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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE WALLFAHRT DER HIRTEN ZUM KLOSTER MADONNA DEL SASSO

Auf der Alp Giove, westlich von Brione im Verzascatal, hatten einige Hirten alle Kreuze verbrannt, die auf jenen Höhen standen, denn sie wollten von der Religion nichts mehr wissen. Da schickte ihnen Gott der Herr eine Menge Schlangen, die sogar in der Cascina (Blockhütte), im Stall und im kleinen Milchkeller der Alp zum Vorschein kamen. Des öftern wurden Hirten und Vieh von ihnen gebissen und starben. Deshalb dachten die Sennen, die auf jener Alp und in deren Nähe wohnten, es wäre das beste, nach dem Kloster Madonna de! Sasso oberhalb Locarno zu gehen, um dort die guten Mönche um ihren Rat zu fragen.

Sie machten sich also nach Art einer Prozession auf den weiten Weg, gelangten nach Locarno und stiegen zur Wallfahrtskirche empor. Dort fragten sie den Klosterbruder, der ihnen die Tür öffnete, wie sie die Schlangen vertreiben könnten. «Ich bin nicht fromm genug, um sie beschwören zu können», gab dieser zur Antwort, «doch lebt hier ein anderer Bruder, ein heiliger Mann, der mit euch kommen wird. Ihr werdet ein großes Feuer im Hof vor den Ställen eurer Alp anzünden, der Bruder wird die Alp segnen, und dann werden sich die Schlangen um das Feuer sammeln. Dabei beachtet folgendes: Wenn die erste Schlange, die sich ins Feuer wirft, die größte ist, könnt ihr beruhigt sein.



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Sollte es aber die kleinste sein, dann müßt ihr euch auf ein Unglück gefaßt machen. So geht nun! Gott sei euch gnädig und beschütze euch auf eurem Heimweg!»

Dann rief er den frommen Mönch herbei, und sie zogen mit diesem vom Kloster fort. Sie wanderten nach Gordola, bogen dort in das Verzascatal ein und kamen nach Brione. Der Aufstieg zur Alp von Madone di Giove war mühsam. Ganz erschöpft vom weiten Weg langten sie auf der Höhe an. Sie mußten sich zuerst erfrischen. Dann segnete der Ordensgeistliche das Innere der Alphütte. Unterdessen schichteten sie draußen einen großen Scheiterhaufen auf und entfachten ein gewaltiges Feuer. Jetzt kamen die Schlangen zu zweien oder in Gruppen von allen Seiten der steilen Abhänge herangekrochen. Es war aber die kleinste von allen, die sich zuerst in die Flammen stürzte, und die Aelpler gerieten darüber in große Besorgnis.

Inzwischen aber fuhr der Klosterbruder fort, alle Teile der Alp zu segnen und um Gnade zu beten. Darauf warfen sich die gefürchteten Tiere alle in die lodernde Feuersglut. Nun aber geschah das Schreckliche: Eine ganz große Schlange, wohl die längste von allen, wollte sich nicht ins Feuer werfen, sondern stürzte sich auf den segnenden Mönch und ringelte sich um seine Hüfte. Bei diesem Anblick eilte ein Senn in die Blockhütte, nahm das geweihte Walholz und machte mit demselben ein großes Kreuzeszeichen. Jetzt wurde die Schlange vom Schrecken ergriffen, warf sich in die Flammen und verbrannte.

Nicht weit von der Alphütte fließt ein tosender Bergbach vorbei. Da sagte der Mönch: «Um zu vergessen, was ihr gesehen habt, geht dort hinunter und wascht eure Stirnen!» Sie taten dies, wuschen sich und dank-



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ten Gott aus tiefstem Herzen für die Erlösung. Dann standen sie auf und schauten um sich; aber der Klosterbruder war nicht mehr zu sehen.

Noch heute sieht man auf dem Kamm des Berges, der sich über dem Alpseelein von Giove erhebt, die granitene Form des Mönchs sich vom Blau des Himmels abheben. Man kann die Kaputze, den Bart und den Strick um die Lenden wohl unterscheiden. Deshalb heißt jener höchste Punkt des Berges unter dem Volk die «Cuna de! Frate», was soviel heißt wie die Bergspitze des Mönchs».


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