Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER DUMME HAT GLUCK

Es war einmal ein dummer Bursche. Der war arm und hatte weder Vater noch Mutter mehr. Aus Mitleid nahm ihn ein Onkel auf in sein Haus und schickte ihn auf die Weide, die Ziegen zu hüten. Weil der Onkel selber aber schon alt war und den Dummkopf nicht gern allein auf der Welt zurücklassen wollte, dachte er, ihm eine Frau zu geben. Also sagte er eines Tages zu ihm: «Wenn du schöne Mädchen siehst, so wirf ein Auge auf sie.» Am folgenden Tage ging der Einfältige wieder auf die Berge, um seine Ziegen zu hüten. Da sah er ein bildschönes Mädchen. Schnell riß er grausamerweise einer Ziege ein Auge aus und warf es dem Mädchen zu. Als sein Onkel am Abend sah. daß eine Ziege nur noch ein Auge hatte, fragte er ihn: «Aber was hast du mir da angestellt, mein Neffe!» — «Ei, ich habe das Auge einem bildschönen Mädchen angeworfen, wie ihr mir befohlen habt.»

«O du abscheulicher Kerl!» versetzte sein Onkel. «Auf der Stelle gehst du mir aus meinem Hause!» Der Bursche hielt es für besser, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, sonst hätte ihn sein Onkel in der Wut noch totgeprügelt. Er nahm das Fell eines Ziegenbocks mitsamt den Hörnern auf seine Schultern und lief davon, ohne nur die Haustür zu schließen. «So zieh doch auch die Haustür hinter dir!», schrie ihm der Onkel nach. Der Dummkopf verstand das wiederum wörtlich, lud wahrhaftig die Haustür auf seinen Rücken



Tessiner Sagen-154 Flip arpa

und lief davon. So wanderte er vorwärts über Berge und Täler, und schließlich geriet er weit von den Dörfern weg in große Wälder und wußte nicht, wo er am Abend seine müden Glieder zum Schlafen hinlegen sollte.

Da fiel ihm ein, er könnte zur Sicherheit auf einem Baum oben übernachten. Er kletterte also durch die Aeste empor und zog seine Habseligkeiten samt dem Ziegenfell und der Haustür auf den Baum hinauf. Als er sich's endlich bequem gemacht hatte, sah er, wie drei Männer durch den Wald kamen und sich gerade unten am Stamm seines Baumes lagerten. Sie hatten eine Kiste bei sich und eine Pfanne, suchten Aeste und Reisig zusammen und zündeten miteinander ein Feuer an. Dann hingen sie die Pfanne über dem Feuer auf und taten Reis hinein. Aber es fehlte ihnen an Wasser oder Fleischbrühe, um Sauce herzustellen. Vor großer Angst konnte sich der Dummkopf jetzt nicht mehr halten und ließ gerade in diesem Augenblick seine Kürbisflasche, darin er das Trinkwasser aufbewahrte, fallen. Ei, seht doch, wie der Himmel für uns gesorgt hat!», sprachen unten die Männer. die niemand anders als drei Räuber waren. Sie mischten also ihren Reis und freuten sich schon aufs Essen.

Eine Weile später konnte der Dummkopf auch die große Haustüre nicht mehr halten. Sie entschlüpfte seinen Händen und fiel mit großem Krach und Gepolter durch die Baumäste auf den Boden hinunter. «O schaut, da kommt ja auch noch ein Tisch herunter! Jetzt kann es uns an nichts mehr fehlen.,

Nicht lange darnach entfiel dem Dummkopf auch das Fell des Ziegenbockes mit den Hörnern daran. Diesmal gerieten die Männer in Entsetzen und schrien:



Tessiner Sagen-155 Flip arpa

Der Teufel ist da, fort, fort, der Teufel kommt!» Sie ließen die Kiste samt der Reispfanne im Stich und flohen wie der Wind so schnell von dannen. Da stieg der Dummkopf vom Baum herunter und wollte die Kiste auf die Schulter laden. Aber er konnte sie nicht heben. Gleich schaute er nach, was darin sei und fand sie voller Geld.

Sobald die Nacht vorüber war und der Tag graute, machte er sich auf den Weg zu seinem Onkel zurück. An der Landstraße traf er einen Wegmacher an und sprach zu ihm: Nehmt euren Schubkarren und führt mich samt dieser Kiste nach Hause, so will ich euch einen Silbertaler geben.» — «Oho», erwiderte der Wegmacher, «wo willst du nur einen Silbertaler hernehmen, du Windbeutel, der du ein noch viel ärmerer Teufel bist als ich?» Aber der Dumme legte ihm augenblicklich einen prächtigen Silbertaler hin, worauf der Wegmacher ihn samt der Kiste auf den Karren lud und heimbrachte. Als er dort anlangte, nahm ihn sein Onkel aus Mitleid wieder auf. «Was schleppst du mir da mit nach Hause?» fragte der Onkel, als er die Truhe sah. Und der Neffe erwiderte: «Ach, Onkel, schimpf mich nicht wieder, schau einmal, was da drin ist.» Begierig öffnete der alte Mann die Kiste und war ganz sprachlos und wie versteinert, als er das viele Geld sah. Er verschaffte seinem Neffen eine brave Frau, dann hielten sie zusammen ein köstliches Mahl und waren froh und glücklich.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt