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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


CENERENTOLA

Es war einmal ein armes Mädchen von fast überirdischer Schönheit. Doch hatte es das große Unglück, seine gute Mutter zu verlieren. Der Vater führte nach einiger Zeit eine neue Frau ins Haus, die jung und sehr schön war. Aber diese Stiefmutter mochte das Mädchen nicht leiden, ja sie beneidete es wegen seiner außergewöhnlichen Schönheit.

Da starb der Vater. und das Mädchen blieb mit seiner Stiefmutter und einem Diener allein zurück. Jetzt begann für das Mädchen ein Höllenleben. Die böse Stiefmutter gab ihm Schläge und warf ihm die gröbsten Schimpfwörter an den Kopf. Ja, sie faßte sogar den schrecklichen Plan, es aus der Welt zu schaffen. Sie rief deshalb ihren treuen Diener herbei und sagte zu ihm: «Francesco, nimm das Mädchen und führe es weit fort an einen Ort, von wo es den Heimweg nicht mehr finden kann, und laß es dort. Ich kann dieses widerwärtige Geschöpf nicht länger ertragen. Gehe es, wie es wolle, ich muß es auf irgendeine Weise loswerden.»

Das Mädchen, das gerade in diesem Augenblick nahe an der Türe des Schlafzimmers ihrer Stiefmutter vorüberging, hörte dieses Gespräch. Voller Angst lief es aus dem Hause, begab sich zu seiner Patin, der einzigen Person, die ihm ein wenig gut war, und erzählte ihr, was es gehört hatte. Die Patin erwiderte: dich kann dich nicht hei mir behalten. Geh wieder nach



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Hause, nimm ein Säcklein, fülle es mit Kleie und säe einen feinen Strich den Weg entlang.» Getreulich befolgte das Mädchen diesen Rat. Als der Diener es mutterseelenallein im Walde verließ und sich davonmachte, brauchte es nur den Spuren der Kleie nachzugehen und konnte so den Heimweg wieder finden.

Sobald die Stiefmutter das Kind wiederkehren sah, geriet sie in höchste Wut. Sie rief sogleich ihren Diener und befahl ihm, das Mädchen an einen noch weiter entfernten Ort fortzuführen, wo die wilden Tiere es sogleich fressen würden. Das Mädchen aber hörte wiederum alles und ging nochmals zu seiner Patin, um sich mit ihr zu beraten. Die gab ihr einen großen Knäuel starken Faden und sagte ihr: «Sobald du in den Wald kommst, binde den Anfang des Fadens geschwind und fest an einen Baum und laß ihn auf dem Wege sich abrollen. Der Faden wird lang genug sein, denn der ganze Knäuel enthält viele tausend Meter. Und wenn man dich dann allein läßt, so brauchst du nur den Faden wieder aufzuwickeln. Dann wird es dir ein leichtes sein, wieder heimzukehren.» Das Mädchen befolgte genau den Rat der guten Patin.

Der Diener führte es diesmal weit, weit fort, und zwar auf einem ganz anderen Weg als das erste Mal. Dann ließ er es ganz allein in der Waldeinsamkeit, ohne nur ein Wort mit ihm zu sprechen. Aber das Mädchen brauchte nur dem Faden nachzulaufen und ihn aufzuwickeln und kam so abermals nach Hause. Da geriet die Stiefmutter neuerdings in Zorn. Sie fluchte und schalt das arme Kind und erteilte dem Knecht abermals den Befehl, es noch viel, viel weiter in die Wildnis zu führen.

Auch diesmal lief es wieder zur Patin, und diese gab



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ihm den Rat, sie solle einen kleinen Sack Salz mitnehmen und es überall streuen, wo sie durchkämen. Das Mädchen tat, wie ihm geheißen; aber die Schafe, die im Walde weideten, fraßen das Salz. Da gab sich das arme Mädchen für unrettbar verloren und hub an zu weinen wie ein kleines Kind. Dann aber kam ihm plötzlich eine Eingebung, und es sagte laut vor sich hin: «Meine gute Patin hat mir einmal erzählt, daß die Wälder der bevorzugte Aufenthalt der wohltätigen Feen seien, welche dem verirrten Wanderer zu Hilfe kämen. O freundliche Bewohnerinnen dieses Waldesgrüns, erhört meine inbrünstige Bitte. Kommt mir zu Hilfe und laßt mich nicht allein in dieser Wildnis!»

Nicht lange darauf erschien ein altes, runzliges Mütterchen, ganz mager und gebückt. Das überreichte ihr ein Rütchen und sagte zu ihr: «Mit dieser Rute wirst du alles bekommen, was du wünschest.» — Und ehe das Mädchen der alten Frau danken konnte, war sie zwischen den Bäumen verschwunden.

