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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE WUNDERBARE BARKE

Es war einst eine Bauernfamilie, Vater, Mutter und zwei Knaben. Sie wohnten auf einem Bauernhof. draußen auf dem Lande, und ihr Häuschen lag mitten in einem weitläufigen Landgut, das sie selbst bebauten. Nach und nach wuchsen die beiden Kinder zu kräftigen Burschen heran und arbeiteten emsig mit, um ihr Brot zu verdienen.

Nun geschah es, daß der König jenes Landes in allen Städten und sogar an allen Straßenecken der Dörfer folgenden Aufruf bekannt machen ließ: «Wer imstande ist, binnen einem Jahre eine Barke herzustellen, die übers Meer und übers Land fährt, soll meine Tochter zur Frau bekommen, er sei arm oder reich.,



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Sobald man dies vernommen hatte, machten sich viele Leute daran, ein solches Schiff herzustellen. Eines wurde schöner als das andere; aber keinem gelang es, eine Barke auf dem Land und im Wasser zum Fahren zu bringen. Nach einigen Tagen war diese Neuigkeit auch zu Ohren unserer beiden Jünglinge gedrungen.

Da beschloß der ältere, in den Wald zu gehen und einen Baum umzuhauen, um daraus ein solches Boot zu zimmern. Also machte er sich am folgenden Tag in aller Frühe auf nach dem Wald. Er war aber kaum einige Meilen weit gegangen, so begegnete ihm ein alter Mann, der ihn fragte: «Wo gehst du hin? Wenn du mir die Wahrheit sagst, so kann ich dir behilflich sein; denn ich verstehe mich auf die Zauberkunst.»

«Das brauchst du nicht zu wissen, das geht dich doch nichts an. Wenn es dich aber so wundert, so wisse, daß ich in den Wald gehe, um mir Walhölzer zum Teigrollen zu machen.»

«Und Walhölzer sollst du haben bei jedem Beilschlag, den du dem Baume geben wirst!»

Nachdenklich über diese Worte setzte der Jüngling seinen Weg fort und gelangte ins Innere des Waldes, wo die Bäume ganz dicht nebeneinander standen. Aber stellt euch vor, wie es ihm zu Mute war, als bei jedem Hieb, den er einem der Waldriesen gab, Walhölzer herauskamen und ihm ins Gesicht schlugen!

Zornig nahm er die Axt und kehrte wieder nach Hause zurück, wo er seine Erlebnisse erzählte. Da sprach der jüngere der beiden Brüder namens Valentino: »Jetzt will ich hingehen, um die Barke zu bauen.» Am folgenden Tag nahm er ein scharf geschliffenes



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Beil und wanderte von daheim fort, dem Walde zu. Noch war er nicht manche Wegstunde gegangen, da kam der gleiche Alte auf ihn zu und richtete an ihn dieselbe Frage wie an seinen Bruder.

Der Junge erzählte ihm offen und freimütig, was er vorhabe, und der alte Mann fügte bei: Wenn du zum Wald gekommen bist, wirst du gleich am Anfang einen gewaltigen Baum erblicken. Den mußt du fällen, und du wirst sehen, daß es dir nicht viel Mühe kosten wird, eine Barke zu zimmern, die über Land und Wasser fahren kann.»

Valentino war herzlich froh darüber, dankte dem freundlichen Mann und lenkte seine Schritte dem Walde zu. Kaum war er an dessen Rand angelangt, so bemerkte er auch sogleich den Baum, den er umhauen sollte. Mit großem Eifer machte er sich ans Werk, und stellt euch vor, wie wunderbar es ihm dabei erging: Bei jedem Hieb, den er dem Baum versetzte, kam ein Stück der Barke heraus, die er zu bauen geplant hatte. Und als der gewaltige Baum am Boden lag, war auch die Barke bald zusammengefügt und zur Abreise bereit. Er legte die Axt in die Barke, stieg hinein und sprach:

Barke. liebe Barke mein,
Trag mich zu den Eltern heim!

