Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE LEGENDE VON DER MADONNA DELLA FONTANA

Am Nordostabhang des Monte Verita, in den Edelkastanienwäldern oberhalb Losone versteckt und von dem Fischerdorf Ascona etwa zwanzig Minuten entfernt, steht die alte Wallfahrtskirche Madonna della Fontana. Alljährlich am fünfzehnten August wird die Stille um diese einsame Waldkirche gestört, und vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein herrscht hier ein farbenbuntes, frohbewegtes Leben und Treiben. Nicht allein von Ascona und Losone, von Golino und Intragna, von Solduno und Pedemonte, sondern aus allen locarnesischen Tälern, von den Uferdörfern des Lago Maggiore, und selbst von Italien her strömen an diesem Tag die Gläubigen hier zusammen. Es ist eine altüberlieferte Sitte, einmal im Jahr das heilkräftige Wasser der Madonna della Fontana zu trinken und hier seine Andacht zu verrichten. Und das ärmste Weiblein im hintersten Weiler des Centovalli läßt sich die Beschwerden und Mühen dieser Wallfahrt nicht sauer werden.

Die Kirche erhielt ihren Namen von einer Quelle, die in einer Grotte unter der Freitreppe entspringt und deren selten klares und frisches Wasser auch in den trockensten Jahren nie versiegt. Wie so manche andere Kirche und Kapelle im Tessin hat die Madonna della Fontana ihre eigene Geschichte, und an ihre Stiftung knüpft sich folgende volkstümliche Legende:



Tessiner Sagen-081 Flip arpa

Im Jahre 1428 herrschte eine Hitze und Trockenheit auf der Südseite der Alpen, daß alles Grün verdorrte und alle Flüsse und Quellen versiegten. In diesem Jahre weidete ein kleines stummes Mädchen aus Ascona in der Nähe der heutigen Wallfahrtskirche, wo damals schon eine der Madonna geweihte Votivkapelle stand, ihre bescheidene Lämmerherde. Aber die armen Tiere fanden kaum einen dürren Haim für ihren Hunger, geschweige denn einen Tropfen Wasser, den brennenden Durst zu löschen, und eines nach dem andern legte sich hin, dem Verderben nahe. Da kniete in seiner Herzensnot das stumme Mädchen vor der Kapelle nieder und reckte die Hände flehend zur Himmelsmutter empor.

Nun geschah ein erstes Wunder: die Kleine konnte plötzlich reden: innig bat sie um Rettung für ihre Lämmer. Die Madonna erhörte sie und wirkte ein zweites Wunder, indem auf einmal eine klare Quelle von der Kapelle emporsprudelte.

Die Quelle wurde bald weit und breit berühmt und für alle möglichen Leiden heilkräftig befunden, so daß die Gläubigen von Ascona beschlossen, dort ein würdiges Gotteshaus zu bauen, welches 1670 vollendet wurde.

Die Madonna della Fontana ist bis auf den heutigen Tag nicht in Vergessenheit geraten; neben der Madonna del Sasso ist es die besuchteste Wallfahrtskirche des Tessins, und in Jahren langandauernder Trockenheit werden dort große Bittprozessionen von nah und fern veranstaltet.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt