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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DAS WUNDER MIT DEN KASTANIEN

Es war einst eine arme, arme Frau. Ihr Mann lag schon seit vielen Tagen krank im Bett und konnte nichts verdienen, so daß die unglückliche Frau an jenem Mittag nichts, aber auch gar nichts hatte, um den Hunger ihrer vielen Kinder zu stillen, die weinend um Brot flehten.

Um sie zu beruhigen, sagte sie zu ihnen: «Seid still, liebe Kinder. Ich will euch einen schönen Kessel voll Kastanien kochen.» Weil aber die arme Frau keine Kastanien hatte, tat sie heimlich mit bekümmertem Herzen viele Steinchen in den Kochtopf. Bald darauf fing das Wasser an zu kochen und zu sprudeln, daß es eine Freude war, und die Kinder machten große Augen vor Neugier und Erwartung.

«Sind sie gekocht, Mutter, die Kastanien?» fragte der Kleinste.

«Bald, bald. Habt nur Geduld, meine Buben.»

In diesem Augenblick klopfte jemand an die Haustür. Die Frau ging hin und öffnete, und es stand ein blonder Bettler vor ihr, der mit einem Blick wie dem eines Engels zu ihr sprach:

«Gebt mir etwas zu essen, gute Frau, ich sterbe beinahe vor Hunger; habt Erbarmen mit mir!»

«Oh, Ihr armer Mann! Von Herzen gerne würde ich Euch etwas geben. Aber ich habe selber nichts, gar nichts. Stellt Euch vor, um meine hungrigen Kinder zum Schweigen zu bringen, mußte ich eine List er-



Tessiner Sagen-058 Flip arpa

sinnen, sie zu täuschen. Ich versprach ihnen, Kastanien zu Mittag zu kochen, während ich doch keine mehr im Hause habe, und so mußte ich an ihrer Stelle lauter Kieselsteine in den Kessel tun.»

«Es macht nichts, gute Frau, es hat nichts zu sagen», erwiderte der blonde Bettler. «Ich sehe, daß Ihr ein gutes Herz habt und mir gerne zu essen gäbet, und ich danke und segne Euch.» Und damit zog er weiter.

Nicht lange nachher hob die Mutter den Deckel vom Kochkessel, und wie groß war ihr Erstaunen, als sie ihn voll größer, weichgekochter Kastanien fand! Dann suchte sie etwas im Küchenschrank und entdeckte dort viele schöne, weiße Brotlaibe, ganz frisch gebacken und dazu noch ein Stück Fleisch. Jetzt hoben Mutter und Kinder ihre Blicke gen Himmel und dankten dem lieben Gott für dieses holde Wunder.

Die Sage erzählt, daß jener blonde Bettler mit dem Blick wie der eines Engels niemand anders als der liebe Gott gewesen sei, der von Zeit zu Zeit auf unsere Erde herabsteigt, um das Herz der Menschen auf die Probe zu stellen und den Guten und Bedürftigen Hilfe zu bringen.


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