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so setzte sich das Schiff in Bewegung, und ehe er sich's recht versah, war er von seinem Bauernhaus angekommen. Dort stieg er aus, ging in seine Kammer, zog die schönsten Kleider an, die er hatte, nahm Abschied von seinen Eltern, trat wieder in sein Fahrzeug und sprach zu ihm:



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Barke, liebe Barke mein,
Führ mich zum Königshof hinein!

Denkt euch, wie die Leute am Wege staunten, als sie das sonderbare Schiff auf dem Erdboden mit großer Schnelligkeit dahingleiten sahen. Und alle meinten: «Nun wird die Königstochter diesen Jüngling heiraten.» Da die Barke so rasch dahinglitt, mußte man sich nicht wundern, daß Valentino in kurzer Zei beim Königspalast anlangte.

Alle Leute, die um den Königshof standen, fingen an zu rufen, so laut sie konnten: «Schaut, schaut, da kommt jemand mit einer Barke auf dem trockenen Boden gefahren!» Der König hörte diesen Tumult, stieg vom Thron herab und begab sich in den Schloßhof, wo ihn Valentino erwartete. Dann richtete er an ihn die Frage: «Bist du es, der dieses Schiff gezimmert hat, daß es über Land und Meer fahren kann?» —«Jawohl, Majestät», antwortete der junge Mann. Der König wollte es nicht recht glauben und fragte: «Könnte man zur Probe eine Rundfahrt durch diesen Schloßhof unternehmen?» «Ja freilich, gnädiger Herr», versicherte der Jüngling freudig und dienstbereit. Jetzt ließ der König auch die Prinzessin herbeirufen, und als alle eingestiegen waren, sprach Valentino folgende Worte:

Barke. schöne Barke, komm,
Fahr uns in diesem Hof herum!

Und das Schiff setzte sich in Bewegung und fuhr in raschem Lauf dahin. Alle Leute klatschten Beifall, und der Jubel wollte kein Ende nehmen. Als sie mit der Rundfahrt fertig waren, fragte der König den Jüngling nach seinem Namen und nach seinem Beruf. Der junge Mann gab auf alle Fragen mit viel Anmut und



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Geschicklichkeit Auskunft, und der König hatte bereits eine große Zuneigung zu ihm gefaßt. Als er jedoch hörte, daß er ein Bauernknabe sei, sagte er zu dem Pagen, der gerade zur Seite stand: «Soll ich wirklich meine Tochter einem Bauern zur Frau geben?» Da erinnerte sich der Edelknabe all dessen, was der König hatte bekannt machen lassen und gab folgendes zur Antwort: «Ihr habt erklärt, daß ihr nicht darauf schaut, wer euch die Barke herstelle, er möge arm oder reich sein. Jetzt seid ihr auf den Dornen.»

Der König ersann alle möglichen Ausreden und sprach dann zum Jüngling: «Die Tochter kann ich euch nicht geben; doch wenn es euch recht ist, sollt ihr dafür Wertsachen und Geld in Hülle und Fülle bekommen. Was meint ihr dazu?» Valentino erwiderte: «Ein Ehrenmann muß sein Wort halten, er sei arm oder reich, und wenn es gar das Versprechen eines Königs ist, der ein so weites Reich regiert wie ihr. Also überlegt es euch diese Nacht. Unterdessen will ich mit meiner Barke nach Hause fahren und morgen bin ich wieder hier, sobald die Sonne aufgeht.»

Damit grüßte er die Leute am Hof, trat in sein Schiff und fuhr wie der Blitz davon und heim vor das Elternhaus. Dort erzählte er den Seinigen, wie es ihm ergangen war. Die wußten vor Verwunderung nichts zu sagen; der Jüngling aber fügte bei: «Jetzt will ich zum Wald gehen und den Zauberer suchen, der mir geholfen hat, das Schiff zu bauen. Ich will ihm alles erzählen und dann hören, was er mir für Ratschläge gibt.» Die Eltern rieten ihm, sich zu beeilen. Kaum hatte er sich etwas gestärkt, so stieg er wieder in sein Schiff, und fort ging's in raschem Lauf dem Walde zu. Er war noch keine halbe Meile gefahren, als die Barke



