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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


EINE ANDERE LEGENDE DER MADONNA DELLA FONTANA

In Ascona lebte vor langen Jahren einmal eine sehr arme Familie mit vielen Kindern. Zu dem großen Unglück der Not kam auch noch der Tod und holte die Mutter aus ihrer Mitte, so daß das Elend größer und größer wurde. Da nahm sich der arme Mann bald wieder eine Frau, aber das war eine gehässige, lieblose Stiefmutter für die Kinder.

Das älteste Mädchen, etwa vierzehnjährig, mußte täglich die Schafe hinaustreiben, gegen Losone zu. Jeden Tag bekam es eine Menge Wolle zum Spinnen mit hinaus und wehe, wenn am Abend nicht alles verarbeitet war! Da erhielt es Schläge statt Brot und wurde mit Schimpfen und bösen Worten aufs Strohlager gejagt.

Es kam aber ein heißer Sommer übers Land. Die Bächlein trockneten ganz aus. Es gab nur spärliches Futter für die Schafe, und die Fliegen plagten sie so sehr, daß das Kind den ganzen Tag einzelnen Tieren nachlaufen mußte, weil sie sich verirrten. Am Abend trieb es die ermatteten Tiere heim, hatte nicht spinnen können und bekam nichts als Prügel. Am folgenden Tag ging es ebenso. Die Luft zitterte zwischen den Baumstämmen, die Tiere liefen wild in alle Richtungen; einige lagen erschöpft und wie tot auf dem trockenen Boden.

In dieser Verzweiflung kniete das arme Kind nie-



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der und flehte zur heiligen Madonna: «Povera me, meine Schafe müssen sterben, wenn sie kein Wasser bekommen, und ich kann vor lauter Herumlaufen die Wolle nicht spinnen!» Und dann weinte und schluchzte es laut. Auf einmal sprang neben ihr ein Brünnlein aus dem Boden. Es war frisches, klares Wasser. Die Schafe kamen herbeigesprungen und labten sich, wurden wieder lebhaft und ließen sich wie früher in geordneter Herde am Abend heimtreiben.

Das Mädchen kam mit verklärten Augen nach Hause, denn auch die Wolle war wunderfein gesponnen worden, während es verzweifelt und hilfesuchend gebetet hatte.

Das ganze Dorf lief hinaus, das Wunder zu sehen, denn an jenem Ort war zuvor nie eine Quelle gewesen. So baute man eine Kapelle zu Ehren der heiligen Maria, die das arme Kind erhört und beschützt hatte. Alljährlich wird da ein Fest gefeiert mit Prozession und Messe, bei dem kühlen Quellwasser, welches noch heute für wundertätig gilt.


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