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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DAS EIMERCHEN

Es war einmal eine Mutter. Die hatte zwei Töchter, eine herzensgüte und eine schlechte. Und was merkwürdig war, die Mutter liebte viel mehr das ungezogene Mädchen. Eines Tages sagte sie zu der Bösen: Nimm dieses Eimerchen und geh zum Ziehbrunnen, um Wasser zu holen.» Die Unfolgsame wollte aber nicht gehen. Da kam die gute Tochter herbeigesprungen, trat vor die Mutter und sagte: «So will ich gehen, liebe Mutter.,

Aber als sie an die Zisterne kam und am Seil zog und das Rad sich umdrehte, brach das Seil entzwei und fiel samt dem Eimer in den Brunnen. «O weh, ich Arme!», rief das Mädchen aus, «wenn ich ohne Eimerchen nach Hause komme, wer weiß, was mir die Mutter antun wird!» Mutig und unerschrocken stieg sie daher in den Ziehbrunnen hinab, wobei sie sich mit den Händen und Füßen half. Zum Glück war er nicht allzu tief. Noch ehe sie jedoch zum Wasserspiegel hinab gelangte, bemerkte sie an der Mauer eine kleine Tür. Sie klopfte an und fragte: «Habt ihr den Fisch und das Fischlein, das Seil und das Eimerchen nicht gefunden?» Da kam ein heiliger Waldbruder hervor und antwortete: «Nein, mein Töchterlein.»

Darauf ging sie vorwärts, fand eine andere kleine Tür, klopfte an und fragte wieder: «Habt ihr den Fisch und das Fischlein, das Seil und das Eimerchen nicht gefunden?»



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Aber es wohnte der Teufel dort, und als er sah, daß er es mit einem guten Mädchen zu tun hatte, schrie er ihm wütend zu: «Nein!»

Das Mädchen ging also weiter, fand eine dritte Tür, klopfte und fragte wiederum: «Habt ihr den Fisch und das Fischlein, das Seil und das Eimerchen nicht gefunden?» Es wohnte aber dort die Himmelskönigin Maria. Die sprach zu ihr mit sanfter Stimme: «Ja, mein liebes Mädchen, aber höre. Wärest du nicht so gut und würdest dableiben, während ich eine Weile fortgehe? Ich habe dir hier mein Söhnchen, dem könntest du Brot und Milch gehen. Dann könntest du wischen und alle Hausgeschäfte besorgen. Wenn ich zurückkomme, so werde ich dir das Seil und das Eimerchen geben.» Und damit ging die Madonna fort. Das gute Mädchen blieb also da, gab dem Büblein Brot und Milch und fing dann an zu wischen. Aber anstatt Staub und Schmutz fand es Perlen und andere Kostbarkeiten von großem Wert. Es legte diese Kleinodien beiseite, um sie ihrer Herrin zu übergeben, wenn sie zurückgekehrt sei. Nicht lange darnach kam diese wirklich und fragte: «Hast du alles besorgt, was ich dir aufgetragen habe?»

«Ja, gnädige Frau, aber schaut einmal die schönen Dinge an, die ich fand, als ich den Boden wischte!»

«Nun gut, die darfst du für dich behalten, mein liebes Kind. Und jetzt sage mir: Möchtest du lieber ein Kleid aus Baumwollstoff oder aus Seide?»

«Ob, gnädige Frau, die Bauernmädchen tragen keine seidenen Kleider. Gebt mir lieber eines aus Baumwolle.»

Die Madonna gab dem Kind ein Kleid aus prächtiger Seide. Dann fragte sie weiter: «Möchtest du lieber einen Fingerhut aus Messing oder einen aus Silber?»



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«Die Bauernmädchen verwenden keine silbernen Fingerhüte», sagte es bescheiden, «gebt mir lieber einen aus Messing.»

Nein», versetzte die holde Frau, «du sollst einen silbernen haben. Und dann schau, nimm hier, dieses ist dein Eimer und das Seil. Und wenn du am Ende dieses Ganges ankommst, so blicke in die Höhe!»

Als das Mädchen ans Ende des unterirdischen Ganges gelangte, schaute es in die Höhe, und da fiel ihm ein wunderlieblicher Stern gerade mitten auf die Stirn. Darauf kehrte es nach Hause zurück.

Die Mutter lief ihrer Tochter voller Zorn entgegen und schalt sie heftig, daß sie so lange weggeblieben sei. Sie wollte sie schon schlagen, als sie den prächtigen Stern auf des Mädchens Stirn erblickte, der einen zauberhaften Glanz ausstrahlte.

«Wo bist du denn gewesen die ganze Zeit? Und wer hat dir jenes Ding auf die Stirne gesetzt?» fragte die Mutter.

«Ich weiß nicht, was ich auf der Stirn habe», antwortete das Mädchen. Die neidische Mutter wollte den Stern wegwaschen, aber je mehr sie ihn wusch, desto herrlicher strahlte der Stern. Darauf erzählte das Mädchen ganz genau, was ihr begegnet wer.

Jetzt wollte die böse Schwester auch zum Brunnen gehen. Sie lief zur Zisterne und tat, was ihre gute Schwester gemacht hatte. Dann ließ sie den Eimer und das Seil mit Absicht in den Brunnen fallen. Hernach stieg sie hinab und klopfte an die Tür des Heiligen mit den Worten: «Habt ihr den Fisch und das Fischlein, das Seil und das Eimerchen nicht gefunden?»

Nein, mein schönes Töchterlein», war die Antwort. Darauf ging sie zur nächsten Tür und klopfte wieder:



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«Habt ihr den Fisch und das Fischlein, das Seil und das Eimerchen nicht gefunden?»

«O nein, ich habe nichts gefunden», antwortete der Teufel. «aber komm herein zu mir, mein hübsches Mädchen. komm hieher!»

«Nein, nein, ich will vorwärtsgehen.»

Endlich kam es zur Tür der Madonna und fragte: «Habt ihr den Fisch und das Fischlein, das Seil und den Eimer nicht gefunden?» —«Ja freilich», erwiderte die glorreiche Mutter. «Aber höre, ich muß jetzt fortgehen. Du bleibst da und gibst meinem Kindchen Brot und Milch zu trinken. Und dann kannst du den Boden wischen. Wenn ich zurückkomme, will ich dir das Seil und das Eimerchen wiedergeben.» Und damit ließ sie das Mädchen allein. Die böse Tochter aber aß und trank, statt dem Kindchen Brot und Milch zu geben, alles selber auf. «O wie fein ist das gewesen!» rief sie aus. Dann machte sie sich ans Wischen, fand aber nur Staub und Unrat. «Ach, ich Arme», sagte sie, «meine Schwester hat so viele schöne und wertvolle Dinge gefunden.» Nach einer Weile kam die Madonna zurück. «Hast du alles getan, was ich dir aufgetragen habe?» «Ja.» «Und nun, möchtest du lieber einen Fingerhut aus Messing oder aus Silber?» «O, ich will jenen aus Silber.» Da gab ihm die Madonna einen aus Messing. «Möchtest du lieber ein Kleid aus Baumwolle oder aus Seide?» «Gebt mir lieber das von Seide.» Aber die Frau gab ihr das baumwollene Kleid. «Da nimm, hier ist dein Eimerchen und das Seil. Und wenn du hinauskommst von hier, so schau in die Höhe!»

Am Ende des Ganges schaute das Mädchen in die Höhe. Aber siehe, da fiel ihr anstatt eines schönen



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Sterns Kuhmist auf die Stirn und verschmierte ihr das ganze Gesicht.

Wütend kehrte die Böse nach Hause zurück und weinte. Dort fing sie sofort mit der Schwester Streit an, weil jene einen wundervollen Stern hatte, während sie mit jenem Unrat im Gesicht herumlaufen mußte. Die Mutter wollte ihr sogleich das Gesicht waschen; aber es nutzte gerade so viel, wie wenn man schwarze Wolle weiß waschen wollte. Der Flecken verschwand nie mehr. «Nun begreife ich», sagte die Mutter, die Madonna tat dies, weil sie mir zeigen wollte, daß ich die böse Tochter lieber habe und jene gute vernachlässige.


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