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plötzlich stille hielt. Vor ihm stand der Zauberer und fragte ihn: Was begehrst du von mir?» Valentino erzählte ihm den Vorfall, worauf der Alte ihm folgenden Ratschlag gab: Wenn der König dir sagt, er wolle dir die Tochter nicht zu Frau gehen, so mußt du ihm nur diese Worte zu bedenken geben, die ihm Angst einjagen werden:

Gebt mir nur, was ihr wollt;
Doch bald ihr es bereuen sollt.
Aber ich werde dir deine Wünsche nicht erfüllen,
wenn du das nicht tust, was ich dir empfohlen habe.»

Der Jüngling dankte dem guten Alten und machte sich auf den Weg nach dem Königshof; denn schon stieg die Morgenröte am Himmel empor. Als er zum Schloß kam, stand der König im Garten und war im Gespräch begriffen mit seiner Tochter. Kaum hatte er den Ankömmling bemerkt, so ging er ihm entgegen und sagte zu ihm: «Komm hinauf in den großen Saal, dort können wir in aller Bequemlichkeit miteinander sprechen.» Und Valentino folgte ihnen die Treppen empor. Im großen Festsaal standen vier Rechtsanwälte. Die schauten den Jüngling scheel von der Seite an, als hätten sie sagen wollen: «Du wirst die Prinzessin gewiß nicht heiraten.»

Der König setzte sich neben Valentino und hub an: Mein lieber junger Mann, ich kann euch meine Tochter nicht zur Frau geben; aber ich will euch Geld geben, soviel ihr wollt. Seid ihr damit zufrieden oder nicht?» Der Jüngling antwortete, wie ihn sein Beschützer geheißen:

Gebt mir nur, was ihr wollt,
Doch bald ihr es bereuen sollt,



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und fügte dann noch die Worte hinzu: «Bedenket wohl, was ihr tut, sonst kommt ein Unglück über dieses Haus!» Aber der König achtete nicht auf diese Warnung und befahl einigen Dienern, sie sollten den Jüngling in die Schatzkammer führen, wo schon all die Dinge bereit lagen, die Valentino mit nach Hause führen durfte. Hierauf bestieg dieser eine prächtige Kutsche, und fort ging es seinem Hause zu. Ihm folgten zehn Wagen, die mit allen möglichen guten Sachen beladen waren. Daheim erwarteten ihn seine Eltern mit Angst und Bangigkeit. Die Diener luden die Geschenke ab, und nachdem sie sich im Hause Valentinos etwas gestärkt hatten, kehrten sie wieder nach dem Schlosse zurück.

Der also Beschenkte ging sogleich in ein benachbartes Dorf, um Maurer zu holen, welche alle Gebäulichkeiten rings um den Bauernhof neu instand setzen mußten, damit er die vielen Vorräte versorgen könnte. Nach vierzehn Tagen war diese Arbeit fertig und die Geschenke gut aufbewahrt.

Eines Tages befanden sich die beiden Brüder auf einer Wiese ihres Landgutes und waren im Begriff, das Gras zu mühen, als sie sahen, wie ein langer Zug von Höflingen sich näherte und geradewegs auf ihren Bauernhof zuging. Dem Jüngling kam sogleich der Gedanke, es musse dem König ein Unglück zugestoßen sein. Er fuhr jedoch mit seiner Arbeit fort, ohne sich weiter darum zu kümmern. Unterdessen war der festliche Zug an der Mauer angelangt, die das Landgut umgab. Sie öffneten die Tür und traten ein. Sogleich erkannten sie den jungen Mann, gingen auf ihn zu und redeten ihn also an: «Valentino, schöner Jüngling, kommt auf die Königsburg, um unsere Prinzessin



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zu heilen, die in Todesgefahr schwebt.» Er achtete jedoch nicht auf ihre Worte und fuhr weiter mit Mähen. Die Edelknaben aber redeten ihn immer wieder an, bis er endlich den Kopf hob und sie anhörte. Dann sprach er: «So, jetzt kommt ihr also, mich zu holen. Aber es ist schon zu spät. Ich habe es ja gesagt, daß der König früher oder später mich suchen werde.» Die Pagen boten ihm viele Geschenke an, Valentino blieb jedoch unbeweglich und ließ sich nicht überreden. Dann hieß er sie wieder fortgehen und sagte: «Kommt morgen wieder, dann will ich euch eine bestimmtere Antwort geben.» Da zogen die Edelknaben wieder fort zum Schloß und waren mißvergnügt, eine solche Botschaft überbringen zu müssen.

