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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER MÜLLER UND SEIN GRAUTIERCHEN

Eines Tages saßen in der Gegend von Astano zwei Bettler hinter einer Weißdornhecke, welche sich einer Landstraße entlangzog. Sie waren müde, denn sie hatten einen weiten Weg zurückgelegt, gebückt unter der Last von zwei Säcken Nüssen, die sie tags vorher als Almosen gesammelt hatten.

Da kam ein alter Mann des Weges. Der führte an einem Seil ein hübsches Eselchen, das er am Morgen auf dem Markt der benachbarten Ortschaft gekauft hatte, und das er, weil er ein Müller war, für seine Mühle brauchte.

Die beiden Bettler spähten neugierig durch die Hecke, erblickten den Alten mit seinem Lasttier und ersannen augenblicklich eine List. Der eine, namens Leo, sagte zum andern: «Schau, wie jener Alte immer im gleichen rhythmischen Schritt des Weges geht, ohne sich jemals umzusehen. Wäre es nicht möglich, ihm das Tier zu stipitzen?» — «Gewiß», erwiderte der andere. — «Die Sache macht übrigens keinerlei Schwierigkeiten», fuhr der erste fort, «du bindest einfach den Esel los und fuhrst ihn hieher. Ich nehme unterdessen den Platz des Tieres ein, und wenn es der Bauer merkt, so will ich mich schon zu rechtfertigen suchen.» —-Der andere war damit einverstanden, und im Augenblick war der Streich ausgeführt.

Das hübsche Grautier wurde also mit aller Sorgfalt losgebunden, und Leo, der dessen Stelle einnehmen



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mußte, trottete hinter dem Bauern drein. Nach einer halben Stunden fühlte dieser sich müde und fing an, seinen Schritt zu verlangsamen. Jetzt kehrte sich der Müller, welcher meinte, er führe sein Grautier hinter sich her, um und wollte es mit seiner Rute zu schnellerem Gehen antreiben. Da sah er zu seiner großen Verwunderung, daß er einen Bettler statt des gekauften Eselchens nach sich zog. «Was zum Teufel ist denn das?» rief er erstaunt, «ein wahres Wunder!»

«Ganz richtig, jawohl, ein Wunder», erwiderte Leo lächelnd. «Höret, lieber Alter, ich will euch jetzt alles erzählen, wie das zuging.»

Sie setzten sich auf ein Mäuerlein, das die Wiese einsäumte, und der Bettler begann folgendermaßen: «Vor einigen Monaten ist mir etwas Arges passiert. Ich beging eine schwere Sunde, und zur Strafe dafür verwandelte mich Gott in diese Tiergestalt. Aber gerade heute ist meine Buße beendigt, und in diesem Augenblick wurde ich wieder zu einem Menschen verwandelt.» — «Möge mich Gott vor einer derartigen Strafe bewahren!» sprach der Müller. «Ich habe nie gewußt, daß es auf Erden solche Strafen gibt. In diesem Fall aber entschuldigt mich, lieber Freund, wegen der Rutenstreiche, die ich euch auf dem Markt gegeben habe, als ich euch dort kaufte und ihr nicht hinter mir hergehen wolltet.» — «Oh, das tut nichts, das hat nichts zu sagen», erwiderte der Bettler, «all das ist meine Strafe, und ich bin selber schuld daran.»

Und damit trennten sich die beiden Männer, und der Müller machte sich in Gedanken versunken und zornig nach Hause, weil nun die schöne Geldsumme, die er für das Tier bezahlt hatte, verloren war. Der Bettler hingegen kehrte voller Freude zu seinem Gefährten



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zurück, der dort auf ihn wartete, wo sie die beiden Nußsäcke hatten stehen lassen. Sie luden also die Sacke auf des Esels Rücken und wanderten auf einer kleinen Landstraße weiter, die zu einem Dorfe führte.

Unterwegs begegneten sie einem Bauersmann, blieben stehen und knüpften mit ihm ein Gespräch an. Schließlich kamen sie auch auf das Tier zu sprechen und anerboten es ihm zum Kauf, und zwar zu einem so bescheidenen Preis, daß der andere in diesem Handel ein gutes Geschäft wahrnahm und ihnen den Esel abkaufte, obwohl er keinen brauchte. Er kehrte mit diesem nach Hause zurück und begab sich dann früh am Morgen auf den ersten Jahrmarkt, der in der Nähe abgehalten wurde und verkaufte ihn einem Händler, wobei er ein hübsches Stück Geld verdiente.

Unterdessen hatten auch die beiden Bettler den Erlös ihres Handels miteinander geteilt, und sie nahmen sich vor, wenn sich wieder einmal eine solche Gelegenheit biete, sie nicht entgehen zu lassen.

Etwa vierzehn Tage später begab sich der alte Minller, der für seine Mühle notwendig ein Lasttier brauchte, wieder auf den Markt der gleichen Ortschaft und sah dort ein Tier, das dem ersten, welches er dort unlängst gekauft hatte, auffallend ähnlich war.

Er wunderte sich, wie es möglich sei, daß zwei Tiere sich so gleichen könnten, näherte sich dem Esel, prüfte ihn genau von allen Seiten und erkannte, daß es derselbe war, den er vor kurzem dort erstanden hatte. Er schlug ihm mit der Hand liebevoll auf den Rücken und flüsterte ihm ins Ohr: «Ei, ei, hast du schon wieder eine so große Sünde begangen, daß du hier bist? Warum tust du das so oft?» — Das Grautierchen, das nicht gewohnt war, daß man ihm ins Ohr flüsterte, weil es



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das kitzelte, schüttelte den Kopf. Aber der Müller sagte: Du brauchst den Kopf gar nicht zu schütteln und nicht nein zu sagen. Es ist wirklich so. Aber schau, mein Lieber, wer dich kennt, der kauft dich nicht. Ein zweites Mal laß ich mich nicht wieder erwischen !»


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