Jetzt begann das arme Geschöpf neuerdings umherzuirren, um den Weg aus dem riesigen Walde zu finden. Wenn es nun Hunger verspürte, so brauchte es nur mit dem Rütchen auf den Boden zu schlagen, so erschienen die feinsten Eßwaren verschiedener Art, und es konnte sich satt essen.

Aber bald war die Kleine der Einsamkeit überdrüssig und wünschte sehnlichst, wieder einmal einen Menschen zu sehen, mit dem sie einige Worte reden konnte, um ihr Leben weniger traurig zu verbringen.

Eines Tages gelangte sie zu einem prächtigen Königspalast, der auf einem anmutigen Hügel lag. Sie trat ein und bot ihre Dienste an. Die Königin, eine



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sehr schöne und artige Frau, bezaubert von der seltenen Schönheit des Mädchens, nahm es auf. Es wurde zu den Dienern der königlichen Küche geschickt und hatte besonders in den Vorratskammern zu tun. Es mußte auch Holz herbeiholen, die Asche sammeln und forttragen, weshalb man ihm den Namen Cenerentola oder Aschenbrödel gab.

Am Hofe hatte man schon seit einiger Zeit den Plan gefaßt, den jungen König, der ein sehr freundlicher Mann von fünfundzwanzig Jahren war, zu verheiraten. Deshalb hatte man öffentlich drei großartige Hoffeste mit Ball angekündigt, zu welchem die schönsten Mädchen des Reiches eingeladen waren. Unter ihnen sollte der Prinz seine künftige Gemahlin auswählen.

Es kam der erste Tag der ersehnten Festlichkeiten. Schon hatte sich der König sein Galakleid angezogen. Er setzte sich ans Kamin in der Küche und sagte, indessen er sich am Feuer wärmte: «Cenerentola, gib mir die Feuerzange.» Und das Mädchen sprach: «Prinz, darf ich nicht auch an den Ball kommen?» — «Man sollte dir die Feuerzange um den Kopf schlagen», gab er unwirsch zur Antwort. und tat, wie wenn er sie schlagen wollte. Er ließ es aber dann bleiben und begab sich zum Fest. Cenerentola tat, wie wenn sie zu Bette ginge. Kaum war sie jedoch allein in ihrem Schlafkämmerlein, so schlug sie mit ihrer Rute auf den Boden und wünschte sich ein Ballkleid. Und auf der Stelle lag auf dem Tisch ein wunderbares Kleid aus himmelblauer Seide, reich geschmückt mit kostbaren Perlen, eine schöner als die andere. Sie zog das Kleid an, stieg die Treppen hinunter und ging aus dem Palast. Draußen fand sie eine prachtvolle Karosse, von zwei schneeweißen Pferden gezogen. Sie stieg hinein



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und ließ sich zu dem Saale führen, wo der große Hofball abgehalten werden sollte. Und als sie eintrat, erweckte sie die Bewunderung aller Gäste. Sie war ohne Zweifel die schönste. Der Prinz tanzte mit ihr und fragte sie, wer sie sei. Und Cenerentola gab zur Antwort:

«Bin weder schläfrig noch wache ich,
Fast traf die Feuerzange mich.'

Unter den Tänzerinnen erblickte Cenerentola auch zu ihrem großen Erstaunen ihre verwünschte Stiefmutter, die in Seide und Samt gekleidet war. Schon war der Ball beinahe zu Ende, als das junge Mädchen verschwand, ohne daß es irgend jemand beachtet hätte. Es stieg wieder in die feine Kutsche und fuhr zum Schloß zurück.

Als der Prinz vom Ball heimkehrte, legte er sich zur Ruhe. Er konnte aber nicht schlafen, denn es schwebte ihm immer die geheimnisvolle Erscheinung der Tänzerin vor Augen. Er dachte auch an die Worte, die sie gesprochen hatte, und deren Sinn er nicht verstehen konnte.

Am Abend des folgenden Tages begab sich der König, ehe er wieder zum Hofball ging, abermals in die Küche, um sich am Kaminfeuer zu wärmen.

«Cenerentola», sagte er, «gib mir die Feuerschaufel.»

«Erlaubt mir doch, Hoheit, daß ich auch an den Hofball komme.»

«Lieber schlage ich dir die Schaufel an den Kopf», sagte er grob und tat, wie wenn er sie schlagen wollte. Dann ging er weg. Aber kaum war er fort, so zog sich Cenerentola heimlich in ihr Kämmerlein zurück und schlug mit ihrem Rütchen auf den Boden. Und siehe, da lag ein herrliches Kleid aus meergrüner Seide für



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sie bereit. Sie zog es an, ging aus dem Schloßhof, stieg in die Kutsche und begab sich zum Hofball.

