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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


WIE DAS TAL DES «POVERO MI» ZU SEINEM NAMEN KAM

In Losone oder genauer gesagt San Giorgio lebte einmal ein Bauer. der von Gott. von der Kirche und ihren Geboten nichts wissen wollte. Wegen seinem Reden und Tun hatten sie ihm den Uebernamen «Povero mi» (Ich Armer) gegeben. Nun war es einst Himmelfahrtsfest, ums Jahr 1811 oder 1812. Man feierte diesen Tag mit großem Pomp. Alle Bewohner des Dorfes waren zur Kirche gegangen. Einzig dieser Bauer zog es vor, Kastanienblätter zu sammeln als Streueunterlage für seine Kühe. Dies tat er in der Umgebung der Schlucht «Bola di Mot».

Als gegen die Mittagsstunde die Messe zu Ende war, kehrten alle fröhlich und guter Dinge nach Hause zurück. Die Leute. die als Nachbarn neben dem Haus des eigensinnigen «Povero Mi» wohnten, waren etwas erstaunt, als sie ihn nicht wieder erscheinen sahen; sie gaben jedoch nicht weiter darauf acht. Es wurde Abend, und als sie merkten, daß er auch jetzt nicht wiederkehrte, wurden sie beunruhigt, und der Fall wurde sofort den Gemeindebehörden mitgeteilt. Diese machten sich mit einer Schar Freiwilliger auf die Suche. Man nahm Seile und alle nötigen Rettungsgerätschaften mit. Aber alle Bemühungen waren vergeblich. Man fand nicht einmal eine Spur von dem Verschollenen.

Einige Tage später begaben sich einige Bauersleute



Tessiner Sagen-085 Flip arpa

in den Wald, um Kastanienblätter und Gras für die Tiere zu sammeln. Sie erzählten, daß sie in der Umgebung der Schlucht «Bola di Mob eine Stimme gehört hätten, welche rief: «O povero mi, o povero mi!» Und das Echo wiederholte diese Worte alle Tage, so daß sich schließlich niemand mehr in jenes Tal getraute, weil man sagte, daß eine verlorene Seele dort umherirre, da sie bei Lebzeiten die Gesetze Gottes übertreten habe.

Der Pfarrer des Dorfes wollte diesem unheimlichen Spuk ein Ende bereiten. Er veranstaltete eine Prozession, begab sich an den betreffenden Ort, wo er mit besonderen Riten in Gegenwart aller Dorfbewohner den Ort segnete. In jenem feierlichen Augenblicke vernahm man eine so tieftraurige Stimme, daß alle das Gefühl hatten, es gefriere ihnen das Blut in den Adern. Diese Stimme rief dreimal: «O povero mi!» Dann hörte man nichts mehr.

Meine Großmutter, welche diese Geschichte mehrmals erzählen hörte, als sie noch ein Kind war, erinnerte sich nicht mehr an den Namen des Unglücklichen. Von ihr habe ich sie öfters erzählen hören, und diesen Sommer, während ich meine Kühe in der Nähe dieses Tales hütete, habe ich die Geschichte aufgeschrieben.


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