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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE SAGE VOM SCHLOSS STABIO

Vor Zeiten wohnte in Stabio in einem wunderschönen Schloß ein strenger und gottesfürchtiger Herr. Er hatte viel gekämpft für den Glauben und die heilige Sache. Aber er hatte auch mit seinen Nachbarn Krieg geführt aus nichtssagenden Gründen. Er führte ein Leben reich an Abenteuern, denn er war von hitziger und gewalttätiger Natur. In einem seiner Wutanfälle mußte er wohl etwas sehr Schweres und Schmerzliches begangen haben; denn als er von seinen Kriegszügen zurückkehrte, schloß er sich in sein Haus ein und wollte niemand mehr sehen, noch mit andern in Gesellschaft bleiben, wie er früher zu tun gewohnt war, wenn er an allen möglichen Festlichkeiten und Turnieren teilnahm.

Stundenlang blieb er jetzt in seinem Haus. Manchmal hörte man ihn schluchzen wie ein Kind, oder man sah ihn, wie er flehend die Hände zum Himmel emporhob. — Eines Tages aber reiste er ganz plötzlich weg und kehrte erst nach einigen Monaten zurück, aber diesmal nicht mehr allein, sondern in Gesellschaft einiger Freunde und Frauen.

Von diesem Tag an herrschte im Schloß nicht mehr jene Melancholie, noch das einsame Leben wie früher, sondern fortwährend sah man dort Gelage und Schmausereien, Lustbarkeiten und Feste, wobei sich die Gäste auf alle mögliche Weise des Lebens zu freuen suchten. Im ganzen Dorf sprach man von dieser Aenderung



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der Dinge im Schloß, und wenn die Leute dort vorübergingen, machten sie sich das Zeichen des heiligen Kreuzes, weil sie behaupteten, es sei bezaubert und verhext.

So vergingen einige Monate. Eines Sonntags wurde im Dorf eine große Feierlichkeit abgehalten. Während die ganze Bevölkerung in der Kirche war, um dem Gottesdienst beizuwohnen, wurde im Schloß ein Gelage gehalten. Und als die Schmauserei zu Ende war, begannen die Leute im Saal zu tanzen und in großer Ausgelassenheit zu scherzen. Aber gerade in diesem Augenblick, als unten in der Dorfkirche der Priester das heilige Sakrament in die Höhe hielt und über alle versammelten Gläubigen den Segen aussprach, versank das Schloß, wo die ausgelassene Festlichkeit gehalten wurde, plötzlich in die Tiefe, und es bildete sich ein See. Die Bewohner und Gäste des Schlosses kamen alle ums Lehen, und von dem Schloß selbst blieben nur einige Mauerreste übrig. So hielt der Herr Gericht über diese Stätte, und auf diese Weise entstand damals der kleine See von Peschiera bei Stabio.


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