Als Cenerentola in den prächtigen Spiegelsaal trat, erweckte sie allgemeine Bewunderung. Der Prinz tanzte fast nur mit ihr, versicherte, er wolle sie zu seiner Braut machen und fragte sie nach ihrem Namen. Und sie gab ihm zur Antwort:

(Mit einer Schaufel drohte man mir,
Als Königin des Festes bin ich hier.

Auch heute erblickte das Mädchen wiederum ihre grausame Stiefmutter, welche immer und immer wieder zu ihr hinüberschaute und sie mit neidischen Augen betrachtete. Der Prinz aber erinnerte sich jetzt der Worte, die er in seinem Schloß zum Küchenmädchen Cenerentola gesprochen hatte, und er paßte genau auf, daß ihm die bezaubernd schöne Tänzerin nicht neuerdings entfliehe. Aber während er einige freundliche Worte mit einem jungen Baron plauderte, verschwand das Mädchen, stieg in die goldene Kutsche und kehrte ins Schloß zurück. Dort wechselte Cenerentola in ihrem Kämmerchen sogleich die Kleider und ging wieder unauffällig in die Küche, wo sie ihre geringen Arbeiten verrichtete.

Am dritten und letzten Ballabend wiederholte sich das nämliche. Der Prinz aber fühlte darüber solchen Schmerz, daß er krank wurde.

Eines Tages begab sich die Königin-Mutter in die Küche und beauftragte dort Cenerentola, sie solle eine gute Suppe zubereiten und sie dem Kranken bringen. Als die Suppe bereit war, ging Cenerentola schnell in ihre Kammer, berührte sich mit ihrer Zaubergerte, und gleich darauf war sie mit einem wundervollen Seiden



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kleid in heller Silberfarbe strahlend wie der Mond gekleidet. Dieses war geschmückt mit kostbaren Diamanten. in diesem feinen Kleid trat sie vor den Kranken und überreichte ihm die Suppe. Der Prinz, von ihrer beinahe überirdischen Schönheit getroffen, setzte sich im Bett auf und rief außer sich vor Freude: «Du wunderschöne Fee, sag mir, wer bist du?»

«Bevor ich dir darüber Antwort gebe, will ich von dir das ausdrückliche Versprechen, daß du mich zur Frau nehmest». erwiderte Cenerentola.

«Ich schwöre es dir beim Haupte meiner Mutter, der Königin!»

«Nun gut, o Prinz, so wisse, daß ich deine Cenerentola, das Aschenputtelchen bin, jene, die du eines Abends mit der Feuerzange und nachher mit der Schaufel schlagen wolltest.»

«Du bist es, Cenerentola? Dann bitte ich dich tausendmal um Verzeihung für das Unrecht, das ich dir angetan habe. Du sollst Königin werden.»

Die unbeschreibliche Freude, die der Prinz jetzt hatte, war die Ursache, daß er bald wieder genas. Nun wurden augenblicklich die Vorbereitungen getroffen. Zum prächtigen Festmahl wurden auch alle Schönheiten des Königreiches eingeladen, die früher am Hofball anwesend waren.

Die Braut, noch ganz gerührt, erzählte dem Prinzen alles, was sie durch ihre herzlose Stiefmutter hatte leiden müssen, die über ihre Schönheit so neidisch gewesen war. Schon war das glänzende Hochzeitsmahl beinahe zu Ende, und die Fröhlichkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht, als der junge Fürst sich erhob. Indem er sich an seine ersten Minister wandte, legte er ihnen mit laut hörbarer Stimme, so daß man es im



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ganzen Festsaal vernehmen konnte, die folgende Frage vor: «Sagt mir, welches Urteil würdet ihr aussprechen gegen eine Mutter, die dreimal nacheinander durch ihren eigenen Diener ihre Tochter in einen unermeßlich großen Wald führen ließ, um sie loszuwerden, damit sie dort von den Wölfen gefressen würde, nur aus dem einzigen Grund, weil das Mädchen schöner war als sie?»

Da erhob sich unter den Gästen ein Gemurmel des Schauderns und Entsetzens.

«Ich, königliche Hoheit», antwortete ehrerbietig ein Minister, «ich würde eine solche Frau erwürgen.»

«Nein», rief die Braut, erschreckt darüber. «tötet sie nicht! Schickt sie lieber in die königliche Küche, wo sie meine Stelle als Aschenbrödel einnehmen soll.» Und so geschah es. Die böse Stiefmutter mußte den Festsaal mit Schimpf und Schande verlassen.

Die glückliche Braut aber lebte hernach mit ihrem geliebten Mann viele, viele Jahre bis ins hohe Alter. Gott schenkte ihnen drei schöne Knaben und zwei reizende Mädchen und zeigte ihnen damit, daß er die Tugend belohnt und die Schlechtigkeit bestraft.

Breit ist das Blatt, schmal ist der Weg,
Erzählt ihr nun eure Geschichten.
Wie ich die meine tat berichten.


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