehrte wieder nach Hause zurück. Dort fing er abermals an, seine Suppe zu kochen und tauchte nun seinen Schwanz hinein. Aber, au weh, bald hub er an zu schreien, denn sein Schwanz verlor alle Haare. Das Füchslein war ihm heimlich nachgeschlichen, guckte hinter der Türe dem Wolf zu, wie er sich den Schwanz verbrannte und lachte im stillen vor Schadenfreude.


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