Unterdessen ging Valentino in den Stall, spannte ein schönes Pferd vor seine Kutsche und fuhr hinaus in den Wald, um dem guten Zauberer all seine Erlebnisse zu erzählen. Er hatte kaum ein Stück Weges zurückgelegt, als der Magier schon vor ihm stand und ihn fragte: «Was willst du von mir?» Da berichtete er dem Zauberer alles und dieser sprach zu ihm: «Geh nur zum Schloß und heile die Prinzessin. Aber vorher laß den König schwören, daß er dir seine Tochter zur Frau gebe; wenn nicht, so müsse sie Lot für Lot ganz langsam sterben.»

Der Jüngling dankte seinem Wohltäter aufs neue und kehrte noch am selben Abend nach Hause zurück. Am andern Morgen stand er wieder auf der Wiese, um zu mähen, als er plötzlich den Zug der Höflinge wieder herannahen sah, aber diesmal in solcher Eile, daß er dachte: Die Königstochter ist gewiß in den letzten Zügen. Er ging geschwind ins Haus, zog sich festtäglich an und schritt dem Zuge entgegen, der schon an



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der Gittertür angelangt war und auf ihn wartete.

Sobald die Edelknaben ihn sahen, warfen sie sich vor ihm auf die Knie; er aber sprach alsobald: «Stehet auf, ich will mit euch kommen!» Sie ließen die Kutschen umkehren, hießen ihn in die schönste Karosse einsteigen, und fort ging es im Galopp zum Königsschloß. Als sie dort anlangten, sahen sie alle Personen niedergeschlagen und traurig umherstehen und hörten, wie sie sagten, daß die Prinzessin hoffnungslos verloren sei. Da sprach Valentino zu ihnen: «In kurzer Zeit werdet ihr fröhlicher sein!» Wenige Minuten nachher stand er schon am Fuß des Bettes, worin die Prinzessin auf weiche Kissen gebettet in Schmerzen lag. Auch standen viele Personen im Schlafgemach, welche weinten und Gebete sprachen. Unter ihnen war auch der König, der sich vor großem Kummer verzehrte. «Die Prinzessin wird auf der Stelle geheilt sein; aber nur unter der Bedingung, daß sie meine Gemahlin werde», sprach der Jüngling. Der König gelobte durch einen Schwur, sobald er sie geheilt habe, solle er sie zur Frau erhalten.

Jetzt trat Valentino zu der Kranken hin, berührte mit einem Finger ihre Hand, und kaum war dies geschehen, so zuckte sie zusammen, fühlte sich gesund und richtete sich im Bette auf. Sie erkannte sogleich ihren Retter und sprach zu ihm: «In vierzehn Tagen sind wir Mann und Frau, dann werden wir glücklich sein.» Der König war damit einverstanden und gab Befehl, daß das neue Brautpaar und die Verlobung in aller Pracht gefeiert werde, wozu der Jüngling auch seine Eltern und Verwandten und wen er sonst noch wolle, einladen sollte. So nahmen denn an der Verlobungsfeier unzählige Leute teil.



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Bald danach hielten sie Hochzeit, und ihr könnt euch vorstellen, welcher Glanz dabei entfaltet wurde. Um die Mittagszeit begann die festliche Hochzeitstafel, wozu alle Vornehmen des Landes eingeladen waren. Hernach lebten die beiden Neuvermählten in großem Glück bis an ihr Ende.

So gewann der arme Bauernsohn die reiche Königstochter.


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